Krieg in der UkraineIst die Krim im Zuge von Friedensgesprächen verhandelbar?

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Ein U-Boot und Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte liegen vor Anker in der Hafenstadt Sewastopol, die als Symbol der Krim als uneinnehmbare Festung gilt.

Ein U-Boot und Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte liegen vor Anker in der Hafenstadt Sewastopol, die als Symbol der Krim als uneinnehmbare Festung gilt.

Die russische Vergangenheit der Krim lässt immer wieder die Frage aufkommen, ob man Moskau die Halbinsel nicht einfach im Zuge von Verhandlungen zugestehen sollte. Vieles spricht dagegen. Nicht zuletzt das Völkerrecht.

Als Ende Februar vergangenen Jahres in der polnisch-ukrainischen Grenzstadt Przemysl die ersten Kriegsflüchtlinge mit dem Zug aus Kiew eintrafen, waren unter den vielen Frauen und Kindern auch die 52-jährige „Babuschka“ (Oma) Elmira mit ihrem fünfjährigen Enkel Ismail und der 15-jährigen Tochter Marile.

Sie sind Krimtataren, Angehörige jener turksprachigen Minderheit muslimischen Glaubens, die von alters her auf der Schwarzmeer-Halbinsel Krim beheimatet waren.

Schwere Repressalien für Krim-Bewohner seit russischer Annexion

Unter Sowjetdiktator Josef Stalin während des Zweiten Weltkriegs massiv verfolgt und deportiert, kehrten viel von ihnen erst Ende der 1980er Jahre zurück auf die Krim, sehen sich aber seit der russischen Annexion von 2014 neuerlich schweren Repressalien ausgesetzt.

„Zuerst sind wir von der Krim nach Kiew gezogen, und jetzt sind wir vor dem Krieg nach Polen geflohen“, berichtete Elmira am Suppenstand der Caritas im Bahnhof vom Przemysl.

Sie wollten weiter nach Deutschland, hatten aber für den kleinen Ismail in der Eile die Dokumente vergessen. „Seine Eltern sind in Kiew geblieben und wollen in der ukrainischen Armee kämpfen“, sagte die Oma. Nun müssten sie erst einmal nach Warschau aufs Konsulat, um für den Jungen Papiere zu bekommen.

Von insgesamt 2,3 Millionen Krim-Bewohnern ist die Mehrheit russisch

Heute leben nach jüngsten Schätzungen etwa wieder 280.000 Krimtataren auf der wegen ihres milden Klimas und ihrer Schönheit bei Touristen beliebten Halbinsel und stellen damit rund 12 Prozent der insgesamt 2,3 Millionen Bewohner, von denen die Mehrheit Russen sind.

Die Krim ist im Krieg zwischen Russland und der Ukraine von enormer strategischer Bedeutung, weil Russlands Schwarzmeerflotte dort stationiert ist und weil der Kreml von den dortigen Luftwaffenstützpunkten aus, Drohnen- und Raketenangriffe startet. Die russische Kontrolle über die Krim sei nicht nur ein Sicherheitsrisiko für die Ukraine, sondern für die ganze Welt, schrieb das US-Journal „Foreign Affairs“ dieser Tage.

Moskau übe von der Halbinsel aus nicht nur Macht über das Schwarze und das Asowsche Meer aus, sondern auch über Europa und den Nahen Osten. „Putin wird niemals in Betracht ziehen, sich friedlich von der Halbinsel zu trennen“, hieß es in dem Essay.

Herrschaft über die Krim wechselte mehrmals

In ihrer vielfältigen Geschichte war die Krim immer ein Schmelztiegel von Kulturen und Sprachen und Zankapfel fremder Mächte. Während die Halbinsel im 6. Jahrhundert vor Christus Teil der griechischen Welt war, konkurrierten später andere um die Vorherrschaft, nicht zuletzt die Krimtataren, deren Khanat die Schutzherrschaft des Osmanischen Reiches genoss.

