Schwere VerbrennungenSo geht es Lika nach dem Anschlag am Kölner Hauptbahnhof heute

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Lika und ihr Hund Tyson

Lika und ihr Hund Tyson

  • Vor einem Jahr überfiel Mohammad R. am Hauptbahnhof Köln eine Apotheke und nahm eine Geisel.
  • Ein SEK verletzte den Mann mit mehreren Schüssen schwer. In welchem Zustand befindet sich der Täter heute? Vor allem aber: Wie geht es der damals schwer verbrannten Lika?
  • Wir haben mit ihr gesprochen.

Köln – Das McDonald’s-Restaurant im Hauptbahnhof wurde rundum saniert und ist längst wieder geöffnet, auch in der Apotheke nebenan herrscht an diesem Vormittag im Oktober normaler Betrieb. Wer ein Jahr nach der Geiselnahme und dem Brandanschlag mit drei Verletzten vor Ort nach Spuren des Verbrechens sucht, findet heute keine mehr. Spricht man aber mit Menschen, die vom Geschehen an jenem Mittag des 15. Oktober 2018 direkt betroffen waren, wird schnell klar, dass sich die Eindrücke dieser Tat fest im Gedächtnis verankert haben – bei Opfern, Zeugen und Ermittlern.

Die Opfer

Geblieben sind die Brandnarben an ihren Füßen und Beinen. Wenn Lika M. längere Zeit stehen muss, fangen ihre Knöchel an zu kribbeln, die Kraft lässt nach, die 15-Jährige muss sich dann hinsetzen. Manchmal spürt sie Krämpfe im Bein, zweimal pro Woche geht Lika zur Physiotherapie, dort werden ihre Narben massiert, um die transplantierte Haut beweglich zu halten.

Menschen in Bahnhöfen, die Koffer hinter sich herziehen, mustere sie mit einem gewissen Misstrauen und den McDonald’s im Hauptbahnhof will sie bis heute nicht betreten, erzählt das Mädchen.

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In dieser Apotheke hielt Mohammad R. eine Angestellte als Geisel.

In dieser Apotheke hielt Mohammad R. eine Angestellte als Geisel.

Aber: Nach einem Jahr sind die Alpträume verschwunden, sie kann wieder laufen und Sport treiben, hat kein Problem mehr damit, wenn Fremde ihre Narben anstarren, und sogar nach Köln traut sich die Gymnasiastin aus Hennef inzwischen wieder – ganz ohne Beklemmungen. „Insgesamt komme ich mit der ganzen Sache sehr gut klar“, sagt Lika.

Die 15-Jährige ist die Schülerin, die bei dem Anschlag vor einem Jahr schwer verletzt wurde. Der womöglich geistig verwirrte Mohammad R. hatte in dem Schnellrestaurant Benzin ausgeschüttet und angezündet, anschließend eine Geisel in einer Apotheke genommen, bevor er von einem Polizei-SEK niedergeschossen und schwer verwundet wurde.

Lika war in der Benzinpfütze ausgerutscht, Flammen waren ihr bis zur Hüfte geschlagen. Acht Operationen wurden nötig, alle unter Vollnarkose. Zweimal verpflanzten Chirurgen der Kinderklinik Haut vom Kopf auf die Beine.

Der Tatort des Brandanschlags.

Der Tatort des Brandanschlags.

Die Apothekenangestellte, die der Geiselnehmer in einem hinteren Raum des Geschäfts über zwei Stunden gequält, mit Benzin übergossen hatte und wohl anzünden wollte, hat öffentlich nie über ihr Martyrium gesprochen.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Über Täter wird ausführlich berichtet, die Opfer kommen zu kurz – ein oft gehörter Vorwurf an die Medien. Sollte das einmal so gewesen sein, hat sich der Fokus inzwischen verschoben. Mein Eindruck ist, dass Opfern von Verbrechen häufig Gehör verschafft wird. Das ist auch gut so.

Oft fällt es den Betroffenen oder ihren Angehörigen nicht leicht, mit Journalisten zu sprechen. Die Gründe kann ich nachvollziehen. Menschen, die in einer Ausnahmesituation sind, brauchen die Kraft erst einmal für sich selber. Manchmal aber hilft es den Betroffenen, ihr Schicksal öffentlich zu machen, etwa wenn es um Schadensersatz oder andere Unterstützung geht. Nicht selten hatte ich zudem den Eindruck, dass Menschen geradezu auf die Gelegenheit gewartet haben, sich zu äußern – viele tun dies, weil sie andere mit ihrer Geschichte aufrütteln oder warnen wollen.

