Reform des EU-AsylsystemsNancy Faeser: „Wir müssen das Europa der offenen Grenzen retten“

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Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht im Interview über das EU-Innenminister-Treffen am Donnerstag. (Photo by JOHN THYS / AFP)

Am Donnerstag wollen die Innenministerinnen und Innenminister der EU über eine Reform des Asylsystems sprechen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser wird dabei sein – im Interview spricht sie darüber, was bei dem mit Spannung erwarteten Treffen auf dem Spiel steht. 

Frau Faeser, am Donnerstag tagen die EU-Innenminister, um über ein gemeinsames europäisches Asylsystem zu verhandeln. Die einen hoffen, dass danach die Zahl der Flüchtlinge sinkt, die anderen fürchten, dass vom Grundrecht auf Asyl nichts mehr übrigbleibt. Was sagen Sie den einen wie den anderen?

Ich sage den einen wie den anderen, dass wir ein gemeinsames europäisches Asylsystem dringend brauchen. Wir haben es in den 1990er-Jahren nach den Balkan-Kriegen nicht geschafft, ein dauerhaft funktionierendes System zu erreichen. Und wir haben es nach der großen Fluchtbewegung aus Syrien 2015 auch nicht geschafft. Dabei wissen wir doch, dass kein Staat in Europa allein die Migration bewältigen kann.

Es ist wichtig, dass wir jetzt zu Ergebnissen kommen. Anderenfalls ist mit mehr nationalstaatlicher Abschottung zu rechnen. Ich sehe das Schengen-System offener Binnengrenzen tatsächlich in Gefahr, wenn die EU-Außengrenzen nicht verlässlich kontrolliert werden.

Faeser: „Das Asylrecht wird nicht angetastet“

Sie fürchten, dass Schengen in ganz Europa zusammenbricht?

Ja, es steht viel auf dem Spiel: Wir müssen das Europa der offenen Grenzen retten. Wir haben ja während der Corona-Pandemie gesehen, wie gravierend sich Binnengrenzkontrollen auswirken, etwa an unserer Grenze zu Frankreich. Was ist, wenn die Pflegekraft, die über die Grenze pendelt, nicht mehr kommt? Was ist, wenn Handwerker ständig im Stau stehen? Ganz zu schweigen von den Handelswegen. Wenn wieder überall an den Binnengrenzen kontrolliert wird, dann wirft das Europa um Jahrzehnte zurück.

Anträge von Asylbewerbern aus Staaten mit sonst geringer Bleibeperspektive sollen schon an den Außengrenzen geprüft und binnen drei Monaten entschieden werden. Ist das realistisch?

Ja. Die Verfahren an den Außengrenzen sollen nicht für Menschen gelten, die vor Folter, Krieg und Terror geflohen sind. Sondern es geht um schnelle und faire Asylverfahren für diejenigen, bei denen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie in der EU Schutz benötigen.

Trotzdem besteht die Befürchtung, dass Lager entstehen, in denen Flüchtlinge länger als drei Monate verharren müssen, weil ihre Anträge nicht anerkannt werden, sie aber auch nicht zurückkönnen.

Wer keine Aussicht auf Asyl in der EU hat, der muss von den Außengrenzen aus zurückgeführt werden. Dafür sind Vereinbarungen mit den Herkunftsstaaten wichtig, über die wir ebenfalls verhandeln. Wenn diese Rückführung nicht gelingt, dann dürfen auch die Menschen aus den Grenzverfahren nach 12 Wochen in die EU einreisen. Das würde ich als Staat an der Mittelmeer-Küste auch verlangen.

Antragsteller aus Staaten mit großer Bleibeperspektive sollen nur dann einreisen können, wenn sie nicht aus einem Land kommen, das ihnen ebenfalls Schutz geboten hätte. Das wäre zum Beispiel die Türkei, in der gleichwohl ein zunehmend flüchtlingsfeindliches Klima herrscht.

Für uns ist klar: Das Asylrecht wird nicht angetastet. Wenn Menschen bei uns in Europa Asyl beantragen, dann müssen sie ein faires, rechtsstaatliches Verfahren erhalten. Jeder Fall muss individuell geprüft werden.

Familien sollen weiterhin keine Grenzverfahren durchlaufen müssen

Syrer und Afghanen hätten also nichts zu befürchten?

