„Ihr könnt mir gar nichts“Steigende Kinderkriminalität in NRW – Massive Gewaltattacken bereiten Experten Sorgen

Lesezeit 5 Minuten
Ein Kind, das Gesicht ist verpixelt, steht neben einem Polizisten und einem Polizeiwagen.

Im März raubten Kinder eine Tankstelle in Wuppertal aus.

Zuletzt sind deutlich mehr Kinder und Jugendliche straffällig geworden als vor der Pandemie. Manche Familie schickt den strafunmündigen Nachwuchs gar zum Stehlen.

Die zwei Jungs wirkten harmlos. Doch am Abend des 22. März kundschafteten sie das Zielobjekt für einen Raubüberfall aus. Einer von ihnen klopfte dann gegen 22.50 Uhr an der Scheibe der geschlossenen Jet-Tankstelle an der Wittener Straße in Wuppertal. Die 55-jährige Kassiererin hatte bereits Feierabend gemacht, öffnete aber doch die Tür. Kaum war der Junge eingetreten, stürmten zwei junge Männer hinter ihm in den Geschäftsraum. Mit vorgehaltener Schusswaffe forderte einer der Täter die Kasseneinnahmen und Zigarettenstangen. Anschließend flüchteten die Räuber und der Junge. Wie sich später herausstellte, hatte Letzterer den Lockvogel gegeben.

Ein Kind, dessen Gesicht verpixelt ist, sitzt auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens.

Der Täter ist ein Kind, sitzt hier zwar im Polizeiwagen, kann für seine Verbrechen jedoch nicht belangt werden.

Im Zuge der Fahndung ortete ein Polizeihubschrauber mittels Wärmebildkamera zwei der vier Tatverdächtigen in einem Gebüsch: einen 13-Jährigen und seinen zwölfjährigen Komplizen, Michele A. (Name geändert). Die Kinder sind polizeibekannt. Die Kriminalakte für Michele A. listet 34 Straftaten auf. Die Palette reicht von Diebstahl mit einem Messer, Körperverletzung bis hin zu räuberischer Erpressung. Wird der Junge festgenommen, kennt er seine Rechte genau. „Ihr könnt mir gar nichts“, verhöhnt der Intensivtäter die Beamten. Mit zwölf Jahren kann ihn die Justiz nicht belangen. Kinder unter 14 Jahren fallen nicht unter das Strafrecht.

Das Jugendamt kann Eltern das Sorgerecht entziehen

Und so geschieht es, dass Michele A. nach jeder Festnahme zu seinen Eltern gebracht wird, um dann bald wieder bei der Polizei zu landen. In solchen Fällen sind die Jugendämter in der Verantwortung, den Kontakt zu den Familien zu suchen, sie bei der Erziehung zu begleiten – bei gravierenden Fehlern können sie ihnen gar das Sorgerecht entziehen. Die Stadt Wuppertal wollte sich mit dem Hinweis auf den Datenschutz nicht zum Problemfall Michele A. äußern.

Kurz nach dem Tankstellenüberfall nahm die Polizei auch die beiden älteren Räuber fest. Einen 18-Jährigen und einen 14-Jährigen. Letzterer gehört zu einer Bande, die sieben Prostituierte überfallen und ausgeraubt haben soll. Über einschlägige Internetportale buchten sie ein Date bei den Frauen. Ein Bandenmitglied gab sich als Freier aus. Kaum hatten die Opfer den Jugendlichen eingelassen, öffnete er seinen Kumpels die Wohnungstür. Die Opfer wurden verprügelt und mit Messern misshandelt. In einem Fall kippten die jugendlichen Räuber einen Mülleimer über eine 24-jährige Prostituierte und zündeten den Abfall an.

Wuppertal, Freudenberg, Wunsiedel, Düsseldorf, Erfurt, Dresden, Heine (Schleswig-Holstein) – diese Ortsnamen stehen aktuell für massive Gewaltattacken durch Minderjährige. Gerade nach dem mutmaßlichen Mord an der zwölfjährigen Luise durch zwei nahezu gleichaltrige Mitschülerinnen in Freudenberg im Siegerland oder dem gewaltsamen Tod eines zehnjährigen Mädchens in einem Kinderheim im bayerischen Wunsiedel, an dem ein elfjähriger Mitbewohner beteiligt gewesen sein soll, wird nach einer Erklärung für die Taten gesucht – auch weil die Zahl der Straftaten von Kindern und Jugendlichen stark zugenommen hat.

Zahl der tatverdächtigen Kinder steigt um ein Drittel

So meldet die bundesweite Kriminalstatistik für 2022 einen eklatanten Zuwachs der tatverdächtigen Kinder um gut ein Drittel auf 93.095. Knapp 30 Prozent von ihnen besitzen keinen deutschen Pass. Bei den Jugendlichen kletterte die Zahl um mehr als ein Fünftel auf knapp 190.000, jeder Vierte davon kommt aus dem Ausland.

