Kommentar zu OxfamNGOs in der Krise – eine Chance für überfällige Reformen

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Berlin – Die Welt internationaler NGOs befindet sich in Schockstarre. Die Meldungen überschlagen sich, seit die „Times“ berichtete, dass die Hilfsorganisation Oxfam im Jahr 2011 sieben Mitarbeiter entließ, weil sie in Haiti mit Prostituierten verkehrt hatten. Inzwischen ist bekannt, dass Oxfam-Mitarbeiter in Haiti sowie im Tschad regelmäßig Sexparties veranstalteten. Andernorts sollen Mitarbeiter gar Sex als Gegenleistung für die Vergabe von Hilfsgütern an Frauen in Not verlangt haben.

Im Laufe der Woche weiteten sich die Vorwürfe auf andere Organisationen aus. Ärzte ohne Grenzen meldete jüngst 24 Fälle von Missbrauch oder sexueller Belästigung. Auch die US-Flüchtlingsorganisation International Rescue Committee (IRC) berichtete drei Vorfälle. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahlen nur die Spitze des Eisberges ausmachen.

Zur Person

Leon Valentin Schettler, Jahrgang 1986, ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-geförderten Projekt „'Talk and Action'. Wie internationale Organisationen auf Räume begrenzter Staatlichkeit reagieren“ in Potsdam/Berlin. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit dem Menschenrechtsschutz internationaler Organisationen.

Mit Oxfam und Ärzte ohne Grenzen trifft es zwei NGOs, die sich durch ihren Einsatz für Menschen in Not über Jahrzehnte einen außerordentlich guten Ruf erarbeitet haben. Ärzte ohne Grenzen erhielt 1999 den Friedensnobelpreis, auch Oxfam war schon für den Preis nominiert. Wie kaum andere Akteure sind internationale NGOs von eben diesem Ruf abhängig. Zum einen finanziell, da Mitgliedsbeiträge und Zuwendungen von Regierungen ausbleiben, wo die Integrität einer Hilfsorganisation in Frage steht. Doch auch die Effektivität der Organisationen hängt in hohem Maße an ihrer Glaubwürdigkeit. Ohne moralische Autorität finden ihre Forderungen kein Gehör bei Entscheidungsträgern.

Da NGOs wie Oxfam  sich dem Schutz der Menschenrechte verschreiben, wiegen die jüngsten Vorwürfe in der öffentlichen Wahrnehmung besonders schwer. Dort vergehen sich Menschen an jenen, denen sie vorgeben zu helfen. Deutlich wird: Auch die Anwälte globaler Mindeststandards sind längst nicht frei von moralischen Verfehlungen, begehen gar sexuelle Straftaten.

Tatsächlich dürfte gerade in internationale NGOs die Anfälligkeit für solche Vergehen hoch sein. Analog zu Militäreinsätzen im Ausland führen internationale Experten häufig über Jahre ein Leben in der Ferne, ohne im stets wechselnden Gastland sozial eingebunden zu sein. Gleichsam sind sie abgetrennt von der sozialen Kontrolle daheim. Faktoren wie ein stark männlich geprägtes Umfeld sowie das enorme Machtgefälle zwischen Helfern und Bedürftigen erhöhen das Risiko für Übergriffe.

Oxfam hat mitgeholfen, Skandale aufzudecken

Zwischenstaatliche internationale Organisationen wie die Weltbank, die Vereinten Nationen und NATO haben in den vergangenen Jahrzehnten Mechanismen zum Schutz von Menschenrechten eingeführt. Häufig erfolgte dies in Reaktion auf Skandale, wie die sexuellen Übergriffe von Blauhelmsoldaten im Kongo 2002. Es waren NGOs wie Oxfam, die diese Skandale mit aufdeckten und sich anschließend an vorderster Front dafür einsetzten, entsprechende Reformen einzuleiten.

Oxfam hat nun einen Aktionsplan vorgestellt: Eine Untersuchungskommission soll eingesetzt, Geld und Kapazitäten sollen für den sofortigen Ausbau von Maßnahmen gegen Belästigung, und sexuellen Missbrauch bereitgestellt werden. Wie Ärzte ohne Grenzen hat Oxfam eine Anlaufstelle für Whistleblower eingerichtet, um von Missbrauchsfällen in der eigenen Organisation zu erfahren. Ein Anfang ist gemacht, doch ausreichend sind diese Maßnahmen nicht. Es ist an der Zeit, dass internationale NGOs selbst jene Reformen angehen, die sie andernorts so entschlossen erstritten haben.

Höherer Frauenanteil, mehr Schulungen

Nach aller Erfahrung greifen Mechanismen zum Schutz von Individuen dann, wenn Mitarbeiter hinreichend sensibilisiert werden, Rechtsnormen präzise definiert und Sanktionsmöglichkeiten durch unabhängige Instanzen vorhanden sind.

Konkret bedeutet dies, dass Mitarbeiter vor ihrer Entsendung entsprechende Menschenrechts-Schulungen durchlaufen müssen. Außerdem würde eine Erhöhung des Frauenanteils in internationalen NGOs zur Delegitimation von Macho-Kulturen beitragen. Zusätzlich braucht es klare Regeln und Kontrolle. Daher sollten NGOs ausnahmslos von unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern mit direktem Zugang zu allen Informationen begleitet werden.

Die Bevölkerung im Gastland muss ausreichend über unabhängige Anlaufstellen für etwaiges Fehlverhalten aufgeklärt werden. Neben konsequenten Entlassungen sollten Vergehen vor Ort geahndet werden können. Schließlich müssen Opfer von Übergriffen endlich angemessen entschädigt werden.

NGOs wie Oxfam und Ärzte ohne Grenzen können ihre Glaubwürdigkeit nur dann auf Dauer sichern, wenn sie sich selbst an den Standards der Menschenrechts-Accountability messen, die sie andernorts einfordern. Die aktuelle Krise ist eine Chance, dies anzugehen.

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