Wer von Krieg, Terror und politischer Verfolgung bedroht ist und nirgendwo anders bereits Schutz erhalten hat, hat weiter ein Recht darauf. Wir sind dem internationalen Recht verpflichtet.

Was ist mit Familien mit Kindern?

Wir haben in der Bundesregierung eine geeinte Position. Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche, also die Verwundbarsten überhaupt, besonders geschützt sind. Wir setzen uns dafür ein, dass sie mit ihren Familien direkt in die EU einreisen und keine Grenzverfahren durchlaufen müssen. Und wichtig ist: Es sind meist die Menschen aus Kriegsgebieten, die mit ihren Kindern kommen – und die haben ohnehin hohe Aussicht auf Schutz in der EU und müssen nicht in die Grenzverfahren.

Neben den Asylverfahren an den Außengrenzen soll die zweite Säule des gemeinsamen europäischen Asylsystems die gerechte Verteilung von Flüchtlingen in der EU sein. Warum soll jetzt gelingen, was jahrelang nicht gelungen ist?

Die Solidarität in der Verteilung der Flüchtlinge wäre Teil des Gesamtpakets. Wenn wir zu einer Einigung kommen, dann muss das ein fester Bestandteil sein. Es gibt nicht nur Grenzverfahren oder nur eine gerechte Verteilung. Beides bedingt sich. Denn insbesondere die Staaten am Mittelmeer werden doch nur Grenzverfahren durchführen, wenn sie auch wissen, dass Menschen danach entweder zurückkehren oder andere EU-Staaten sie bei der Aufnahme unterstützen.

Allerdings ist jetzt schon ein Schlupfloch im Gespräch. Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, sollen sich durch Geldzahlungen an die anderen EU-Staaten freikaufen können.

Wenn leider nicht alle EU-Staaten zur gerechten Verteilung bereit sind, können sie als Ausgleich Geld an die besonders betroffenen Mitgliedstaaten zahlen, um immerhin so ihren Beitrag zu leisten.

Allerdings bin ich zuversichtlich, dass auch eine gerechte Verteilung gelingen kann. Putins furchtbarer Krieg gegen die Ukraine hat vieles verändert. Nun sind auch viele Flüchtlinge in osteuropäischen Staaten.

Die Ukrainer würden in die Verteilung einbezogen, und das könnte aus Ihrer Sicht ein Hebel für eine Einigung sein?

Für die Geflüchteten aus der Ukraine gilt ein besonderer Rechtsrahmen, sie haben unmittelbar ohne Asylverfahren Schutz in der EU erhalten. Es war ein wichtiges Zeichen, dass Staaten, die es lange an Solidarität haben fehlen lassen, jetzt viele Menschen aufgenommen haben.

Faeser will Kommunen entlasten – und an Außengrenzen Menschenrechte schützen

Wie viele der 27 EU-Staaten könnten das Schlupfloch Geld nutzen, ohne dass die Einigung gefährdet würde?

Wir brauchen ein System, das tatsächlich funktioniert. Alle Mitgliedstaaten tragen Verantwortung. Diese Verantwortung muss auf mehr Schultern verteilt werden, als es heute der Fall ist. Das geht nicht nur mit Geld.

Was ist das Ziel aus deutscher Sicht: dass weniger Flüchtlinge kommen?

Mein Ziel ist, dass es endlich verlässliche Steuerung und Ordnung gibt. Dadurch würde auch die Belastung für Länder wie Deutschland geringer, die schon viele Menschen aufgenommen haben. Ich will auch und gerade unsere Kommunen entlasten, die einen riesigen Kraftakt erbringen.

Zugleich wollen wir an den Außengrenzen Menschenrechts-Standards durchsetzen. Das ist die Linie der Koalition. Wir wollen durch geregelte Migration vor allem dafür sorgen, dass das furchtbare Sterben auf dem Mittelmeer endlich aufhört.

Immer mehr europäische Regierungen stehen unter dem Einfluss rechtsgerichteter Parteien: Italien, Polen, Schweden, Ungarn. Andere wie Spanien könnten demnächst unter diesen Einfluss geraten. Ändert das etwas, wenn Sie plötzlich mit Politikern verhandeln müssen, mit denen Sie im Inland nicht mal reden würden?