Beim Diebstahl registriert das Bundeskriminalamt (BKA) einen Anstieg um 59 Prozent, bei der Gewaltkriminalität um 41 Prozent. Ein vergleichbar hoher Wert wurde zuletzt im Jahr 2009 festgestellt. Der viel zitierte Corona-Nachholeffekt, den das BKA als einen Grund für die Zunahme nennt, erklärt das Phänomen nicht allein. Schließlich betrug das Plus im Vergleich zum letzten Vorpandemie-Jahr 2019 satte 16 Prozent.

In einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) nannte BKA-Präsident Holger Münch weitere Faktoren für das Plus bei Raub und Körperverletzung an: „Gewalterfahrungen in der Kindheit, räumlich beengte Lebensverhältnisse oder Stressbelastung in der Familie, … solche Risikofaktoren haben in den vergangenen Jahren fraglos zugenommen durch Krisen wie Pandemie, den Krieg in der Ukraine und Inflation.“

Jugendliche Täter stellen Videos ihrer Überfälle ins Internet

Zudem seien gerade in den letzten Jahren viele junge Menschen zugewandert, „die teilweise in ihrer Heimat oder auf der Flucht Gewalt erlebt haben und sogar traumatisiert sind“, folgert Münch. „Die Nettozuwanderung war noch nie so hoch wie 2022. Das sehen wir jetzt auch in der Kriminalstatistik.“ Manche Familie schickt bewusst ihre strafunmündigen Kinder zum Stehlen. „Werden die Kids gefasst“, erzählt ein hochrangiger Ermittler, „kommen sie zu ihren Eltern und ziehen bald wieder los auf Beutezug.“

Problematisch ist es eine weitere Entwicklung: Mittlerweile scheint es unter Kinder und Jugendlichen schick geworden zu sein, Videos der Überfälle auf ihre Opfer ins Internet zu stellen. So geschehen, als zwei 13-jährige Mädchen ihr ein Jahr älteres Opfer in das Straßenbahngleis in Erfurt traten. Eine Handykamera filmte die Attacke. Der Clip vom Februar kursierte online. Als die Schlägerinnen aufhören wollten, feuerten Freunde sie weiter an. „Macht weiter!“, hieß es aus dem Off der Handykamera.

Zum Jahresbeginn lockte eine einschlägig aktenkundige 14-Jährige einen gleichaltrigen Bekannten zu einem Treffen an der Bushaltestelle in Düsseldorf-Vennhausen. Drei Komplizen erwarteten den ahnungslosen Jugendlichen, prügelten und traten auf ihn ein, ehe sie seine Tasche entwendeten. Die Tat filmte die Bande per Mobiltelefon. Es dauerte einige Monate, bis die Ermittler schließlich die Räuber überführen konnten. Zwei der Täter waren 13, somit gehen sie straffrei aus.

Land NRW will Kindern helfen, die Kurve zu kriegen

Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, wundert sich nicht über solche Gewaltexzesse. „Man muss sich doch nur anschauen, wie Gewaltvideos und falsche Rollenbilder in sozialen Netzwerken Kinder und Jugendliche heutzutage verrohen lassen. Da prahlen sogenannte Gangster-Rapper ungestraft, wie einfach es ist, durch Verbrechen leichtes Geld zu verdienen.“ Der Kriminalbeamte glaubt, dass diese Gewaltszenarien die jungen Generationen stark beeinflussen „und überfordern.“

Das Land Nordrhein-Westfalen versucht, mit dem Präventionsprogramm „Kurve kriegen“ minderjährige Intensivtäter wieder auf den rechten Weg zu bringen. Derzeit betreut das Projekt laut dem Innenministerium 650 Kinder und Jugendliche. Im Schnitt sind die Jugendlichen knapp 13 Jahre alt, wenn sie bei „Kurve kriegen“ eintreten – die Aufnahme geschieht auf freiwilliger Basis. Pro Kopf beziffert das Land die jährlichen Kosten für das Programm auf etwa 11.000 Euro. Ein Aufwand, der sich den Ministeriumsangaben zufolge rechnet: „Ein Intensivtäter verursacht bis zu seinem 25. Lebensjahr durchschnittlich 100 Opfer und soziale Folgekosten in Höhe von etwa 1,7 Millionen Euro.“ Die Erfolgsbilanz: 1000 Kinder und Jugendliche haben die Initiative inzwischen abgeschlossen. 40 Prozent der Absolventen wurden nicht mehr rückfällig. Bei dem Rest habe sich die Anzahl der Straftaten durch die Teilnahme an der Initiative halbiert, heißt es.

KStA abonnieren