Neuer deutscher Botschafter in Russland„Ich höre praktisch nie ein unfreundliches Wort auf der Straße“

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Alexander Graf Lambsdorff guckt in die Kamera.

„Es gibt in Russland eine diffuse Friedenssehnsucht“, sagtAlexander Graf Lambsdorff.

Alexander Graf Lambsdorff erzählt im ausführlichen Interview, wie er die Unterschiede zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und der Bevölkerung erlebt.

Herr Lambsdorff, Sie sind seit vier Monaten Botschafter in Russland, in dem Land also, das die Ukraine attackiert und immer wieder auch Drohungen gegen Nato-Staaten richtet. Wie schwierig war der Start?

Es ist natürlich eine diplomatische Herausforderung, in ein Land zu kommen, das Krieg führt, wenn man als Botschafter eine Regierung vertritt, die diesen Krieg verurteilt. Das ist die politische Dimension. Auf der anderen Seite gibt es die professionelle Dimension. Da verhält sich die russische Seite uns gegenüber meistens korrekt. Es ist also ein gemischtes Bild, inhaltlich kompliziert, prozedural korrekt.

Für Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen, für Journalisten und andere ist die Arbeit in Russland schwieriger geworden. Sie können zu ausländischen Agenten erklärt und angeklagt werden. Werden Sie als Botschafter auch in Ihrer Arbeit eingeschränkt?

Als Diplomat genießt man den Schutz des Wiener Übereinkommens über Diplomatische Beziehungen. Daran hält sich die russische Regierung und wir haben keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Regeln gebrochen werden könnten, denn auch Moskau hat ja auf der ganzen Welt Diplomaten im Einsatz. Allerdings hat Russland die Zahl der Menschen, die bei deutschen Einrichtungen in Russland arbeiten dürfen, im Frühjahr 2023 auf 350 begrenzt. Das macht uns das Leben schon schwer, denn wir mussten drei Konsulate schließen und wie zum Beispiel auch das Goethe-Institut viele bewährte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen.

Wie geht es den Leuten vor Ort im zweiten Kriegswinter? Welchen Raum nimmt der Krieg ein in ihrem Leben?

Von den großen Städten wird der Krieg weitgehend ferngehalten und eine Illusion von Normalität aufrechterhalten. In Moskau wird zwar auf Plakaten um Freiwillige für die Armee geworben. Aber die Restaurants und Museen sind geöffnet, es gibt Ballett- und Opernvorstellungen. Der wichtigste Unterschied sind die Drohnenangriffe. Man ist nicht sicher, ob nachts etwas passiert. Regelmäßig müssen die Moskauer Flughäfen für ein paar Stunden schließen und es gibt auch Treffer in der Stadt. Das beeinträchtigt das Leben auch in der Hauptstadt.

Und wie sieht es auf dem Land aus?

Dort ist der Krieg in ganz anderer Weise gegenwärtig: Es gibt ebenfalls die Plakate mit Werbung für Dienst in den Streitkräften, aber mit konkreten Gehältern und Unterzeichnungsprämien. Wer sich verpflichtet, dem werden pro Monat 2.000 Euro versprochen – das ist deutlich mehr als der Mindestlohn von etwa 130 Euro. Ich war auf dem Land in einem kleinen historischen Museum. Im letzten Raum stand ein halbes Dutzend Fotos junger Männer aus dem Dorf, die alle im Angriffskrieg gegen die Ukraine umgekommen sind. Das habe ich in Moskau so bisher nicht gesehen.

Gibt es eine Militarisierung des Alltags?

Es gibt eine Militarisierung der Erziehung und es gibt Propaganda: Leuchtreklamen von gigantischem Ausmaß, 40 bis 50 Meter breit, wo alle legendären Feldherren Russlands nacheinander aufgezählt werden, von Alexander Newski aus dem 13. Jahrhundert bis Marschall Georgi Schukow aus dem Zweiten Weltkrieg. Davor steht jeweils: Russland ist das Land der Sieger. Und die Geschichtspolitik ist nicht nur ein innenpolitisches, sondern auch ein außenpolitisches Propagandainstrument.

