Mafia-Autor Roberto Saviano„Aufmerksamkeit ist überlebenswichtig für mich“

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Roberto Saviano lebt im Versteck vor der Mafia, die ihn jagt.

Roberto Saviano lebt im Versteck vor der Mafia, die ihn jagt.

Ein Interview über sein Leben als Gejagter, seinen Streit mit der Rechtsaußenregierung von Georgia Meloni und die Rolle der Mafia in Deutschland.

Signor Saviano, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Anschlag auf Salman Rushdie hörten, bei dem er voriges Jahr schwer verletzt wurde?

Roberto Saviano: Ich war natürlich schockiert – aber ich habe ihn auch dafür bewundert, wie lange er sich seine Freiheit genommen hat. Ich habe mich Salman immer verbunden gefühlt, weil wir beide mit dieser ständigen Bedrohung umgehen müssen. Er setzte sich auch schon öffentlich für mich ein. Aber mein erster Gedanke nach dem Attentat war nicht, wie sicher bei den meisten: „Hätte er nur seine Bodyguards dabei gehabt!“ Ich dachte daran, dass er es geschafft hat, 20 Jahre lang als freier Mann zu leben – und deshalb auch nach dem Attentat ein freier Mann zu bleiben.

Beneiden Sie ihn darum?

Es ist kompliziert. Sein freies Leben hat ihn diesem Risiko ausgesetzt. Aber hätte er sich die letzten 20 Jahre bewachen lassen, wäre er ein Gefangener gewesen.

In der Graphic Novel über Ihre Lebensgeschichte schildern Sie viele Ihrer einsamen, düsteren Momente. Sie sagten einmal sogar, dass Sie den Tod durch die Mafia inzwischen weniger fürchten als die Aussicht, sich für immer verstecken und bewachen zu lassen. Haben Sie oft so düstere Gedanken?

Ja, ich rutsche immer wieder in eine Art depressives Klima. Ich schwebe ja nicht nur in der Gefahr des, sagen wir: physischen Todes, sondern auch eines zivilen Todes. Die Mafia geht gegen ihre Gegner auch mit Verleumdung, Schmutzkampagnen, Psychoterror vor. Das verdoppelt die Angst. Es ist schwer, dabei sein seelisches Gleichgewicht zu wahren. Man verfällt leicht in Panik oder Schlaflosigkeit.

Was kann Sie aufmuntern?

Da gibt es verschiedene Dinge. Zum Beispiel das Interesse an meiner Arbeit. Wenn ich bei Lesungen oder öffentlichen Veranstaltungen sehe, dass mich viele Menschen unterstützen, meine Bücher mögen und mir zuhören. Oder die Momente der Ablenkung, wie durch den SSC Neapel, der gerade eine unglaubliche Saison gespielt hat!

In Ihrer Comicbiografie sieht man, dass Sie bei jedem Ihrer Wohnungswechsel unzählige Bücher mitnehmen und offenbar dauernd lesen. Sind da eigentlich auch Comics dabei?

Stimmt, ich bin fast ein Gefangener meiner Bibliothek. Insgesamt sind das ungefähr 15?000 Bücher! Was soll ich sagen: Ich lebe vom Lesen. Ich lese vor allem historische Texte, Weltliteratur, kurz gesagt, alles über die Welt um mich herum. Im Grunde lese ich eher über die Welt, als dass ich in ihr lebe. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde. Und: Ja, es sind viele Comics dabei. Ein paar angesagte Action-Comics, aber vor allem Graphic Novels. Ich liebe die Amerikaner Art Spiegelman und Frank Miller für ihre hervorragenden Zeichnungen und Geschichten. Mein italienischer Lieblingszeichner ist Andrea Pazienza.

Salman Rushdie hat Ihnen mal empfohlen, Ihr Sujet zu wechseln, um die Bedrohung loszuwerden – so wie er sich vom Islam abgewandt hat. Warum ziehen Sie durch Bücher wie diese Comicbiografie immer wieder Aufmerksamkeit auf Ihren Ärger mit der Mafia?

Diese Aufmerksamkeit ist überlebenswichtig für mich. Das Rampenlicht darf niemals ausgehen, denn im Dunkeln ist die Gefahr für mich am größten. Das ist eine der Regeln im Kampf gegen die Mafia. Die Mafiosi wissen, dass sie still und unauffällig handeln müssen. Wer Aufmerksamkeit erregt, löst Nachfragen und Ermittlungen aus. Deshalb begeht die Mafia ihre Morde oft im Sommer, wenn das Medieninteresse am geringsten ist.

Im Ausland gelten Sie als heldenhafter Kämpfer gegen die Mafia. Viele Italiener sind dagegen nicht gut auf Sie zu sprechen. Wie schätzen Sie selbst Ihren Ruf in Ihrer Heimat ein?

Die Lage ist sehr kompliziert. In Italien nimmt man mir übel, dass ich die Probleme so offen anspreche. Wer das macht, bringe seine Heimat in Verruf. Im Deutschen haben Sie dafür glaube ich den schönen Ausdruck des „Nestbeschmutzers“. So sieht mich ein Teil des Landes, nicht nur im typischen Mafiagebiet. Es stört sie, dass ich in diesem Schmutz wühle.

