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KarlspreisWarum die Aachener einem der ersten Geehrten aus Protest den Rücken kehrten

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Die Medaille für den Internationalen Karlspreis des Jahres 2023. In Aachen wird an Himmelfahrt der Karlspreis 2025 an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verliehen.

Die Medaille für den Internationalen Karlspreis des Jahres 2023. In Aachen wird an Himmelfahrt der Karlspreis 2025 an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verliehen. 

Jürgen Linden ruft seit mehr als 35 Jahren diejenigen Kandidaten an, die mit dem Karlspreis gewürdigt werden sollen. Diesmal war Ursula von der Leyen (CDU) am Telefon.

Als die schwarze Limousine von Winston Churchill die breite Straße Richtung Markt rollt, säumen schweigende Aachener die Straße. Dem ehemaligen britischen Premierminister drehen die Menschen ihre Rücken zu. Jürgen Linden war damals 1956 zur sechsten Karlspreisverleihung neun Jahre alt und mit seinen Eltern in der Stadt unterwegs. Er hatte keine Ahnung, worum es ging, aber an den eiskalten Protest gegen den Preisträger kann er sich noch heute gut erinnern. „Man mag mich nicht“, soll der 82-jährige Churchill damals zu seiner Frau gesagt haben, diese erwiderte, so ist es überliefert: „Wundert dich das, Darling?“

„Man nahm den Engländern die Bombardements zum Kriegsende damals übel, außerdem Churchills Bestreben, dass die Integration Europas am Eisernen Vorhang nicht haltmachen dürfe, sondern auch die osteuropäischen Staaten und selbst die Sowjetunion mit einbeziehen müsse“, sagt Jürgen Linden fast sieben Jahrzehnte später im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Auf der Gravur von Churchills Medaille spielt dann auch eine gewisse Strenge eine Rolle: „Hüter menschlicher Freiheit – Mahner der europäischen Jugend.“ Seit 75 Jahren wird der Aachener Karlspreis an Christi Himmelfahrt verliehen. 

Die Churchills auf der Rückbank im Wagen: Sie winkt und lacht, er raucht Zigarre und hält ihren Muff.

Winston Churchill und seine Frau Clementine in der Limousine. „Man mag mich nicht“, soll der 82-jährige Churchill in Aachen zu seiner Frau gesagt haben, diese erwiderte, so ist es überliefert: „Wundert dich das, Darling?“

Linden ist Vorsitzender des Direktoriums Karlspreis und ruft seit 1989 denjenigen an, den das Gremium nach einer zweitägigen Klausursitzung für würdig hält, den europäischen Einheitspreis zu erhalten.

Robert Schuman hat den Preis zunächst abgelehnt

In diesem Jahr war am anderen Ende der Leitung die EU-Präsidentin Ursula von der Leyen. „Sie kam gerade aus dem Krankenhaus nach einer Lungenentzündung und konnte kaum sprechen“, erinnert sich Linden. Sie habe sich aber sehr gefreut. Mit Freude reagierten die Geehrten häufig, aber nicht immer. Robert Schuman, damaliger französischer Außenminister, lehnte die Auszeichnung 1951 beispielsweise zunächst sogar ab, erst sieben Jahre später, Schuman war inzwischen Präsident des Europäischen Parlaments, ließ er sich mit dem deutschen Preis ehren.

ARCHIV - 18.07.2024, Frankreich, Straßburg: Ursula von der Leyen (CDU), amtierende Präsidentin der Europäischen Kommission, reagiert nach ihrer Wahl im Plenarsaal des Europäischen Parlaments. In Aachen wird an Himmelfahrt der Internationale Karlspreis 2025 an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verliehen. (zu dpa: «75 Jahre Karlspreis - Auszeichnung für Ursula von der Leyen») Foto: Philipp von Ditfurth/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Ursula von der Leyen (CDU), amtierende Präsidentin der Europäischen Kommission, erhält den Internationalen Karlspreis 2025.

Wer den Bogen zu den Anfängen der vielleicht wichtigsten politischen Auszeichnung Europas zurückklettert, der erkennt, dass Geschichte oft in Wellen stattfindet, einige Vorzeichen sich immer wieder gleichen. „Zur ersten Verleihung 1950 lag Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Der Kalte Krieg begann und die Leute wünschten sich nichts als Ruhe, Existenzsicherung und Frieden. Auch heute geht es in Europa wieder um die Existenz, um die Bedrohung durch Krieg“, sagt Linden.

Václav Havel löste in Aachen große Euphorie aus

Die Liste der in Aachen Geehrten liest sich wie ein Who's who europäischer Persönlichkeiten: Konrad Adenauer war dabei, Helmut Kohl und François Mitterrand, Jacques Delors, Roman Herzog, Tony Blair, Valéry Giscard d’Estaing, Jean-Claude Juncker, Javier Solana ebenfalls. Und natürlich Angela Merkel, Donald Tusk, Emmanuel Macron.

14.05.2023, Nordrhein-Westfalen, Aachen: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (M) erhält den Karlspreis für Verdienste um die Einheit Europas von der Oberbürgermeisterin von Aachen Sibylle Keupen (r, parteilos) und Jürgen Linden, Vorsitzender der Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen. Foto: Federico Gambarini/dpa-Pool/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhält den Karlspreis für Verdienste um die Einheit Europas von der Oberbürgermeisterin von Aachen Sibylle Keupen und Jürgen Linden, Vorsitzender der Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen.

