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KinderpornografieZahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen steigt in Köln rasant

Lesezeit 6 Minuten
Ein Smartphone wird gehalten.

Auch Minderjährige selbst machen sich vermehrt im Bereich Kinderpornografie strafbar. Die Gründe? Zuweilen fänden Jugendliche das Verschicken von pornografischem Inhalt angesagt oder auch lustig.

Sexualisierte Gewalt ist besonders schlimm, wenn sie Kinder trifft. Was aber, wenn Kinder selbst zu Tätern werden?

Die Aufnahmen entstanden während einer schulischen Skifreizeit. Elftklässler eines Gymnasiums am Niederrhein filmten mit dem Handy einen ihrer Mitschüler beim Urinieren auf der Toilette. Und verbreiteten das Material: Als Nachricht an Klassenkameraden, als Video im Internet. Das Opfer wurde so zum Gespött der ganzen Schule. Auch Jungen und Mädchen aus unteren Jahrgängen konfrontierten ihn mit sexistischen Bemerkungen über seinen Penis. Lehrer, die er um Unterstützung bat, winkten ab. Er müsse die Angelegenheit mit den Videomachern selbst klären.

Sexualisierte Gewalt ist ein abscheuliches Verbrechen - vor allem, wenn Kinder und Jugendliche die Opfer sind. Insgesamt haben sich die Kinderpornographie-Fälle nach Angaben des Innenministeriums seit 2015 bis zum vergangenen Jahr mit 9000 Straftaten fast versechsfacht. 2021 wurde sogar der bisherige Höchstwert von 11.328 Fällen erreicht. Die 2024 registrierten 1755 Fälle von Jugendpornographie lagen fast um das Elffache über dem Statistikwert von 2015.

Zur Zunahme der Straftaten insgesamt kommt eine weitere erschreckende Auffälligkeit: Kinder und Jugendliche tauchen nicht nur als Opfer, sondern immer öfter auch als Tatverdächtige in der nordrhein-westfälischen Kriminalstatistik auf. Zwar machen im Deliktfeld Verbreitung, Erwerb, Besitz oder Herstellung von „Kinderpornographie“ Erwachsene immer noch den größten Anteil der Tatverdächtigen aus (2024: 3447) aus. Gleich an zweiter Stelle stehen aber die Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren (1664), gefolgt von tatverdächtigen Kindern (1399) und Heranwachsenden im Alter von 18 bis 21 Jahren (527). Sieht man sich nur die Straftaten zur „Jugendpornographie“ an, machten im vergangenen Jahr Jugendliche (737) sogar den größten Anteil der Beschuldigte aus, gefolgt von Erwachsenen (527), Heranwachsenden (188) und Kindern (109).

Auch in Köln steigen die Zahlen von tatverdächtigen Kindern und Jugendlichen deutlich

In Köln sind die Fälle von Verbreitung, Besitz und Herstellung von Kinderpornografie zwischen 2015 und 2023 sogar um das 22-fache gestiegen: von 33 auf 724, wobei die Zahl im vergangenen Jahr dann erstmals wieder gesunken ist. Im selben Acht-Jahres-Zeitraum bis 2023 stieg auch die Zahl der tatverdächtigen Kinder (von 1 auf 122) und Jugendlichen (von 1 auf 184) kontinuierlich an; und auch hier gab es im Vorjahr erstmals wieder einen Rückgang auf 104 Kinder und 119 Jugendliche. Die zuletzt leicht gesunkenen Zahlen sind allerdings nicht zwingend ein Grund zur Entwarnung.

Ein Rückgang bedeute „nicht automatisch, dass in einem Deliktsbereich weniger passiert ist“, sagt Sven Schneider, Leiter der Kriminalinspektion 1 bei der Polizei Köln. Schließlich würden nicht-zeitkritische Verfahren zuweilen ins nächste Jahr verschoben, um zunächst diese abzuschließen, bei welchen Kindern akute Gefahr drohe. „Für die verlässliche Aussage zur Entwicklung in einem Deliktsbereich muss man sich die Fallzahlen über mehrere Jahre anschauen“, sagt Schneider. Und da zeige die Gesamtkurve nach oben.

