Aus Monaten wurden JahreMomo bleibt bei seiner Pflegefamilie

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Anja und Heinz-Peter Hahmann mit ihrem Pflegekind Momo

  • Höchstens drei bis sechs Monate sollen Kinder in Bereitschaftspflegefamilien betreut werden.
  • Doch häufig werden daraus Jahre, weil Behörden prüfen müssen, wie es weiter geht. Auch Momo erging es so.
  • Als er 14 Monate Jahre alt ist, kommt er zu Familie Hahmann. Und sein Leben verändert sich.
  • Wie aus seiner Pflegefamilie am Ende seine richtige Familie wurde.

Köln – Anja Hahmann nimmt den Deckel vom Topf und wirft die Spaghetti ins kochende Wasser. Neben ihr liegt das Handy, Display nach oben, volle Lautstärke. Es klingelt: Am anderen Ende ist eine Frau vom familiären Bereitschaftspflegedienst. Ein Junge müsse abgeholt werden, 14 Monate sei er alt und Hahmann solle etwas zu trinken mitbringen. Die 51-Jährige erinnert sich genau an diesen Aschermittwoch vor sechs Jahren, es war der Tag, an dem sie Momo zu sich holte.

„Er sah ziemlich süß aus mit seinen hellblonden Haaren und den großen braunen Augen. Damals dachten wir noch, er bleibt nur auf Zeit.“ Anja Hahmann ist Pflegebereitschaftsmutter. Zu ihren eigenen beiden Kindern kamen im Laufe von sechs Jahren nacheinander acht dritte.

2017 wurden in Köln 1420 Kinder in Obhut genommen

15.951 Kinder wurden in NRW im Jahr 2017 in Obhut genommen. Allein in Köln zählte man 1420 Fälle. Die Gründe: Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder psychische Erkrankungen der Eltern. Kinder unter drei Jahren kommen in solchen Fällen in Bereitschaftspflegefamilien.

Währenddessen wird sowohl vom Jugendamt als auch vom Familiengericht geprüft, ob die Kinder zurück zur leiblichen Familie können. Wenn das nicht möglich ist, wird eine Dauerpflegefamilie gesucht. Drei bis höchstens sechs Monate soll so eine Entscheidung dauern, doch die Kinder bleiben oft viel länger.

Auf dem Schoß von Pflegevater Heinz-Peter kuschelt Momo mit einem grauen Stoffelefanten. Manche Pflegekinder blieben sechs Wochen, andere nur drei Tage; eines lebte 13 Monate bei den Hahmanns. Dann, am Aschermittwoch vor sechs Jahren, kam Momo.

„Mama, kann Momo nicht ganz bei uns bleiben?“

Bei den Hahmanns machte er seine ersten Schritte und lernte sprechen. Irgendwann sagte er „Mama“ – zu Anja Hahmann. Kurz vor dem Sommerurlaub kam die Nachricht: Es sei eine Dauerpflegefamilie gefunden worden. Als Momo für die Reise packte, stopfte er – aus Angst nicht mehr zurückzukommen – so viele Stofftiere wie möglich ins Auto. Nach dem Urlaub kam dann eine Absage. Momo sei schon fast zwei Jahre alt und viele Familien würden die ganze Entwicklung mitbekommen wollen, hieß es vom Jugendamt. Und irgendwann im Herbst fragte Sohn Nick: „Mama, kann Momo nicht ganz bei uns bleiben?“

„Es ist kein Einzelfall, dass Kinder viel länger als gedacht in der Bereitschaftspflegefamilie bleiben“, sagt Klaus-Peter Völlmecke, stellvertretender Leiter des Amtes für Kinder, Jugend und Familie in Köln. „Oft ist das Kind dann schon so verwurzelt, dass viele Familien überlegen, von der Bereitschafts- in die Dauerpflege zu gehen.“ Das sei zwar für das Kind gut, der Stadt würden dadurch aber die ohnehin knappen Bereitschaftspflegefamilien verloren gehen, meint Diplom-Psychologin Sabine Blank von der Praxis Erziehungshilfe. Viele Familien wollten aber „ganz bewusst kein Kind auf Dauer aufnehmen“.

Personal für Jugendämter, mehr Richter und Strukturen

Tabea Pioch aus Burscheid, hat im November 2018 eine Online-Petition gestartet: „Schnellere Entscheidungen für das Kindeswohl.“ Sieben Kinder hatte Pioch bisher in der Bereitschaftspflege, und nur in einem Fall gingen die Kinder innerhalb der sechs Monate wieder. Konkret fordert Pioch mehr Personal in Jugendämtern, mehr Richter, klare Strukturen und Fristen für die leiblichen Eltern: Den Eltern müsste beispielsweise vorgegeben werden, Unterlagen bis zu einem festen Termin einzureichen. „Sonst ziehen sich solche Prozesse ewig in die Länge.“

Fünf verschiedene Familien in 14 Monaten

Momo hatte mit 14 Monaten schon einiges hinter sich. Von seinen leiblichen Eltern kam er ins Krankenhaus, dann zur Bereitschaftspflegefamilie, anschließend zurück zur Mutter ins Mutter-Kind-Heim. Als diese noch einmal schwanger wurde, musste Momo wieder weg, in sein mittlerweile fünftes Zuhause: zu Familie Hahmann.