Inwiefern?

Im neuen Geschichtsbuch wird behauptet, dass die deutsche Wiedervereinigung, an der ja die Sowjetunion entscheidenden Anteil hatte, gar keine Wiedervereinigung war, sondern eine Annexion Ostdeutschlands durch Westdeutschland. Mit der historischen Wahrheit hat das absolut gar nichts zu tun. Der damalige KpdSU-Chef Michail Gorbatschow hat mit US-Präsident George Bush ja entscheidend dazu beigetragen, dass die Wiedervereinigung friedlich und erfolgreich abgelaufen ist. Das war ein sehr positives Kapitel der deutsch-russischen Beziehungen. Umso bedauerlicher ist die Umdeutung.

Verfängt das bei den Leuten? Ist Deutschland ein Feindbild?

Offiziell wird uns vorgehalten, wir hätten die Beziehungen kaputt gemacht. Die Menschen sehen das nicht so. Ich höre praktisch nie ein unfreundliches Wort auf der Straße, im Café, auf dem Dorf. Im Gegenteil. Man begegnet Menschen, die sagen: Ach, Sie sind aus Deutschland, da würde ich so gerne mal hin. Eine Frau sagte mit Tränen in den Augen: „Thank you, Germany“. Sie hat viele Freunde, deren Kinder jetzt in Deutschland leben, weil sie nichts mit dem Krieg zu tun haben wollen. Und sie hat sich über unsere Aufnahmebereitschaft für diese Menschen gefreut.

Wie groß sind die Probleme deutscher Unternehmen?

Unternehmen aus den sanktionierten Bereichen haben das Land verlassen. Was aber erstaunlich ist, ist, dass auch bei Unternehmen, die in sanktionsfreien Bereichen tätig und in Russland geblieben sind, manchmal versucht wird, die Eigentumsverhältnisse zu ändern. Wenn die Investitionsbedingungen so unsicher bleiben, wird auf Jahrzehnte kein ausländisches Unternehmen mehr in Russland investieren.

Putin hat in seiner vierstündigen TV-Bürgersprechstunde vor einer Woche beteuert, Russland gehe es wirtschaftlich blendend. Stimmt das?

Glaubt man den sogenannten Hauptindikatoren - also Staatsverschuldung, Leistungsbilanz, Arbeitslosigkeit – mag es gar nicht so schlecht aussehen. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich aber ein gemischtes Bild. Der Rubel hat in einem Jahr 20 Prozent seines Werts verloren, die Inflation ist hoch und die Zentralbank hat gerade erneut den Leitzins angehoben - auf inzwischen 16 Prozent. Wenn die Kapitalkosten so hoch sind, macht das Investitionen auch für russische Unternehmen fast unmöglich.

Und dann sind da noch die Eierpreise.

Eine erstaunliche Geschichte. Eier sind fast 50 Prozent teurer geworden. Das führte dazu, dass in manchen Regionen Eier einzeln verkauft oder die Abgabemenge begrenzt wurde. Das hebt die russische Wirtschaft natürlich nicht aus den Angeln, aber es gibt einen Hinweis darauf, wie stark die Inflation die Menschen belastet.

Da ist man dann gleich bei der Durchhaltefähigkeit Russlands – die ist ja auch die Frage im Krieg gegen die Ukraine.

Russland verfügt traditionell über einen starken Rüstungssektor und steckt da einen großen Teil des Haushalts rein. Andererseits gibt es in zahlreichen Branchen einen spürbaren Fachkräftemangel, der dadurch weiter verschärft wird, dass die Rüstungsindustrie jetzt noch mehr Arbeitskräfte absorbiert.

Wenn nach der Wahl nächsten Herbst wieder die Republikaner den US-Präsidenten stellen sollten, dürften die USA als größter Geldgeber wegfallen.

Die Biden-Administration steht voll und ganz hinter der Ukraine. Und über den Ausgang der US-Wahlen werde ich als Deutscher Botschafter in Russland nicht spekulieren.