Das macht die Situation nicht leichter, das ist völlig klar. Aber wir müssen in der EU fähig sein, zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen. Nur so kann es gehen. Wenn es uns gelingt, nach vielen Jahren des Streits zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu kommen, dann nimmt das auch den Rechtspopulisten Wind aus den Segeln.

Faeser: „Wer das Asylrecht antasten will, spielt das dreckige Spiel der AfD mit“

Unionspolitiker fordern unterdessen einen Stopp freiwilliger Aufnahmeprogramme, etwa für Afghanen, und bringen überdies eine Kommission ins Spiel, die womöglich auch über eine Grundgesetzänderung sprechen sollte. Sind Sie da gesprächsbereit?

Es gibt nur eine Chance, die Lage zu verbessern: Und diese Chance liegt in Europa. Es gibt keinen isolierten deutschen Weg. Das sollte die CDU verstehen, die leider weit weg ist von der Europa-Partei, die sie mal war. Was sollte so eine Kommission auf rein nationaler Ebene leisten? Sie würde an den Ursachen des Problems nichts ändern. Und niemand sollte vergessen: Das Asylrecht hat in unserer Verfassung einen hohen Wert. Wer das Asylrecht antasten will, spielt das dreckige Spiel der AfD mit und verschiebt Grenzen, die nicht verschoben werden dürfen.

Was ist, wenn das EU-Treffen am Donnerstag scheitert?

In Europa geht es immer Schritt für Schritt voran. Wichtige Teile des gemeinsamen Asylsystems haben wir zwischen den EU-Staaten schon beschlossen. Wir haben schon dafür gesorgt, dass künftig alle Ankommenden an den Außengrenzen kontrolliert und registriert werden müssen. Das war ein wichtiger Durchbruch nach Jahren der Blockade.

Jetzt müssen die weiteren Schritte folgen. Wenn es uns am Donnerstag noch nicht gelingt, dann werden wir daran beharrlich weiterarbeiten.

Sie wollen das Problem vor der Sommerpause vom Tisch haben?

Ja, aber wir sind eine EU der 27 Staaten. Es geht nicht alleine.

Wann würde das neue Asylrecht im Fall einer Einigung greifen?

Nach einer Einigung der Mitgliedstaaten müssen EU-Parlament und Rat sich noch verständigen. Wir wollen so schnell wie möglich spürbare Veränderungen.

Flüchtlingspolitik sei laut Faeser kein Grund für Erstarken der AfD

Strittig bleibt die Finanzierung der Flüchtlingskosten im Inland. Die Länder fordern eine zunehmende Beteiligung des Bundes. Wo stehen Sie da, als Bundesinnenministerin einerseits und Anwärterin auf das Amt der hessischen Ministerpräsidentin andererseits?

Ich glaube, der Grundsatz, auf den sich der Kanzler mit den Ministerpräsidenten verständigt hat, ist vernünftig: ein atmendes System zu haben. Im Übrigen müssen Sie nach Geld schon den Finanzminister fragen.

Würden Sie sich wünschen, dass er da flexibler wird?

Was heißt flexibler? Es geht um Kosten, die entstehen und getragen werden müssen. Alle staatlichen Ebenen sind gemeinsam in der Pflicht. Und genau so handeln wir auch.

Manche Leute sagen, das aktuelle Erstarken der AfD habe auch mit der Flüchtlingspolitik zu tun.

Die AfD wird immer dann stark, wenn in der Mitte der Gesellschaft rechte Themen hochgepeitscht werden. Wer Angst und Wut schürt, der stärkt die AfD.

Ist das die einzige Ursache?

Es ist eine entscheidende. Eine weitere Ursache ist natürlich, dass wir in Krisenzeiten leben und manche sich nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen sehnen. So war die AfD vor der Corona-Pandemie schwach. Sie wurde durch die Impfdebatte und dann durch die Angst vor einer Energiekrise stärker. Bei alldem gibt es eine Gemeinsamkeit:

Die AfD hat keinerlei Antworten und Lösungen für Probleme, die den Menschen irgendwie weiterhelfen würden. Was der AfD außerdem hilft, ist Putins Propaganda-Maschinerie. In diesen Kreisen werden Putins Lügen besonders stark verbreitet.

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