Im Ergebnis Russisch-Osmanischer Kriege kam die südliche Ukraine und die Krim schließlich unter die Herrschaft Russlands. Am 8. April 1783 ließ die russische Zarin Katharina die Große in einem Manifest die Annexion erklären: „Von nun an und für alle Zeiten ist die Krim Teil des russischen Reiches.“

Wladimir Putin vergleicht die Krim mit dem Tempelberg

Dort knüpft Russlands Präsident Wladimir Putin an, wenn er die „Heimholung“ der Krim rechtfertigt. In einer Rede im Dezember 2014 sagte Putin, dass die sakrale und zivilisatorische Bedeutung der Halbinsel für Russland mit der des Tempelberges für Juden und Muslime vergleichbar sei.

Auf der Krim, so Putin, habe einst die Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir stattgefunden, welche die Grundlage für die Christianisierung der Kiewer Rus war. Das mittelalterliche altslawische Großreich sieht Putin als Vorläuferstaat der heutigen Länder Russland, Ukraine und Belarus. Dass die Krim 1954 von KP-Chef Nikita Chruschtschow an die damalige ukrainische Sowjetrepublik übergeben wurde, wird von Putin als lästiger Betriebsunfall betrachtet, der heute keine Rolle mehr spielt.

Wie empfindlich der Kreml auf Attacken gegen die Krim reagiert, zeigte sich nach der Explosion auf der 19 Kilometer langen Kertsch-Brücke im Oktober 2022, bei der ein Fahrbahnteil ins Meer kippte. Schon bald nach dem vermutlichen Anschlag auf das Moskauer Prestigeobjekt, das Russland mit der Krim per Schiene und Straße verbindet, startete Putin seine Raketen- und Drohnenangriffen auf die ukrainische Infrastruktur ohne Rücksicht auf zivile Einrichtungen.

Als sich im Dezember 1991 die Sowjetunion auflöste, hat Russland die Unabhängigkeit der Ukraine – inklusive Krim! – sofort anerkannt und dies im Zuge des Budapester Memorandums von 1994 erneut bekräftigt, als die Ukraine auf ihre Nuklearwaffen verzichtete und im Gegenzug von Russland, den USA und Großbritannien Sicherheitsgarantien für die Unantastbarkeit ihrer Grenzen erhielt.

Das jedoch zählte für Putin nicht mehr, als er im Februar 2014 die Krim unter die Kontrolle bewaffneter Uniformierter ohne Hoheitsabzeichen bringen und das Parlament besetzen ließ, um ein Referendum zu inszenieren, in dessen Folge sich eine vorausbestimmte Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprach.

Seit nunmehr knapp neun Jahren steht die Krim unter russischer Verwaltung, ein mehrheitlicher Teil der Bevölkerung ist russischstämmig und spricht Russisch als Muttersprache. Nach ukrainischen Angaben sind seit 2014 zwischen 600.000 und 800.000 russischen Staatsbürger „illegal“ zugezogen.

All dies lässt in der aktuellen Diskussion um mögliche Friedensverhandlungen immer wieder Überlegungen aufkommen, ob man diesen Zustand nicht irgendwie akzeptieren müsse. So schrieb der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel unlängst in der FAZ, dass aus der „ehedem rechtswidrigen Okkupation“ nunmehr „der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden“ sei.

Angela Merkel: „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“

Die Krim stehe „unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt“, schrieb Merkel und schlussfolgerte, dass mit der „erreichten normativen Stabilität“ zugleich für die Ukraine die Möglichkeit entfalle, „eine militärische Rückeroberung der Krim als Selbstverteidigung zu rechtfertigen“. Begänne sie damit, so begänne sie einen neuen Krieg, meint Merkel, dessen Essay mit „Verhandeln heißt nicht kapitulieren“ überschrieben war.

Dieser Sichtweise kann Prof. Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, nur wenig abgewinnen. Sie legt Wert auf die Feststellung, dass momentan „überhaupt keine Grundlage für Friedensverhandlungen“ erkennbar ist. Dennoch möchte sie es „nicht völlig ausschließen“, dass, wenn es irgendwann zu Verhandlungen kommt, möglicherweise der Status der Krim erst einmal ausgeklammert wird.

