Nelson Mandela im Interview"Wir sind alle befreit"

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Nelson Mandela hatte sich in den vergangenen zehn Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Wenn sich der ehemalige Staatschef Südafrikas doch hin und wieder in Debatten einschaltete, wie beispielsweise zu den Machtkämpfen in der Regierungspartei ANC, dann tat er das mit Videobotschaften. In den Jahren 2000 und 2001 empfing er in Johannesburg eine Gruppe internationaler Journalisten, darunter auch unser Autor Martin Scholz. In den Interviews sprach Mandela über jenen 11. Februar 1990, den Tag, an dem er das Victor-Vester-Gefängnis verließ, den Tag, der einen fundamentalen Wandel in Südafrika einleiten sollte. Er zeigte sich ungewöhnlich offen. Wir dokumentieren Auszüge der Interviews.

Noch am Tag ihrer Entlassung nach 27 Jahren Haft hielten Sie in einem Stadion in Soweto ein Rede vor 120 000 Menschen, mit der Sie schwarze wie weiße Südafrikaner für Ihre Politik der Versöhnung gewinnen wollten. Woher nahmen Sie die Kraft – nach all den Jahren der Unterdrückung?

Menschen, die wie ich so lange Zeit im Gefängnis saßen, wissen um die Bedeutung solcher besonderen Momente: Wenn du sie verstreichen lässt, sind sie weg – und sie kommen nicht wieder. Der Tag meiner Freilassung war so ein bedeutsamer Moment. Ich wollte etwas daraus machen, etwas sagen, was die Menschen bewegen, was von ihnen geachtet werden würde. Sehen Sie, ich war lange Zeit in einer Einzelzelle weggesperrt. Das gab mir ausreichend Gelegenheiten, mich immer wieder hinzusetzen und mich selbst aus der Distanz zu beobachten.

Was haben Sie dabei an sich entdeckt?

Ich saß da und sah meine Fehler, auch die schweren Fehler der Vergangenheit. Am Tag meiner Freilassung wollte ich daher diesen bedeutsamen Augenblick ergreifen und habe meinen Feinden die Hand gereicht. Ich bin auf jene Menschen zugegangen, die mich ein Leben lang verachtet hatten.

Das war für Sie selbstverständlich?

Ich konnte mir in diesem Augenblick nur zu gut vorstellen, dass sich meine ehemaligen Feinde jetzt, da sich ihre Situation grundlegend verändert hatte, einfach erbärmlich fühlen mussten. Ich habe daher auch später versucht, so oft wie möglich auf sie zuzugehen.

Was haben Sie konkret getan?

Ich lud sie beispielsweise zum Essen ein. Ich wollte, dass sie spüren: Wir haben die Vergangenheit hinter uns gelassen, wir denken jetzt über die Gegenwart nach und auch über die Zukunft.

Viele politische Beobachter hatten sich ein Ende des Apartheid-Regimes ohne Gewalt nicht vorstellen können…

Ich weiß, viele schrieben, politische Veränderung sei in Südafrika nur durch einen gewaltsamen Umsturz zu erreichen, am Ende würde das Land in Flüssen von Blut ertrinken. Sie sagten ein Desaster voraus, dessen Folgen noch Jahrzehnte später zu spüren wären. Nun, wir haben all diese düsteren Vorhersagen widerlegt. Wir haben es geschafft, einen friedvollen Wandel zu gewährleisten, während alle vom Krieg und vom Chaos sprachen. Man kann davon lernen. Auch wenn die Initiative für die Abschaffung der Apartheid von uns Schwarzen ausging, so war es doch eine kollektive Anstrengung, die Schwarze und Weiße vereinte. Ohne die Hilfe der Weißen hätten wir es nicht auf friedliche Weise geschafft.

Sie mussten in kürzester Zeit von Konfrontation auf Verständigung umschalten…

Ja, wir mussten uns zuerst einmal mit unseren widerstreitenden Gefühlen aussöhnen. In all den Jahren zuvor galt ja die Regel: Wir sprechen nicht mit dem Apartheid-Regime. Überhaupt an Gespräche mit den Weißen zu denken, galt als anstößig und widerwärtig. Aber die Mutigen unter uns sagten: Wenn wir nicht mit ihnen reden, wird dieses Land in Flammen aufgehen. Heute kennt die Welt das Ergebnis dieses Umdenkens. Man kann Versöhnung lernen. Euch Deutschen ist das mit der Wiedervereinigung auch gelungen. Ihr habt DDR und Bundesrepublik ohne Blutvergießen wieder zusammengebracht. Wobei ich in diesem Zusammenhang doch an Margot Honecker erinnern möchte, die heute in Chile lebt, wie ich höre, in ärmlichen Verhältnissen. Ich will mich jetzt nicht über Taktlosigkeiten auslassen, aber: Honecker war immerhin ein Staatschef und Margot Honecker die First Lady. Und ich weiß nicht, ob das den Entscheidungsträgern in Deutschland noch bewusst ist.