Auch in Russland wird gewählt, im kommenden März. Wie groß sind Putins Chancen auf Wiederwahl?

Sowohl die Europawahl im Juni als auch die amerikanische Wahl im November versprechen eine gewisse Spannung. Die kann ich in Russland bisher nicht erkennen.

Sehen Sie irgendwelche Bruchlinien im System Putin?

Nein, derzeit nicht.

Regelmäßig gibt es Spekulation um Putins Gesundheit. Wie fit ist er?

Das kann ich natürlich nicht beurteilen und ich bin auch kein Freund von Ferndiagnosen. Aber als ich ihm mein Beglaubigungsschreiben übergeben habe, konnte ich keinerlei Hinweis darauf erkennen, dass es ihm nicht gut gehen könnte. Gerade hat er zudem eine Live-Sendung von über vier Stunden mit Fragen und Antworten durchgehalten.

Das heißt, man muss weiter mit Putin rechnen und zurechtkommen. Haben Sie eine Idee, wie das besser gelingen kann als bisher?

Wir sind in fundamentalen Fragen völlig unterschiedlicher Auffassung. Das aktuelle russische Gesellschaftsmodell steht im Gegensatz zu unseren Werten, also Liberalität, Toleranz und vor allem friedliche Konfliktbeilegung. Russland ist und bleibt aber nun mal das flächenmäßig größte Land der Erde, hat einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und ist direkter Nachbar der EU. Wir müssen also mit Russland umgehen. Und unser erstes Ziel muss sein, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine möglichst schnell beendet wird, dass es gelingt, dort einen dauerhaften Frieden auf Grundlage des Völkerrechts zu schaffen, damit das Leid der Ukrainer ein Ende hat. Putin kann diesen Krieg ja von heute auf morgen beenden.

Gerade hat die EU das zwölfte Sanktionspaket gegen Russland beschlossen. Ist das der richtige Weg? Manche sagen, die Sanktionen wirkten doch ohnehin nicht.

Diese Haltung beruht auf einem Missverständnis. Sanktionen sind kein Lichtschalter. Man knipst nicht eine Sanktion an und ändert damit im selben Moment das Verhalten der sanktionierten Seite. Sanktionen sind dazu da, die Kosten für ein bestimmtes Verhalten in die Höhe zu treiben. Und das passiert nachweislich.

Haben Sie eine Idee, wie man den Ukrainekrieg lösen kann?

Natürlich gibt es Ideen. Aber die Entscheidung darüber, unter welchen Umständen Verhandlungen begonnen werden, wird in Kiew getroffen. Unsere Position als Bundesregierung ist klar: Die Ukraine ist ein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen in international anerkannten Grenzen und sie hat den Anspruch darauf, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen. Über weitere Ideen und Szenarien zu spekulieren, verbietet sich. Putin hat gerade noch einmal seine Kriegsziele bekräftigt, er ist überhaupt nicht verhandlungsbereit.

Gehen Sie davon aus, dass Putin seine Haltung ändert, vielleicht sogar abschwächt, wenn er im März wieder gewählt wurde?

Darauf gibt es keinen Hinweis.

Sehen Sie Kriegsmüdigkeit in der russischen Bevölkerung?

Kriegsmüdigkeit gibt es bei Familien, die Soldaten an der Front haben. In der normalen Bevölkerung gibt es eher eine diffuse Friedenssehnsucht. Umfragen zeigen, dass der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität sehr stark ist. Viele stören sich an der Inflation und den wegen der Sanktionen eingeschränkten Reisemöglichkeiten.

Putin stößt immer wieder Drohungen gegenüber den baltischen Staaten aus. Wie unsicher ist deren Lage?

Wir müssen wachsam bleiben. Die Stärkung der NATO-Ostflanke, auch mit einer Bundeswehr-Brigade in Litauen, ist ein wirklich starkes Signal. Es zeigt, dass wir dafür sorgen werden, dass NATO-Territorium verteidigt wird.

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