Mangelernährung in NRW-KlinikenWenn das Essen im Krankenhaus krank macht

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Eine Person isst eine Mahlzeit auf einem Tablett.

Oft ist das Essen in Kliniken nicht so appetitlich wie auf diesem Bild.

Nur vier Prozent aller Kliniken halten Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ein. Dabei könnte besseres Essen Todesfälle verhindern.

Zwei Scheiben sich wellendes Toastbrot, ein Döschen Margarine und eine Ecke Schmierkäse in Alufolie. Frische Produkte wie Obst oder Gemüse glänzen mit Abwesenheit. So sieht in vielen Fällen ein Abendessen im Krankenhaus aus. „Zu Hause würde das niemand essen“, ist sich Matthias Pirlich, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, sicher. Was in Krankenhäusern in Deutschland, aber auch in Nordrhein-Westfalen aufgetischt wird, ist meist wenig geeignet, kraftlose Kranke wieder gesundzumachen. Im Gegenteil.

Fast ein Drittel der Patienten ist mangelernährt

Zwanzig bis 30 Prozent aller Patienten kommen bereits mit Zeichen einer Mangelernährung in die Klinik. „Sie sind schwach und bräuchten schmackhafte und an ihre besonderen Bedürfnisse angepasste Kost. Bekommen aber Standardessen auf unangenehm nach Dampfreinigung riechenden Plastiktabletts. Dann essen sie nichts, nehmen ab, verlassen die Klinik noch geschwächter als sie sie betreten haben“, sagt Pirlich.

Die schlechte Qualität des Krankenhausessens und eine mangelnde Ernährungsfürsorge sind nicht nur beim Gesundwerden hinderlich, sie sind sogar für Todesfälle verantwortlich. Das belegt eine Studie aus der Schweiz mit mehr als 2000 Patienten. Die Hälfte von ihnen bekam das übliche Essen, für die anderen stellten Ernährungsfachleute gezielt Speisepläne zusammen. Die Unterschiede waren enorm: Wer individuelle Kost erhielt, erlitt deutlich seltener Komplikationen. Die Todesrate in dieser Gruppe lag fast ein Drittel niedriger.

Wir sparen an der vulnerabelsten Gruppe, den Alten und Kranken, und das in einem so reichen Land
Matthias Pirlich, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin

Was Krankenhäuser in ihren Küchen zusammenrühren und ihren alten oder kranken Schützlingen servieren, bleibt ihnen in NRW im Grunde selbst überlassen. Zwar gibt es Standards für eine gesunde und vollwertige Ernährung von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Die sind aber nicht mehr als eine Empfehlung. Das Gesundheitsministerium des Landes NRW schreibt hierzu auf Anfrage, man halte es für „nicht zielführend und verhältnismäßig“, „diesen Bereich landesseitig zu regulieren, zumal dies neu Bürokratie für das Gesundheitssystem zur Folge hätte“.

Ein Drittel des Menüs landet im Müll

Niemand muss die Standards also einhalten, kaum jemand hält sie ein. Gerade einmal vier Prozent aller Kliniken in Deutschland erfüllen die Standards nach Auskunft der DGE. Pirlich kann das nicht verstehen. „Wir haben die allereinfachsten Dinge aufgegeben, wir sparen an der vulnerabelsten Gruppe, den Alten und Kranken, und das in einem so reichen Land“, sagt er.

Das NRW-Gesundheitsministerium setzt auf Eigenverantwortung und ist sich sicher: „Viele Akteure im Gesundheitswesen wissen längst, was sie den Patienten und Kunden bieten müssen.“ Pirlich ist da etwas anderer Meinung. „Sie bekommen in der Klinik zwar die technisch beste Aortaklappe eingesetzt, aber dass Sie das Essen gar nicht angerührt haben, kriegt nicht einmal jemand mit.“ Eine Studie anlässlich des „Nutrition Days“ habe ergeben, dass die Hälfte aller Patienten weniger als die Hälfte des angebotenen Essens verzehrte.