Zu berücksichtigen sei dabei, dass in den letzten Jahren „das Problembewusstsein und damit auch die Anzeigebereitschaft gestiegen ist“, sagt Ursula Enders von Zartbitter, einer Kölner Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. „Fast jede Woche“ werde ihr Verein telefonisch um Rat in Fällen gefragt, „in denen Kinder oder Jugendliche sexuelle Gewalt verübt“ hätten.  Was auffällt: „Die Kinder werden immer jünger.“

Fast jeder zweite Jugendliche zwischen 11 und 17 hat schon einen Porno gesehen

Um ihre Tat zu verschleiern, legten die jugendlichen Beschuldigten oft ein gefälschtes Chatprofil an. „Darin schmeicheln sie einer Klassenkameradin und überreden sie, sich vor der Online-Kamera auszuziehen“, so Enders. „Diese Fotos werden dann anderen Schülern gegen Bezahlung angeboten oder dazu benutzt, das Opfer zu erpressen, noch weiterzugehen.“

Laut einer Studie der Landesmedienanstalt NRW haben 42 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren bereits einen Porno gesehen. Weit verbreitet in diesem Alter ist auch das Versenden oder Empfangen von Sexting-Fotos. Dabei handelt es sich um selbstproduzierte Bilder mit sexuellem Hintergrund. Mehr als ein Viertel der Befragten gab an, solch eine Nachricht bereits erhalten zu haben. Die meisten davon im Alter von 12 bis 15 Jahren.

Dass unter jenen, die pornografische, aber auch gewaltverherrlichende Bilder und Videos verbreiten, immer mehr Kinder und Jugendliche sind, nennt Susanne Müller, Kommissariatsleiterin der Polizei Köln, eine „ganz gefährliche Entwicklung“. Die Betreffenden fänden es „offenbar gerade einfach angesagt, manche auch lustig, solches Material in Chats zu verbreiten“. Abgesehen von drohenden strafrechtlichen Folgen müsse man sich auch fragen: „Was macht es mit den Kindern und Jugendlichen, wenn sie dieses Material konsumieren? Was bedeutet das für ihre sexuelle Entwicklung?“

Auch Mädchen produzieren pornografische Inhalte - weil es als cool gilt

Dabei sind nicht nur Jungen die treibende Kraft. Auch Mädchen produzieren pornografische Inhalte. „Die spielen nach, was sie auf Pornoseiten gesehen haben, filmen sich dabei und tauschen das untereinander, etwa weil das in ihrem Umfeld als cool gilt“, schildert Enders. „Bei sehr massiven Fällen“, etwa wenn einige Jugendliche sich zusammengetan hätten, um eine Mitschülerin bloßzustellen, fehle in NRW meist das Personal für eine dringend notwendige Krisenintervention: „Beispielsweise in Köln gibt es nahezu keine Ressourcen dafür.“ Enders hat schon mehrfach in Anhörungen im Düsseldorfer Landtag auf diese Entwicklung hingewiesen.


Prävention der Polizei: Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema Kinderpornografie ist gewachsen. Am letzten Online-Elternabend der Polizei Köln etwa, einer Präventionsveranstaltung über Gefahren und Risiken für Kinder im Internet, haben in der Spitze 3600 Väter und Mütter teilgenommen, 10.000 haben sich später im Internet die Aufzeichnung der Veranstaltung angesehen.

Prävention Zartbitter: Der Verein führt Präventionstheaterstücke gegen sexuelle Gewalt auf. 400 Auftritte pro Jahr werden aus Eigenmitteln finanziert. Die Präventionstheaterstücke touren durch gesamt NRW. Im vergangenen Jahr wurden sie von fast 50.000 Kindern besucht.


Ein weiteres Problem: Eine erfolgsversprechende Diagnostik und Unterstützung vor Ort ergebe erst Sinn, wenn man Täter und Opfer räumlich voneinander getrennt habe. Manche Schulleiter jedoch würden nichts unternehmen, weil sie die pornographischen Übergriffe „für reine Privatsache“ halten. „Und die Schulaufsicht stimmt höchstens zu, dass jemand in eine andere Klasse versetzt wird, aber nicht an eine andere Schule“, beklagt Enders. So bleibe „die verhängnisvolle Dynamik“ zwischen den Beteiligten bestehen: „Die Behörden müssen sehr viel offener dafür werden, schon früh Sanktionen wie einen Schulwechsel anzuordnen.“

Gegen die Elftklässler, die das kompromittierende Video ihres Mitschülers verbreitet hatten, haben die Eltern des Betroffenen mittlerweile Anzeige erstattet. „Nachdem er aus Angst vor dem weiteren sexistischen Gespött mehrere Tage nicht zur Schule gegangen war, fand der unendliche beschämte und verzweifelte Junge zum Glück die Kraft, sich seinen Eltern anzuvertrauen“, berichtet Ursula Enders. Gegen die Täter wird ermittelt. Aber noch etwas haben die Eltern nach Enders Aussage zu folge in diesem Fall erreicht: „Auch die Lehrer müssen sich der Problematik und ihrem Versagen stellen.“