„Für Selfies ist später noch Zeit“Selenskyj stichelt gegen „erfolglosen“ Putin – und den eigenen Armeechef

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19.12.2023, Ukraine, Kiew: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während seiner Jahresend-Pressekonferenz. Foto: Efrem Lukatsky/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während seiner Jahresend-Pressekonferenz.

Bei einer Pressekonferenz werden Risse zwischen Präsident und Armeechef Saluschnyj deutlich. Auch Putin kommentiert den Kriegsverlauf.

Knapp zwei Jahre nach Russlands Einmarsch in die Ukraine haben die Staatschefs beider Länder in dem Krieg jeweils Erfolge für sich reklamiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verwies am Dienstag bei seiner großen Pressekonferenz zum Jahresende auf abgewehrte Angriffe entlang der Front. „Russland hat in diesem Jahr keine Erfolge erzielt“, sagte Selenskyj in Kiew. Das ostukrainische Gebiet Donezk zum Beispiel habe Moskau weiter nicht komplett erobern können. Stattdessen habe die Ukraine die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer weitgehend wieder hergestellt.

Spannungen zwischen Selenskyj und seinem Armeechef

Die Ukraine halte an ihren Zielen fest, versicherte Selenskyj zudem. Alle von Russland besetzten Gebiete sollen befreit werden. „Wir brauchen kraftvolle Schritte und Ergebnisse, das ist alles“, so der ukrainische Präsident. Dafür habe die Armeeführung die Mobilisierung von bis zu 500.000 weiteren Soldaten angefragt, erklärte Selenskyj, verlangte von Armeechef Walerij Saluschnyj jedoch konkretere Angaben über den Einsatz dieser Truppen.

„Ich brauche dafür mehr Argumente“, erklärte Selenskyj. Zuletzt hatte es immer wieder Spannungen zwischen dem Präsidenten und seinem Armeechef gegeben. Eine Absetzung Saluschnyjs stand bereits im Raum. Am Dienstag wich Selenskyj dementsprechenden Fragen aus, kritisierte aber, dass Saluschnyj zu viel Zeit in sozialen Netzwerken verbringe. „Für Selfies ist später noch Zeit“, erklärte er.

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Fernduell zwischen Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj

Einige Stunden zuvor hatte sich Kremlchef Wladimir Putin vor Vertretern seines Verteidigungsministeriums zufrieden mit dem Kriegsverlauf gezeigt. Als Erfolg präsentierte er dann aber vor allem, dass es dem Westen nicht gelungen sei, Russland eine strategische Niederlage in der Ukraine zuzufügen.

Das Ziel sei zerschmettert worden durch die „wachsende Kraft unserer Streitkräfte und Rüstungsproduktion“, sagte Putin vor Militärs und Vertretern aus Politik, Kirche und Gesellschaft. Beim Krieg gegen die Ukraine „kann man mit Überzeugung sagen, dass die Initiative aufseiten unserer Streitkräfte liegt“, behauptete der Kremlchef.

Putin geht auf russische Verluste nicht ein

Putin, der den Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 befohlen hat, warf zudem einmal mehr den USA vor, den Konflikt in der Ukraine bis zu einem Krieg getrieben zu haben. Es sei dem Westen stets nur darum gegangen, das Land als Instrument zur Zerstörung Russlands zu benutzen, behauptete er. Zugleich räumte er ein, dass der Krieg gegen die Ukraine Probleme in der russischen Verteidigung aufgezeigt habe. Auf die hohen Verluste der eigenen Streitkräfte ging Putin erneut nicht ein. 

Die Ukraine gibt die Zahl der Verluste in den russischen Reihen aktuell mit 348.000 Soldaten an. Unabhängig überprüfen lässt sich die Angabe nicht. Sowohl Großbritannien als auch die USA halten die Zahl jedoch für plausibel. Offizielle Zahlen über ihre eigenen Verluste gibt keine der beiden Kriegsparteien bekannt. Moskau spricht stets von enormen Verlusten auf ukrainischer Seite. 

Ukrainische Armee will bis zu 500.000 Soldaten mobilisieren

Die Zahl der Freiwilligen in Diensten der russischen Armee soll im kommenden Jahr unterdessen um mehr als 250.000 auf rund 745.000 Vertragssoldaten steigen, kündigte das Verteidigungsministerium in Moskau an.

Für die Ukraine wiederum ist die Mobilisierung neuer Soldaten nach Worten von Selenskyj eine teure und politisch heikle Frage. „Die Frage der Mobilisierung ist eine sehr sensible“, sagte Selenskyj.

Kiew will Drohnenproduktion auf eine Million Stück steigern

Eine zusätzliche Mobilmachung in diesem Umfang erfordere etwa 500 Milliarden Hrywnja (12,2 Milliarden Euro). Für ihn sei es zudem wichtig, wer von den bisher kämpfenden Soldaten dann ein Recht auf Erholung und Heimaturlaub bekomme. Es werde ein komplexer Plan ausgearbeitet für diese Rotation.

In der rund zweistündigen Pressekonferenz kündigte Selenskyj zudem an, dass die Ukraine ihre militärische Produktion steigern wolle. Rund eine Million Drohnen sollen demnach 2024 in dem Land produziert werden. 

Selenskyj: „Ich bin überzeugt, dass die USA uns nicht verraten werden“

Zudem zeigte sich Selenskyj zuversichtlich, dass sein Land ungeachtet aktuell stockender westlicher Hilfen künftig sowohl von den USA als auch von der EU weiter unterstützt werde. „Ich bin überzeugt davon, dass die USA uns nicht verraten werden“, sagte er. Auch mit Blick auf ein derzeit von Ungarn blockiertes EU-Finanzpaket in Höhe von 50 Milliarden Euro zeigte sich der Staatschef optimistisch: „Es werden sich Mittel finden, diese 50 Milliarden zu erhalten.“

Eine Einschränkung machte Selenskyj allerdings mit Blick auf die Wahlen in den USA – und eine mögliche Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. Der Republikaner werde „definitiv eine andere Politik verfolgen“, erklärte Selenskyj. Sollte Trump dann eine „kältere und sparsamere“ Strategie verfolgen, würde das einen großen Einfluss auf den Kriegsverlauf haben, räumte Selenskyj ein. 

Ukraine auf westliche Unterstützung angewiesen

Die Ukraine ist bei der Verteidigung gegen die russische Invasion zu großen Teilen auf die Militär- und Finanzhilfe westlicher Partner angewiesen. Als wichtigster Verbündeter gelten die USA und Deutschland.

Aus Kiewer Sicht ist es deshalb äußerst besorgniserregend, dass die Freigabe weiterer Mittel durch das US-Parlament derzeit durch einen Streit zwischen Republikanern und Demokraten blockiert wird.

Russlands Armee hält derzeit rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets besetzt. Die ukrainische Gegenoffensive blieb überwiegend erfolglos. Auch die russischen Truppen sind jedoch weit hinter den Kriegszielen des Kremls zurückgeblieben und haben Experten zufolge massive Verluste erlitten. Zuletzt starben in der andauernden Schlacht um die ostukrainische Stadt Awdijiwka ukrainischen Angaben zufolge Zehntausende russische Soldaten. (mit dpa)

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