Nick und Martha Hahmann mit Momo (grüne Jacke), der heute ihr Bruder ist.

Nick und Martha Hahmann mit Momo (grüne Jacke), der heute ihr Bruder ist.

„Laut Gesetz darf die dauerhafte Trennung von Eltern und Kind nur das allerletzte Mittel sein“, sagt Klaus Rohde, Abteilungsleiter des Familiengerichtes Köln. Deswegen müsse das Gericht immer sorgfältig abwägen: „Das ist immer wieder eine extrem schwere Entscheidung.“

Manche Eltern gehen bis ans Oberlandesgericht

Und der Entscheidungsprozess dauert. Bei der Frage, ob den leiblichen Eltern das Sorgerecht entzogen wird, sind Fachgutachten notwendig. Allein deren Erstellung nimmt mindestens drei Monate in Anspruch. Kommt es dann endlich zu einem Beschluss, werde oft Beschwerde eingelegt, sowohl von den leiblichen Eltern als auch vom Jugendamt.

Rohde: „Manche gehen bis zum Oberlandesgericht.“ Insgesamt mangelt es auch an Strukturen, um Eltern, Kinder und Fachkräfte zu vernetzen. Zu diesem Schluss kommen die Sozialpädagoginnen Corinna Petri und Judith Pierlings von der Uni Siegen in ihrem „Modellprojekt Bereitschaftspflege“.

„Es hat lange gedauert, bis er sich hier sicher gefühlt hat“

Momo hängt an seinem Hochbett und schaukelt hin und her. Anja Hahmann lehnt am Türrahmen: „Soll ich dir was vorlesen, Schatz?“ Momo springt herunter: „Nein, Mama, ich les dir vor.“ Die Bücher für die zweite Klasse sind ihm aber zu langweilig. Er liest lieber Dinosaurier-Bücher, wegen der schwierigen Namen. Momo ist sieben Jahre alt. Er spielt gerne Tennis, liebt Mathe und erklärt seiner Mama, wie der Druckausgleich funktioniert.

Früher versteckte sich Momo unter dem Bett, wenn Heinz-Peter und Nick rauften. Machte jemand den Mixer in der Küche an, fing er an zu weinen. Nachts legte er seine Arme schützend über den Kopf. „Es hat lange gedauert, bis er sich hier sicher gefühlt hat“, sagt Anja Hahmann. „Momo noch einmal aus einer Familie zu reißen, wäre furchtbar gewesen“, sagt ihr Mann. Betroffenen Kindern mangle es an Grundvertrauen. Würde in der Bereitschaftspflege in vielen Monaten eine feste Bindung aufgebaut, sei der erneute Beziehungsabbruch umso schlimmer, sagt Psychologin Blank.

„Es war wie ein Loch, wenn ein Kind gegangen ist“

Manchmal abends im Bett stellt Momo Fragen: „Mama, war ich eigentlich auch in deinem Bauch?“, „Nein, Schatz“, antwortet Anja Hahmann und erklärt ihm, dass er im Bauch seiner leiblichen Mama gewesen sei, dass sie es mit ihm aber nicht geschafft habe und er deshalb nun Teil ihrer Familie sei.

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„Wenn mich jetzt jemand fragt, wie viele Geschwister ich habe, sage ich immer einen Bruder und eine Schwester“, sagt Nick. Die Pflegekinder davor sah Nick nie als Geschwister an. Martha, die schon elf Jahre alt war, als das erste Pflegekind kam, erinnert sich vor allem an die Abschiede: „Es war wie ein Loch, wenn ein Kind gegangen ist.“

„Die Erfahrung von Bindungsabbrüchen können auch die leiblichen Kinder machen“, meint Blank. Bereitschaftspflege habe auch auf die leiblichen Kinder viele positive Auswirkungen: Ihnen würden Werte wie Nächstenliebe vermittelt „und die Bereitschaft, sich auf neue Menschen einzulassen.“

Manchmal verstecke Momo sein Essen im Kopfkissenbezug

Eifersüchtig waren Nick und Martha nach eigener Aussage nie. Auch wenn sie erst irritiert waren, wenn Momo beim Essen alles auf seinen Teller lud und für sich haben wollte. Manchmal versteckte er es sogar im Kopfkissenbezug. Nick zeigte Momo, dass teilen auch schön sein kann und übt bis heute mit ihm.

Durften die Pflegekinder einmal in der Woche ihre leiblichen Eltern sehen, nahm Anja Hahmann oft auch Martha und Nick mit. „Die Herkunftsfamilien sollten wissen, dass ihre Kinder gut aufgehoben sind.“ Gleichzeitig, meint ihr Mann, sei es auch für die Kinder wichtig gewesen zu sehen, dass es nicht nur das behütete Leben gibt. „Das hat meine Sicht auf die Welt ziemlich verändert“, so Martha.

Als Momo richtig zur Familie gehören wollte, stellten die Hahmanns einen Antrag auf Namensänderung. Heinz-Peter Hahmann holt einen Baum aus Ton vom Fensterbrett. An den Zweigen hängt ein Schild, darauf steht „Momo Hahmann“. Jedes andere Kind in seiner Klasse habe nur seinen Vornamen geschrieben, erzählt er. „Aber Momo ist es wichtig zu zeigen, dass er jetzt zu uns gehört.“

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