Ein Telefon klingelt. Mandelas Assistentin reicht es ihm. Er spricht: „Gut, deine Stimme zu hören. Wie es mir geht? Ich schlage mich so durch. Du weißt ja, wie das ist, ein alter Mann geht zu Bett, abends fühlt er sich noch frisch. Dann stehst du morgens wieder auf und merkst, wie dein alter Körper schmerzt. Aber hör mal, ich habe hier ein paar Journalisten sitzen, die wollen mir noch Fragen stellen. Alles Gute.“

Bischof Tutu hat das neue Südafrika als Regenbogennation bezeichnet, in der Menschen aller Hautfarben friedlich zusammenleben können. Wie nah sind Sie dieser Vision gekommen?

Wir sind befreit. Alle. Vor dem Ende der Apartheid waren ja selbst unsere Unterdrücker nicht frei.

Wie meinen Sie das?

Wenn sie im Ausland unterwegs waren, versuchten sie zu verschleiern, dass sie aus Südafrika kamen. Heute kann jeder sagen: Ich bin Südafrikaner. Ganz gleich, ob du schwarz oder weiß bist, ob du Afrikaans oder Englisch sprichst, oder ob du jüdischer Herkunft bist. Wenn du dich heute als Südafrikaner zu erkennen gibst, stehen dir die Türen der Welt weit offen.

Bei all der Anerkennung für den weitgehend gewaltfreien Übergang vom Apartheid-Regime zu einer Demokratie gab es zuletzt doch immer wieder Kritik über Missmanagement und Filz innerhalb der ANC-Regierung. Wie stehen Sie dazu?

Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass die Weißen jahrzehntelang die Regierungsgeschäfte bestimmt haben. Viele von ihnen genossen eine akademische Ausbildung, die Eltern schickten ihre Kinder auf gute Schulen, später konnten sie das Gelernte umsetzen. Unsere Kinder hatten diese Mittel nicht. Und die Generation von Schwarzen, die nach mir an die Regierung kam, hatte diese Möglichkeiten ebenfalls nicht. Die Schwarzen hatten keine Ausbildung, wie sie die Weißen hatten, und sie hatten erst recht keine Regierungserfahrung nach den Jahren der Apartheid. Und dennoch haben wir viele Veränderungen angeschoben. Wir haben Menschen in öffentliche Ämter gebracht, die das nicht gewohnt waren. Weil sie jahrelang eben nicht all jene Vorteile genießen konnten, wie die weiße Minderheit; und die daher auch keine Vorstellung von moralischem Handeln in der Öffentlichkeit hatten. Vieles in der Politik lief nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip. Ja, wir haben auf diesem Weg viele Fehler gemacht, viele Schwächen gezeigt. Aber jeder objektive politische Beobachter wird heute zugeben müssen, dass niemals zuvor eine Regierung in Südafrika das Leben der Mehrheit der Bevölkerung so fundamental verändert hat wie wir in den Jahren nach 1994.

Was sagen Sie zu den Korruptionsvorwürfen, mit denen ANC-Politikern häufig konfrontiert werden?

Seit der ANC an der Regierung ist, mussten wir erkennen, dass Korruption keine primäre Wesensart des Apartheidregimes war. Jetzt sind unsere eigenen Leute korrupt geworden. Wir haben darauf reagiert und eine Anti-Korruptionseinheit gebildet. Die früheren Regierungen haben solche Vergehen stets unter den Teppich gekehrt. Wir haben genau das Gegenteil gemacht.

Mit welchen Ergebnissen?

Wir wollen, dass die Südafrikaner wissen, was los ist, und dass eine Einheit dagegen etwas unternimmt, damit wir diese Leute vor Gericht stellen und verhaften können. Keine der vorherigen Regierungen – und nur wenige im Rest der Welt – hat je etwas Vergleichbares in diesem Land umgesetzt. Viele schwarze Südafrikaner waren ihr ganzes Leben lang sehr arm, sie haben nie mehr als dreißig Rand auf einmal besessen. Und jetzt müssen sie auf einmal mit großen Summern von Geld verantwortungsvoll umgehen. Aus diesem Kontext heraus lässt sich ein Teil der Korruption erklären, die wir vehement verurteilen. Wir haben Mitglieder des ANC und andere Amtsträger verhaftet, die sich der Korruption schuldig gemacht haben. Aber man muss aufpassen, wenn man Korruptionsvorwürfe auf ein Pauschalurteil reduziert. Wenn Sie sich die großen Zusammenhänge ansehen, werden Sie nicht bei dieser allgemeinen Schlussfolgerung bleiben, dass alles korrupt ist.

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