Einer von Lindens Lieblingspreisträgern kam 1991 nach Aachen: Václav Havel, Staatspräsident der damaligen Tschechoslowakei. „Er ertrug Schikane, Verhöre, er hat für seinen Kampf um die Freiheit gelitten. Ich habe selten solch eine Euphorie erlebt, wie er sie in Aachen ausgelöst hat.“ Damals, erinnert sich Linden, nach dem Fall der Mauer, habe man emotional derart positiv über Europa gesprochen, ein Europa in kontinentaler Gänze schien plötzlich greifbar. Goldene Jahre.

Papst Johannes Paul II. (Archivfoto vom 19.10.2003) wird der erste TrŠger des au§erordentlichen Aachener Karlspreises. Das teilte das Karlspreis-Direktorium am Donnerstag (22.01.2004) mit. Der Karlspreis gilt als einer der bedeutendsten europŠischen Auszeichnungen. Er wird seit 1950 fŸr Verdienste um die europŠische Einigung an Persšnlichkeiten und Institutionen verliehen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte soll die Auszeichnung als Sonderpreis verliehen werden. RegulŠrer PreistrŠger 2004 ist der EU-ParlamentsprŠsident Pat Cox. Foto: Filippo Monteforte dpa

Papst Johannes Paul II. war der erste Träger des außerordentlichen Aachener Karlspreises.

Und ein weiterer Höhepunkt für den früheren Oberbürgermeister. Schon die ganzen 90er Jahre hindurch hätte er gerne mal Papst Johannes Paul II. angerufen und ihm die frohe Botschaft übermittelt, sagt er. Aus der Kurie sei aber immer das Signal gedrungen: Der Papst nimmt keine Preise an. 2004 dann die Nachricht: „Ich sollte den Erzbischof anrufen, der erzählte davon, der Heilige Vater würde gerne sein Testament an die europäische Jugend verfassen.“ Ob eine Preisverleihung aufgrund des Alters auch in Rom denkbar sei? Linden und sein Karlspreis-Gremium waren gleich einverstanden. Und so erhielt Johannes Paul II. kurz vor seinem Tod 2004 noch die Medaille ehrenhalber.

Die Misere kam mit der Finanzkrise, „plötzlich hat man den Euro in Frage gestellt“, sagt Linden. Aber Europa, so habe einst Helmut Kohl (CDU) erklärt, sei aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen. Und auch heute spürt Linden diesen trotzigen Zusammenhalt im Zeichen der Bedrohung. „Das Bild der vier Europäer in Kiew hat mich sehr hoffnungsfroh gestimmt“, sagt Linden und spielt damit auf den kürzlichen Besuch von Bundeskanzler Friedrich Merz, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem britischen Premier Keir Starmer und dem polnischen Regierungschef Donald Tusk in der Ukraine an. „Schon 2017 hielt der Karlspreisträger Macron eine sehr gute Rede zum europäischen Aufbruch, doch die verhallte in Deutschland. Aber vielleicht mussten wir näher mit dem Rücken zur Wand stehen, um es zu verstehen“, sagt Linden.

(FILES) This file photo taken on October 10, 2017 shows French President Emmanuel Macron sitting in front of a flag of the European Union during an open debate on Europe at the Goethe University in Frankfurt am Main, western Germany.


French President Emmanuel Macron will be awarded the 2018 International Charlemagne Prize of Aachen (Karlspreis), the city of Aachen and the Charlemagne Prize committee board announced on December 8, 2017. The prize, named for Charlemagne, the Franconian king revered by his contemporaries as the ‘Father of Europe’, is awarded for work done in the service of European unification. / AFP PHOTO / LUDOVIC MARIN

Hielt 2017 seine Rede zum europäischen Aufbruch: Emmanuel Macron.

Der europäische Nachwuchs, der den Frieden ja maßgeblich gestalten muss, hat seine Auszeichnung übrigens schon erhalten. Gewonnen hat ein Projekt aus Ungarn: Forum Europaeum. Eine Medienplattform mit Teams aus verschiedenen Ländern. Auf Platz 2 eine Kampagne in Tschechien, damit mehr junge Leute wählen gehen: Díky, že můžem volit (Danke, dass wir wählen dürfen). Und auf Platz 3 ein deutsches Projekt: Die Feminist Law Clinic berät professionell diejenigen, die von geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt betroffen sind.

Am Donnerstag nun also Ursula von der Leyen. Die Wahl ist schon deshalb etwas Besonderes, weil es erst das sechste Mal in der 75 Jahre währenden Geschichte des Preises der Fall ist, dass die Medaille an eine Frau geht. Die Liste des Lobes der Jury ist lang: „Für ihre Verdienste um die Einheit der Mitgliedstaaten, die Eindämmung der Pandemie, die Geschlossenheit des Verteidigungswillens gegen Russland du die Impulse zum Green Deal einerseits sowie zur Ermutigung gegenüber den anstehenden Aufgaben.“ Sie sei nicht weniger als die „starke Stimme Europas in der Welt“. Der Karlspreis soll der Preisträgerin ausdrücklich „zur Ermutigung gegenüber den anstehenden Aufgaben den Rücken stärken“. Es gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Aachener ihr nicht den Rücken zudrehen.