Warum? Weil die Italiener das unter sich ausmachen wollen? Oder weil sie am liebsten gar nicht darüber sprechen würden?

Die meisten Italiener halten die Mafia für ein lokal begrenztes Phänomen. Niemand leugnet seine Existenz. Aber sie denken, es ist ein Problem Süditaliens – solle man sich doch dort darum kümmern! Genau das ist der Knackpunkt: Man unterschätzt das Ausmaß der Bedrohung und der kriminellen Energie. Es geht nicht um ein bisschen Schutzgelderpressung in Neapel oder Sizilien. Die Mafia ist in ganz Europa aktiv, nicht zuletzt in Deutschland. Klar, sie verdient ihre Millionen mit Drogen, illegaler Müllentsorgung, Waffenhandel und Prostitution. Aber um das Geld zu waschen, tritt sie als ganz normaler Investor auf, kauft Firmen und Immobilien und so weiter. Die Lösung muss deshalb in erster Linie eine wirtschaftliche sein – keine polizeiliche oder militärische.

Schon bevor es die heutige italienische Regierungschefin Meloni und ihr Minister Salvini in die neue Regierung Italiens geschafft haben, kritisierten Sie die beiden für ihre Flüchtlingspolitik. Von beiden wurden Sie wegen Beleidigung verklagt. Und nun, nach ihrem Wahlsieg, hat die Regierung Meloni verhindert, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen Ihre neue Dokuserie über die Mafia zeigt. Angeblich verstößt sie gegen den „Ethikkodex“ des Senders. Was steckt aus Ihrer Sicht dahinter?

Am Anfang ging es um Rache. Dazu kommt mittlerweile, dass Meloni ein Signal an ihre Wähler senden will. Die Regierung hat bislang nichts zustande gebracht. Anders als versprochen hat sie weder die Zuwanderung gestoppt noch die Steuern gesenkt. Also tun sie so, als ob ihre Gegner schuld sind, weil wir sie aufhalten. Sie stellen mich als einen Feind dar, den man stoppen muss. Und das ist sehr ernst. Wer so mit seinen Kritikern umgeht, gefährdet die Demokratie.

Macht es für die Mafia einen Unterschied, wer regiert? Was tut Meloni gegen das organisierte Verbrechen?

Eine Menge Propaganda – sonst nichts. Das ist im Grunde bei jeder italienischen Regierung so: Es passiert nicht viel. Sie machen eine Menge Anti-Mafia-Propaganda, aber niemand packt das Übel an der Wurzel. Es gibt Verhaftungen, ja. Aber die gab es auch unter den Regierungen, die die Mafia offensichtlich geschont haben. Neue Strategien oder einen neuen Umgang mit der Mafia hat auch Meloni nicht.

Woran liegt das?

Ganz einfach: Würde man tatsächlich gegen Wirtschaftskriminalität vorgehen, könnte das ganze Wirtschaftsbranchen treffen. Allein die sizilianische Cosa Nostra erreicht heute einen Jahresumsatz von 40 Milliarden Euro – das sind 2 Prozent der italienischen Wirtschaftskraft, viel mehr als die italienischen Großkonzerne. Die neapolitanische Camorra setzt 24 Milliarden Euro im Jahr um. Das schmutzige Geld investiert sie ins ganz normale Wirtschaftsleben. Rottet man sie aus, fehlen diese Investitionen. Das will kein Politiker riskieren.

Was hat sich seit Ihrer ersten großen Anklageschrift „Gomorrha“ von 2006 geändert?

Es hat sich vieles verändert, vieles aber auch nicht. Weil viele Namen und Verstrickungen ans Licht kamen, musste einerseits ganz Italien umdenken. Leider hat sich in meinem Leben seitdem aber nur wenig geändert. Schlimmer noch: Ich werde mit diesen Schattenseiten von Neapel verbunden, gegen die ich angeschrieben habe. Als Neapel anfing, sich zum Besseren zu verändern und ein positiveres Image bekam, als die Stadt zum Beispiel gerade die Meisterschaft des SSC Neapel feierte – da hieß es plötzlich: Seht her, wir sind nicht mehr das Neapel von Saviano! Dabei hatte ich doch nur die Verbrechen aufgezeigt, gegen die man vorgehen muss.

Aufmerksamkeit ist überlebenswichtig für mich
Roberto Saviano

Musste die Mafia sich auch verändern?

Das organisierte Verbrechen ging schon immer mit der Zeit. In Italien sind Drogenhandel und illegale Müllentsorgung noch immer die Geschäftsgrundlage der Mafia. Zur Geldwäsche hat sie aber immer neue Staaten und Branchen infiltriert, von Designermode bis Zementproduktion.