Ein Drittel des Menüs landet laut Pirlich im Müll. Das muss nicht einmal damit zu tun haben, dass das Essen nicht schmeckt. „Manche Patienten sind vielleicht zu schwach oder verwirrt und müssten gefüttert werden. Andere können das Brötchen nicht aufschneiden. Weil die Personaldecke zu dünn ist und niemand Zeit hat, sich zu kümmern, wird das Essen dann unangetastet und unter der Haube wieder abgetragen.“

Einsatz von mehr Diätassistenten könnte Medikamente sparen

Bislang wird der Ernährung in den meisten Krankenhäusern eher keine große Bedeutung bei der Genesung beigemessen. Das liegt laut Pirlich auch daran, dass man davon ausgeht, die durchschnittlich „wenigen Tage im Krankenhaus machen keinen großen Unterschied. Gerade die mangelernährten Patienten haben aber eine deutlich längere Liegezeit und profitieren nachweislich von einer guten Ernährung, was zudem auch noch Kosten spart“. Eva Hoffmann von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist seiner Meinung. Viele Menschen kämen ja gerade deshalb ins Krankenhaus, weil sie sich ungesund ernährt haben. Häufige Folge: Herzkreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. „Ein gutes Speisen-Vorbild sowie Wissensvermittlung darüber, was der Körper braucht, um gesund zu werden, wären deshalb vor allem im Krankenhaus wichtig“, sagt sie.

Patienten seien oft gerade im Moment der Krise besonders motiviert, etwas an ihren Ernährungsgewohnheiten zu verändern. Dafür wären mehr Ernährungsfachkräfte in den Kliniken dringend erforderlich. Durch den Kostendruck oder auch Fremdvergaben der Verpflegung würden Ernährungsfachkräfte nicht selten eingespart werden. Zudem sei das Budget für den Wareneinkauf relativ gering. Kurzfristig gedacht sei es oft einfacher und günstiger zum Beispiel gegen die Gicht ein Medikament zu verabreichen. Dabei wäre es viel nachhaltiger, beim Patienten die Reflexion seiner Ernährungsgewohnheiten anzuregen. „Die Antwort könnte sein, dass in der Mittagspause ein vollwertiges und gesundes Lunchpaket auf der Parkbank gesünder ist als das Schnitzel im Imbiss“, sagt Hoffmann.

Vegetarisches Angebot als Stammessen

Das Klinikum Essen, das täglich 1200 Patienten und 800 Mitarbeiter verköstigt, treibt seit zwei Jahren die Verbesserung des Essensangebots durch die Projektgruppe „Green Hospital Food“ voran. Kristin Hünninghaus ist Nachhaltigkeitsbeauftragte und Fachärztin für Innere Medizin und will mit der Projektgruppe herausfinden, welche Stellschrauben man unkompliziert drehen kann, um einerseits die Versorgung zu verbessern und andererseits den Abfall in der Klinikküche um ein Drittel zu reduzieren. Am Ende sollen von dem Transformationsprojekt alle profitieren: Patienten, Mitarbeitende, die Klinik und die Umwelt.

Erste Ergebnisse zeigen, dass schon kleine, kostenneutrale Veränderungen große Wirkung haben können. „Wir haben zum Beispiel die Reihenfolge unserer Menülinien geändert. Früher stand an Position eins und zwei ein Gericht mit Fleisch und erst an dritter Position die vegetarische Alternative. Seit wir das vegetarische Angebot als Standardessen auf die erste Position gezogen haben, wählen signifikant mehr Patienten diese Option“, so Hünninghaus.

Gerade sei man dabei, die vegetarischen Rezepturen zu optimieren und das Küchenteam zu schulen. Schließlich dürfe vegetarisch nicht heißen, dass es am Ende immer Nudeln mit Tomatensauce gäbe. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Ernährungsmedizin: Um Mangelernährung bei Patienten zu erkennen, fordert Hünninghaus, das Fach Ernährungsmedizin in der Ausbildung auszubauen. „Auch übergewichtige Patienten sind oft mangelernährt, zum Beispiel haben diese häufig zu wenig Muskelmasse. Heute wird dies häufig nicht durch das medizinische Personal erkannt.“ Während das Thema Ernährung in der Pflegeausbildung immerhin am Rande gestreift wird, ist die Verpflegung auf den Stationen im Medizinstudium laut Curriculum überhaupt kein Lehrinhalt.

Um zu verhindern, dass täglich ein guter Teil des Essens in den Müll wandert, sei vor allem viel mehr Kommunikation nötig. „Da passiert es immer wieder, dass ein Patient verlegt wurde oder nüchtern sein muss, diese Information in der Küche aber viel zu spät ankommt, also zu viele Mahlzeiten im Wagen auf der Station ankommen.“

Auch die Digitalisierung könnte helfen. Hünninghaus wünscht sich eine App, in der jeder Patient genau auswählen könne, was er zum Abendbrot essen möchte. „Wer dann nur Gouda, Butter und Tomate ankreuzt, bekommt dann weder Wurst noch Schmierkäse und wir müssen am Ende nichts wegwerfen.“ In Essen scheitert eine solche App laut Hünninghaus derzeit noch am Geld. „Das ist ein echter Kostenpunkt.“ 

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