Mehr Plätze zum Sporttreiben, sichere Bahnhöfe, aber auch Klimaschutz und Bildung für alle - was sich junge Menschen wünschen, gerät im demografischen Wandel in den Hintergrund. Ein Interview zum Kinder- und Jugendhilfetag.
Krefelder JugendamtsleiterBei der Bildung der Jugend entscheidet sich die Zukunft der Demokratie

Kinder und Jugendliche sind in der Gesellschaft eine Minderheit. Wie kann man ihre Interessen schützen?
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Herr Schön, derzeit findet der Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag statt. Eine der Forderungen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) ist die Stärkung der Demokratie. Sehen Sie die Teilhabe junger Menschen in Gefahr?
Ich mache mir Sorgen, ja. Schon bei der zurückliegenden Bundestagswahl waren mehr als 40 Prozent aller Wählerinnen und Wähler 60 Jahre und älter. In Zukunft werden die jungen Menschen immer mehr zu einer Minderheit ohne Schutz. Es muss der Politik deshalb dringend gelingen, sich mehr um die Themen künftiger Generationen zu kümmern und ihre Interessen sichtbar zu machen.
Sie sind Stadtdirektor und Jugenddezernent in Krefeld - einer „kinderfreundlichen Kommune“. Können Sie ein Beispiel nennen, wie das gelingen kann?
Ende vergangenen Jahres sind wir zu einer kinderfreundlichen Kommune geworden - jetzt müssen wir diese Auszeichnung mit Leben füllen. Das bedeutet bei weitem nicht nur, dass wir Kinder an der Planung von Spielplätzen beteiligen. Viele denken, damit wäre es getan. Aber es geht um mehr: Wir wollen Kinder- und Jugendliche selbst zu Wort kommen lassen und sie beispielsweise stärker in Fragen der gesamten Stadtentwicklung einbinden. Da gibt es auch Widerstand. Aber ich sage: Diese Pläne sind auf Jahrzehnte ausgerichtet und betreffen die Jugendlichen von heute deshalb zentral.
Was wünschen sich die sich denn?
In unserer Jugendbefragung wurde deutlich, dass sie beispielsweise Bewegungsflächen oder Flächen zum Verweilen vermissen. Flächen für den nicht-organisierten Sport sind da zum Beispiel ganz zentral. Aber die jungen Menschen bewegen auch Fragen zur Sicherheit. Es ist kein Geheimnis, dass auch in Krefeld rund um den Hauptbahnhof viele Drogen im Umlauf sind. Das macht Kindern Angst. Und sie sagen zu Recht: Gerade für uns, die ja nicht Auto fahren können, ist es zentral, dass Orte des öffentlichen Verkehrs sicher sind.

Markus Schön ist Jugendamtsleiter in Krefeld: „Wenn wir als Staat nicht mehr leistungsfähig sind, bekommen wir einen Denkzettel – auch und gerade von den jungen Menschen.“
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Aber Orte zum Niederlassen und Sicherheit wünschen sich ältere Menschen ja auch. Sind die Generationen am Ende gar nicht so weit voneinander entfernt?
Ja, viele Themen decken sich. Aber denken Sie beispielsweise an das Thema Klimaschutz, da haben wir schon unterschiedliche Dringlichkeiten. Junge Menschen sehen den Klimawandel viel stärker als Bedrohung, während ältere Menschen das mehr von sich wegschieben können. Das hat die Gesellschaft in den vergangenen Jahren ja auch polarisiert. Die Jungen haben aber recht, denn der Klimawandel existiert. Bloß weil manche gerade nicht mehr so gut auf die Grünen zu sprechen sind, wie noch vor einigen Jahren, ist das Problem ja nicht gelöst. Und die jungen Menschen dürfen damit nicht alleingelassen werden, auch wenn die Mehrheit der Wähler meint, dem Thema nicht die allerhöchste Priorität einräumen zu müssen.
„Gucken Sie sich Städte wie Gelsenkirchen an. Dort hat man aus Geldmangel Schwimmbäder geschlossen“
Welche Auswirkungen hat es denn, wenn man die Jugend abhängt?
Das sehen wir in einigen Kommunen ganz deutlich. Die Menschen wenden sich vom System und vom Staat ab, weil sie kein Vertrauen mehr haben. Wenn wir nicht mehr in die Jugend und vor allem in die Bildung investieren, wird sich darüber die Zukunft der Demokratie entscheiden. Gucken Sie sich Städte wie Gelsenkirchen oder Kaiserslautern an. Dort hat man aus Geldmangel Schwimmbäder und Theater geschlossen. Die Quittung war, dass viele Menschen beispielsweise die AfD gewählt haben. Wenn wir als Staat nicht mehr leistungsfähig sind, bekommen wir einen Denkzettel – auch und gerade von den jungen Menschen.
Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe kritisiert, dass die Kindergrundsicherung im Koalitionsvertrag nicht enthalten ist. Würde das den Kindern helfen?
Ich sehe das etwas anders. Die Kindergrundsicherung ist gescheitert, weil sie ein Bürokratiemonster zu werden drohte. Das kann nicht unser Ziel sein. Besser wäre, wenn die Kommunen ordentlich Geld für die Regelstrukturen bekämen. Damit wir als Stadt nicht dauernd darüber nachdenken müssen, ob wir den Kindern ein kostenloses Mittagessen geben können oder ob uns das finanziell ruiniert. Und es muss auch drin sein, dass jedes Kind, das Förderung on top braucht, eben Förderung bekommt.
Bedürftigkeit könnte man doch sehr einfach, beispielsweise über eine App belegen. Wer Kunde beim Jobcenter oder bei der Wohngeldstelle ist, kriegt den Zugang und das Kind kann dann kostenlos in den Sportverein oder beim Nachhilfeprogramm teilnehmen. Fertig. Da braucht es doch nicht für alles einen extra Antrag, einen extra Nachweis.
Die Interessen der Kinder geraten politisch in den Hintergrund, andererseits wird gefühlt auch viel mehr Gewese um den Nachwuchs gemacht als früher. Ist das nicht ein Widerspruch?
Die Pädagogik hat sich weiterentwickelt, sicher. Und dadurch haben sich die Standards erhöht. Das ist einerseits begrüßenswert, andererseits verhindern diese gut gemeinten Anforderungen auch viel. Ich will ein Beispiel geben: Wenn wir heute eine Kita bauen wollen, dann haben wir die Auflage, dass wir zehn Quadratmeter Freifläche im Freien pro Kind einplanen müssen. Bei einer Kita für hundert Kinder macht das 1000 Quadratmeter Außenfläche. Solche Grundstücke haben wir aber ja gar nicht überall. Die Folge ist, dass wir in Vierteln, wo viele ärmere Familien leben, in Krefeld ist das die Innenstadt, nicht genügend Kitas bauen können. Dabei wäre eine Kita mit etwas weniger Außenfläche doch immerhin besser als gar keine Kita.
Auch das Thema Armut trifft verstärkt Kinder. Welche Möglichkeiten haben die Kommunen da gegenzusteuern?
In Krefeld lebt jedes vierte Kind in Armut, in manchen Straßenzügen der Innenstadt ist gar jedes zweite Kind betroffen. Für Deutschland, immerhin eines der reichsten Länder der Welt, ist das ein Armutszeugnis. Wir als Kommune können einige Angebote machen, zum Beispiel Ferienfreizeiten für Kinder aus armen Familien. Wir arbeiten beim Thema Kinderarmut mit dem Kinderschutzbund zusammen und anderen freien Trägern und Wohlfahrtsverbänden. Unser Schulpsychologischer Dienst hat eine Lernwerkstatt gegründet, die kostenlos Lernförderung für Kinder anbietet, deren Eltern sich die kommerziellen Nachhilfeangebote nicht leisten können.
„Die Kommunen brauchen genug Geld, damit wir nicht dauernd darüber nachdenken müssen, ob wir den Kindern ein kostenloses Mittagessen geben können“
Aber die Kommunen sind in ihrem Handlungsspielraum sehr eingeschränkt; da müssen Land und Bund helfen. Wir brauchen vor allem eine bessere Bildungspolitik. Ich plädiere auch für Strategien aus einer Hand. Niemand versteht, warum Kita und Schule unabhängig voneinander agieren. Die Jugendämter stecken viel Geld in Kitas, wenn die Kinder in die Schule kommen, sind sie aber nur noch für die Nachmittagsbetreuung und die Inklusion zuständig. Das ist doch nicht effizient. Wir brauchen den Mut, Bildungsbiografien von der Kita bis zum Berufsabschluss zu denken. Etwas Hoffnung schöpfe ich daraus, dass es ein neues Bundesministerium gibt, das nun Bildung, Jugend und Familie vereint.
Kann die Kommune da mit gutem Beispiel vorangehen?
Wir haben in Krefeld nun ein Haus der Bildung gebaut. Darin gibt es eine Kita und eine Grundschule unter dem gemeinsamen Dach eines Familienzentrums. Ziel ist, dass die Kinder bis sie zehn Jahre alt sind, Bildung aus einem Guss bekommen. Also ohne den Bruch von der Kita zur Grundschule. Hätten wir so etwas bundesweit, ergäbe das ganz andere Chancen in den Bildungskarrieren – davon bin ich überzeugt. Denn nur gute Bildung bis zur Integration in den Arbeitsmarkt kann die Armutsspirale durchbrechen.