Dass Deutschland ein wichtiger Betätigungsort für die italienische Mafia ist, ahnten viele Deutsche erst 2007, als die ’Ndrangheta sechs Menschen vor einem italienischen Restaurant in Duisburg erschossen hat. Die Täter wurden ermittelt und verurteilt. Aber es gibt auch hierzulande immer wieder Razzien und Festnahmen, zuletzt in diesem Mai. Wie aktiv ist die Mafia noch in Deutschland?

Sehr aktiv! Die Morde waren ja gerade die Ausnahme, weil die Mafia sonst stets darauf bedacht ist, kein Aufsehen zu erregen. Ihre Geschäfte laufen am besten im Stillen. Deutschland ist besonders wichtig für die Geldwäsche. Lange gab es keine Meldepflicht für Bargeldgeschäfte, egal welcher Höhe. Heute sind die Regeln strenger, aber Deutschland bleibt – zusammen mit London – die wichtigste Basis für die Geldwäsche. Die Mafia agiert in mehreren Städten – wie viele andere kriminelle Organisationen, zum Beispiel aus Osteuropa. Da geht es nicht mehr um die Pizzeria nebenan oder das kleine Schuhgeschäft. Sie treten als Investoren auf und stecken ihr Geld in deutsche Unternehmen und öffentliche Aufträge, zuletzt vor allem in Ostdeutschland nach dem Mauerfall.

In Ihrem Buch über den Kokainhandel, „Zero Zero Zero“, haben Sie 2013 beschrieben, dass Deutschland auch wichtig für die Drogenkartelle ist. Ist das auch heute, zehn Jahre später, noch so?

Ja, die deutschen Häfen werden häufig für den Drogenumschlag genutzt. Die Handelsrouten führen derzeit von Südamerika über Afrika zu den nordeuropäischen Häfen Rotterdam, Hamburg und Rostock. Die Händler nutzen sie gern – nicht, weil man da korrupt ist, sondern weil die Abwicklung so schnell gehen muss. Deshalb gibt es weniger Kontrollen. Wenn die Drogen gut versteckt sind, etwa in den Zwischenwänden der Schiffe, findet sie so schnell keiner.

Gehen die deutschen Behörden insgesamt ausreichend gegen die Mafia vor?

Im Vergleich zu früher haben sie große Fortschritte gemacht. Vor 20 Jahren hatte Deutschland keine Ahnung, wie man mit Mafiaorganisationen umgeht. Heute weiß man es besser, hinkt aber weit hinter den Kriminellen her – auch weil die rechtlichen Möglichkeiten fehlen, etwa um Mafiakapital auf Verdacht zu beschlagnahmen.

Wurden Sie jemals um Beratung gebeten?

Dann und wann hat sich jemand gemeldet. Aber obwohl ich im Laufe der Jahre oft mit der deutschen Polizei gesprochen habe, muss ich sie immer wieder mit dem Ausmaß der Probleme konfrontieren. Es ist schwierig, eine aktuelle Bestandsaufnahme zu erstellen, mit deren Hilfe die deutsche Polizei die Aktivitäten der Wirtschaftskriminellen wirklich versteht.

Zur Person: Roberto Saviano

Roberto Saviano wurde 1979 in Neapel geboren und durch seinen Tatsachenroman „Gomorrha“ von 2006 weltberühmt. In zuvor ungekannter Detailliertheit nennt er darin Verbrechen, Namen und Verstrickungen der süditalienischen Camorra mit Politik und Wirtschaft. Auf dem Buch basieren ein Kinofilm und eine erfolgreiche TV-Serie mit inzwischen vier Staffeln.

Seit Erscheinen von „Gomorrha“ wird Saviano von der Mafia bedroht und lebt unter Polizeischutz. Dem Thema Mafia ist er dennoch treu geblieben, journalistisch und literarisch. Unter anderem veröffentlichte er acht weitere Bücher, etwa über den Drogenhandel der Kartelle, die organisierte Wirtschaftskriminalität und Menschen, die nach ihrer Kritik an Kriminellen oder autoritären Regierungen mit dem Tode bedroht wurden oder werden. Sein Podcast zu letzterem Thema heißt „Ich werde nicht schweigen“.

In Italien avancierte Saviano zu einer einflussreichen Stimme und einem prominenten Kritiker der aktuellen Regierungspolitik. Die postfaschistische Politikerin und heutige Regierungschefin Georgia Meloni sowie ihr heutiger Verkehrsminister und Parteivorsitzender der Lega, Matteo Salvini, haben ihn jüngst wegen Verleumdung vor Gericht gebracht. Saviano hatte die beiden nach dem Tod eines Babys auf einem Flüchtlingsboot wegen ihrer Äußerungen gegen Migranten und Seenotretter als „Bastardi“ beschimpft und Salvini Kontakte in die Unterwelt unterstellt. Als Innenminister hatte Salvini bereits 2018 den Polizeischutz für Saviano infrage gestellt.

In der Comic-Biografie „I’m Still Alive“ beschreibt Saviano gemeinsam mit dem israelischen Zeichner Asaf Hanuka sein Leben als von der Mafia Gejagter. Die Graphic Novel ist jetzt bei Cross Cult (144 Seiten, 30 Euro) erschienen.

Übersetzer: Rosario Grosso

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