Holocaust-Überlebende zu aktuellen KriegenSie floh vor Nazis – und hat jetzt ein Déjà-vu

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Klava Leybova ist umringt von Schülerinnen und Schülern zu sehen.

Klava Leybova mit Schülern während einer Biografie-Werkstatt in der Gesamtschule Bergheim im Jahr 2020.

Klava Leybova ist Jüdin aus dem Rheinland. Im Zweiten Weltkrieg floh sie aus Kiew. Die aktuellen Konflikte machen aus ihr „wieder ein Kriegskind“.

Sie hat sich gerade auf ihre Couch gesetzt, der Blick aus dem 12. Stock geht auf eine Plattenbausiedlung in Ratingen, da platzt es aus ihr heraus: „Ich habe Angst, zu hassen“, Klava Leybova spricht ganz klar, „und das macht mich krank. Ich weiß, dass Hass keinen Boden hat – und dass ich mich dann nicht mehr von all den Nationalisten und Faschisten unterscheide, die sich von Hass ernähren.“

Eine kleine Frau mit großen wachen Augen

Doch es sei schwer, Putin gerade nicht den Tod zu wünschen und die Menschen nicht zu verdammen, die auf Straßen hier in Deutschland auf Plakaten von einem israelischen Holocaust schreien. Sie schlafe schlecht und sei verzweifelt. „Wie unterscheide ich mich von denen, die ihre Menschlichkeit verloren haben?“ Diese Frage treibt sie um.

Ich habe Angst, zu hassen. Wie unterscheide ich mich von denen, die ihre Menschlichkeit verloren haben?
Klava Leybova (85)

Die 85-jährige Klava Leybova ist eine kleine Frau mit großen, wachen Augen. Sie war drei, als die deutsche Wehrmacht 1941 Kiew überfiel und sie mit ihrer jüdischen Familie in die Nähe von Stalingrad floh – ein paar Wochen später erschossen die Nazis in der Schlucht von Babyn Jar mehr als 33.000 Juden. Es war der Beginn des systematischen Genozids gegen die europäischen Juden. Leybovas Familie hatte Kiew wenige Tage zuvor verlassen, als alle Juden zu einer Sammelstelle in der Innenstadt gehen sollten – vorgeblich, um umgesiedelt zu werden.

Klava Leybovas Großmutter starb an den Folgen eines Sturzes auf der Flucht, ihr Vater fiel als Soldat für die Rote Armee, viele Verwandte aus der Familie ihres Vaters wurden in Konzentrationslagern ermordet. Sie selbst habe sich schon als kleines Mädchen nicht gefallen lassen, wenn Kinder sie als Jüdin beschimpft hätten: „Ich bin dann sehr wütend geworden und habe mich auch mit Jungs geprügelt“, sagt sie. Die Wut kennt sie, seit sie zurückdenken kann.

Klava Leybova bei einem Biografie-Projekt an der Gesamtschule in Bergheim

Klava Leybova geht an Schulen, um ihre Geschichte zu erzählen.

Leybova erzählt Kindern an Schulen im Rahmen ihrer Arbeit für den „Kölner Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte“ über ihr Leben. Fragen die Kinder nach Geschichten aus der Kindheit, erzählt Leybova, wie nach dem Sieg der Russen in Stalingrad ein ausgehungerter Soldat, der für Hitlers Truppen gekämpft hatte, an ihrer Hütte vorbeigekommen sei: „Er stellte sich als gelernter Schneider vor und wollte einen Ring eintauschen gegen ein Stück Brot. Meine Mutter hat sich geweigert, den Ring anzunehmen, ihn angeschrien, dass er wahrscheinlich ihre Schwester ermordet habe, ihm aber aus Mitleid doch ein Stück Brot gegeben. Am Ende des Winters hat meine Mutter eine große Schere im Feuerholz-Stapel gefunden – der Mann hatte sie als Geschenk dagelassen.“

Die Schere nahm Klava Leybova schließlich auch mit, als sie mit ihrem Mann nach Deutschland immigrierte – ins Land der Täter, aus dem womöglich auch die Schere kam.

Den Flughafen, den die Russen 2022 angriffen, kennt Leybova von ihrer Arbeit für ein Flugzeug-Unternehmen

So wie es im Krieg auch Momente der Menschlichkeit gab, so endeten Antisemitismus und Rassismus nicht nach dem Krieg. Als Leybova nach dem Studium beim Flugzeugbau-Unternehmen Antonow zu arbeiten begann, habe sie auf die Frage nach ihrer Nationalität selbstverständlich gesagt: „Ich bin Jüdin!“ – „Sie sind mutig“, habe eine Kollegin erwidert. „Warum?“, habe sie gefragt. Da habe die Kollegin zu Boden geguckt. „Jeder wusste, dass Juden weiterhin stigmatisiert wurden.“

Am 24. Februar 2022 landeten russische Fallschirmjäger auf dem Antonow-Flughafen, auf dem Leybova jahrzehntelang ein und aus gegangen war. Die Infrastruktur des Flughafens wurde stark beschädigt. „Die Russen feuern jetzt auch Raketen auf uns, die in der Ukraine hergestellt worden sind“, sagt Leybova. „Ich verstehe das alles nicht.“ Ende Februar 2022 trafen zwei russische Raketen auch ein Gebäude in unmittelbarer Nähe der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar. „Es ist wie vor 80 Jahren: Die Menschen haben wieder vergessen, dass sie Menschen sind“, sagt Klava Leybova.