Deshalb machen wir den Betroffenen ein Gesprächsangebot – je nach Situation telefonisch, persönlich, in einem Brief, manchmal auch über Dritte wie Polizisten oder Anwälte. Wer „Nein“ sagt oder gar nicht reagiert, den fragen wir auch kein zweites Mal.

Lika und ihre Mutter haben sich Bedenkzeit erbeten, ehe sie sich dazu entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen. Vorausgegangen waren Gespräche mit dem Anwalt der Familie und mit Likas Mutter. Das Verhältnis wurde zunehmend vertrauensvoller – dies bildete die Grundlage für die folgende Berichterstattung. Ich finde es absolut beeindruckend, wie souverän die 15-jährige Schülerin die Folgen dieser monströsen Tat verarbeitet.

Lika sagt, es störe sie nicht, auf die Tat angesprochen zu werden. Ihr Schicksal bewegte die Menschen in Köln vor einem Jahr derart, dass allein Leser des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in kurzer Zeit mehr als 200.000 Euro spendeten – Geld, das die vierköpfige Familie gut gebrauchen konnte. Sieben Wochen lag Lika im Krankenhaus, am Ende konnten die Eltern kaum noch das Benzingeld für die täglichen Klinikbesuche aufbringen.

Von den Spenden leistete sich die Familie vor drei Monaten einen Sommerurlaub in der Türkei und weitere kleinere Anschaffungen. Der Rest liege auf Likas Konto, berichtet ihre Mutter. „Das Geld ist für sie. Wir wollen abwarten, ob Lika sich zum Beispiel später zu einer plastisch-chirurgischen Operation entscheidet“, sagt Julia M. Derzeit ist das aus medizinischen Gründen noch nicht möglich.

Die Wut auf den Täter sei mit der Zeit ein wenig verraucht, erzählt die Mutter „Es ist nicht mehr so schmerzlich, aber ich kann es nie vergessen, das bleibt tief im Kopf.“ Ihre Tochter betont, sie fühle weder Wut noch Verachtung. „Es heißt, der Mann ist psychisch krank und wusste wahrscheinlich selber gar nicht, was er da tat“, sagt Lika. „Das war zwar blöd, aber... keine Ahnung, ich will ihn nicht hassen.“

Der Täter

Beamte eines Spezialeinsatzkommandos streckten Mohammad R. mit sechs Schüssen nieder, der 55-jährige syrische Flüchtling erlitt eine Steckschussverletzung am Kopf. Noch immer stecken Metallsplitter in seiner Schädeldecke. R. ist teilweise gelähmt und wird künstlich ernährt. Das Sprechen falle ihm schwer, die Konzentration sei stark eingeschränkt, berichtet sein Kölner Anwalt Marc Donay. Ob Mohammad R. je wieder so gesund wird, dass er vor Gericht gestellt werden kann, ist derzeit völlig unklar.

Seit Juni ist seine Untersuchungshaft unterbrochen – der Familienvater wurde aus dem Justizkrankenhaus, wo die Folgen seiner Verletzungen nicht adäquat behandelt werden können, in ein Pflegeheim verlegt. Von dort soll er in eine Spezialklinik für neurologische Früh-Rehabilitation kommen, aber noch ist ungewiss, wer für die Kosten aufkommt.

Im vergangenen Jahr sei nichts geschehen, um seinen Mandanten dem Zustand der Verhandlungsfähigkeit näher zu bringen, klagt Anwalt Donay. „Man wollte sich lange einfach nicht von der Vorstellung lösen, dass er in Haft gehört.“

Die Ermittler

Die Ermittlungen „seien im Prinzip“ abgeschlossen, berichtet Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer. Die einzige Frage, die sich noch stelle, sei die, ob R. wegen versuchten Mordes angeklagt werden könne. Sollte er verhandlungsunfähig bleiben, wird das Verfahren eingestellt.

Für den erfahrenen Polizei-Einsatzleiter Klaus Rüschenschmidt war die Geiselnahme einer der schwierigsten Einsätze seiner Laufbahn. „Die Lage war von Anfang bis Ende äußerst brisant.“ Die Befreiung der Geisel sei hochriskant, aber alternativlos gewesen, hatte er schon kurz nach dem Ereignis gesagt.

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Das sieht Rüschenschmidt auch heute noch so. Vor allem das Zusammenspiel zwischen Streifendienst und Spezialeinheiten habe gut funktioniert. Allerdings habe nie aufgeklärt werden können, warum Polizisten auf den Bahnhofsvorplatz gelaufen waren und etwas von „Gasgeruch“ gerufen hätten – eine Falschinformation. Rüschenschmidt ist heute noch überzeugt: „Das hätte auch eine Massenpanik auslösen können.“

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