„Es wäre vorstellbar, dass es dazu einen gesonderten Verhandlungsprozess braucht oder dass eine Art Phasenmodell zum Einsatz kommt“, sagt Sasse. Aus ukrainischer Sicht halte sie das für möglich, sagte die Osteuropaexpertin, aber auf russischer Seite sei momentan überhaupt kein Wille erkennbar, sich darauf einzulassen. Ob so ein Szenario realistisch wird, hänge entscheidend vom weiteren Kriegsverlauf ab, insbesondere davon, ob die Ukraine weitere Territorien zurückerobern kann.

Krim hat sehr hohen Stellenwert in der ukrainischen Gesellschaft

Zudem müsse man in Rechnung stellen, dass mit der Eskalation des Krieges die Krim auch als Symbol in der ukrainischen Gesellschaft einen noch viel höheren Stellenwert erhalten hat.

Die von Merkel beschriebene „befriedete Ordnung“ und „normative Stabilität“ auf der Krim findet bei Sasse überhaupt keine Zustimmung. „Davon kann angesichts der russischen Repressionen, insbesondere gegenüber den Krimtataren und gegenüber Oppositionellen gar keine Rede sein“, betont Sasse und fügt hinzu, es gäbe auch keine völkerrechtliche Norm, auf deren Grundlage man das behaupten könnte.

Auch die Merkel-These, dass ein militärischer Angriff der Ukraine auf die Krim als ein neuer Krieg bewertet werden müsste, hält Sasse für abwegig. „Das ist in der Sache und auch rechtlich nicht zu halten“, erklärt die Sozialwissenschaftlerin. Äußerst fraglich sei auch die Behauptung, dass die russische Bevölkerungsmehrheit auf der Krim der Annexion durch Russland zugestimmt habe.

„Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht und können es im Rückblick auch nicht ermitteln“, sagt Sasse, „denn das unter den Augen bewaffneter russischer Sondereinheiten abgehaltene Scheinreferendum, das den Status quo als Option gar nicht enthielt, ist keine Grundlage für diese Einschätzung.“

Selenskyj will die Krim zurück

Tim Peters, der als Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew die Dinge vor Ort beobachtet, erinnert daran, dass es zu Beginn des Krieges 2022 von ukrainischer Seite durchaus die Bereitschaft gegeben habe, die Krim-Frage bei Verhandlungen erst einmal auszuklammern. „Das heißt nicht, dass die Ukraine bereit war, die Krim für immer aufzugeben“, sagt Peters. Aber es habe sicher in der Führung in Kiew eine Art Pragmatismus gegeben, zumindest temporär bestimmte Realitäten anzuerkennen.

Peters spricht in diesem Zusammenhang von einer „vernunftgeleiteten Politik“, die sich durch den Kriegsverlauf auch ständig ändern kann. Unter den aktuellen Gegebenheiten hält er es für fraglich, dass Kiew jetzt einer Ausklammerung der Krim-Frage zustimmen würde. Aktuelle Umfragen stützen diese Ansicht. Nach einer im Dezember erfolgten Erhebung des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew unter über 2000 Befragten in allen Teilen der Ukraine sind für 85 Prozent territoriale Zugeständnisse nicht akzeptabel.

Und ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mehr als einmal betont, dass man die Krim zurückerobern wolle. Schon Ende August 2022 sagte er in einer Fernsehansprache: „Dieser Krieg, der mit der Besetzung unserer Krim durch Russland und dem Versuch, den Donbass zu erobern, begann, muss genau dort enden – auf der befreiten Krim...“

Und Selenskyjs Vizeaußenminister Andrij Melnyk sagt: „Sollte Putin tatsächlich zu echten Friedensverhandlungen durch seine Niederlagen auf dem Schlachtfeld gezwungen werden, so kann ich mir im schlimmsten Alptraum nicht vorstellen, dass die Ukraine irgendwelche Kompromisse in Bezug auf die Krim eingehen wird. Die Befreiung der Halbinsel ist eine conditio sine qua, damit der russische Angriffskrieg beendet wird und die Weichen für eine friedliche Lösung und eine neue Friedensordnung in Europa gestellt werden.“

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