Deutsche? Ukrainerin? Nein, ich würde mich immer als Jüdin bezeichnen
Klava Leybova

Mit 60 kam sie mit ihrem Mann nach Deutschland. Weil ihr Mann sehr krank war, sie als jüdische Kontingentflüchtlinge hier eine kleine Rente erhielten, die medizinische Versorgung besser war als in der Ukraine – und auch, weil Klava Leybova überzeugt war, „dass Deutschland auf wundersame Weise seine Geschichte aufgearbeitet hatte“. Längst ist sie deutsche Staatsbürgerin. Aber ist sie auch Deutsche? Oder Ukrainerin? „Nein, ich würde mich immer als Jüdin bezeichnen.“

Nur selten sei sie hierzulande offenem Antisemitismus begegnet. „Und wenn, dann war es meistens von russischen Spätaussiedlern.“ Sie kenne einige Spätaussiedler, die mit der AfD sympathisierten. Und hoffe, „dass bei der Mehrheit der Deutschen so viel Gehirn da ist, dass diese Partei nie an die Macht kommt“. Die AfD stehe wie Putin für „Menschenverachtung“. Allein die Nähe der AfD zu Russland, die Ähnlichkeit der Rhetorik, das Sympathisieren mit dem Diktator, der Menschen als Kanonenfutter missbrauche, „müsste eigentlich den meisten einleuchten“. Tue es nur leider nicht.

Große Angst vor Drittem Weltkrieg

Vielleicht sollten die Menschen in Deutschland ja doch mal russische Staatsmedien schauen, räsoniert sie. Da werde ja seit zehn Jahren durchdekliniert, was Russland wolle. „Putin wird weitergehen, wenn er die Ukraine einnehmen kann. Er ist eine Gefahr für ganz Europa, für die ganze Welt.“ Sie habe „große Angst vor einem Dritten Weltkrieg“.

80 Jahre nach Leybovas Flucht aus Kiew hat Russland die Ukraine überfallen und die Hamas israelische Zivilisten. Leybova hat für kurze Zeit in Israel gelebt, ihre Mutter war mit dem Klima nicht klargekommen und zurück in die Ukraine gegangen. Die 85-Jährige hat viele Verwandte in Israel und telefoniert oft mit ihnen. In Deutschland haben jüdische Menschen wieder Angst. Es werden Davidsterne auf Häuser geschmiert, in denen Juden leben, israelische Flaggen werden verbrannt. Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt enorm. „Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es noch einmal soweit kommt“, sagt Leybova. „Und in Israel haben die Menschen auch Angst.“

Sie wolle nicht darüber sprechen, was sie genau fühle – das ginge ihr zu weit, sagt sie, „da müssten sie Dr. Freud fragen“. Nur so viel: Es sei „alles wieder da, ich bin wieder ein Kriegskind“. 

Das Gute siegt nicht immer, oft siegt das Böse. Aber wenn ich nicht sage, das Gute kann sich durchsetzen, dann kann ich nicht mehr leben
Klava Leybova

Vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine sei es ihr einerlei gewesen, dass viele ihrer Bekannten sich über russische Staatssender informierten – in denen natürlich auch vor zehn Jahren schon über den vermeintlichen ukrainischen Faschismus und die Rückkehr eines großen russischen Reichs schwadroniert wurde. Jetzt fasst sie auch das an. „Ich werde jetzt manchmal aggressiv, wenn ich mit Menschen aus Russland spreche“, sagt sie. Und ahne dabei, dass sie ihre Aggressionen mit ihrer mentalen Gesundheit bezahle. Was also tun, um nicht ins Bodenlose zu fallen?

Sie versuche, „Hoffnung zu kultivieren“: mit Freunden zu sprechen, Geschichten zu lesen, die von Menschlichkeit erzählen. Sie versuche, Tag für Tag in der Begegnung mit anderen ein guter Mensch zu bleiben. Klava Leybova sagt: „Das Gute siegt nicht immer, oft siegt das Böse. Aber wenn ich nicht sage, das Gute kann sich durchsetzen, und ich will für das Gute stehen, dann kann ich nicht mehr leben.“

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