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Solinger Messer-Attentäter
„Boden für Anschläge bereitet“ – Harsche Kritik an Behörden im Fall Issa al H.

Lesezeit 6 Minuten
Der Fronhof in Soligen vier Wochen nach dem Attentat während der 650-Jahr-Feier.

Der Fronhof in Soligen vier Wochen nach dem Attentat während der 650-Jahr-Feier. Am 27. mai soll nun der Prozess gegen den tatverdächtigen Syrer beginnen.

Im Düsseldorfer Untersuchungsausschuss zum IS-Attentat in Solingen kritisieren drei hochkarätige Sachverständige das Vorgehen des Staates scharf. Die Akte zu Issa al H. belegt: Der Attentäter wurde nahezu ohne Überprüfung ins Land gelassen. 

Die Anhörung ist reine Routine. Nach seinem Asylantrag am 27. Januar 2023 erscheint der Syrer Issa al H. um neun Uhr morgens vor einem Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Bielefelder Außenstelle. Ein Dolmetscher übersetzt die Fragen des Prüfers für den Asylsuchenden ins Arabische. Der BAMF-Bedienstete arbeitet einen Fragenkatalog mittels Multiple-Choice-Verfahren ab. Viele Felder bleiben offen.

Einzig der Reiseweg über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland liefert aufschlussreiche Informationen. Offenbar erfüllt der Syrer alle Voraussetzungen für einen Abschiebe-Fall nach dem europäischen Dubliner Flüchtlingsabkommen, da er bereits in Bulgarien als Asylbewerber per Fingerprint über das Eurodac-System aktenkundig geworden ist. Nach zehn Minuten endet die Anhörung.

Drei Menschen getötet und zehn teils schwer verletzt

Knapp anderthalb Jahre später ersticht der damals 26-jährige Syrer im Namen der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) auf einem Stadtfest in Solingen drei Besucher und verletzt zehn Menschen teils schwer. Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft Issa al H. wegen dreifachen Mordes, und zehnfachen Mordversuches sowie der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bei einem Staatsschutzsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts angeklagt. 

NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) räumte Versagen der Behörden bei der gescheiterten Abschiebung von Issa al H. ein.

NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) räumte Versagen der Behörden bei der gescheiterten Abschiebung von Issa al H. ein.

In dem Prozess, der am 27. Mai beginnen soll, wird sicherlich auch das Versagen der Ausländerbehörden zur Sprache kommen - allen voran durch das BAMF und die zuständigen Stellen in NRW. Auch Flüchtlingsministerin Josefine Paul geriet wegen des miserablen Krisenmanagements in Bedrängnis. Demnach hat niemand die Angaben des Asylbewerbers ernsthaft überprüft. Die Akte belegt, wie leicht etwa mutmaßliche Terroristen aus dem arabischen Raum die hiesigen Ausländerbehörden täuschen können, wie dürftig die Einreisekontrollen ausfallen.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat nun die Ausländerakte des Angeklagten eingesehen. Die Unterlagen dokumentieren die laxen Kontrollen durch das BAMF. 

Ein Onkel, der angeblich in Deutschland lebt, existiert nicht

Doch der Reihe nach. Nach der ersten Anhörung wandert die Akte des Syrers zum Dublin-Ressort im BAMF. Am 23. Februar wird Al H. erneut befragt. Das Gespräch dauert immerhin eine Stunde. Gleich zu Anfang beteuert der Flüchtling, ein Onkel mütterlicherseits namens Nosr Abdullah Al Hussein lebe in Deutschland. Im nationalen Visa-Abfragesystem MARIS findet sich der Name aber nicht.

Dass er über keine Ausweispapiere verfügt, erklärt der Asylsuchende damit, dass der IS in seiner Region Deir ez-Zor herrschte. „Die haben nicht erlaubt, dass wir eine ID-Karte erhielten.“ In der weiteren Befragung spielen diese Aussagen keine Rolle. Denn Issa al H. gilt als Abschiebekandidat nach Bulgarien. Zu den Fluchtgründen befragt, behauptet der Asylbewerber, dass ihm in seiner Heimat der Militärdienst drohe. Zugleich bat er darum, ihn nicht nach Bulgarien abzuschieben. „Die Behörden dort schicken Menschen wieder nach Syrien zurück“, so seine Behauptung. 

Als er abgeschoben werden soll, ist der Syrer verschwunden

Am 27. Februar ergeht der BAMF-Bescheid. Das Asylgesuch wird abgelehnt, die Ausreise nach Bulgarien angeordnet. Von da an beginnt die Sechs-Monatsfrist, in der die Abschiebung zu erfolgen hat, andernfalls fällt Issa Al H. in die Zuständigkeit Deutschlands.

Der Syrer findet eine Anwältin in Dresden, die beim Verwaltungsgericht Minden Einspruch gegen die Abschiebeverfügung einlegt. Am 21. März 2023 erhält die zuständige Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld die Flugdaten für die Rückführung nach Bulgarien. Am 5. Juni soll es um 7.20 Uhr mit dem Flieger von Düsseldorf nach Warschau gehen und von da aus weiter nach Sofia.

Siavash Hosseini wurde beim Attentat von Solingen an der Schulter verletzt.

Siavash Hosseini wurde beim Attentat von Solingen an der Schulter verletzt.

Als Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld in der Nacht des 5. Juni Issa Al H. aus seiner Unterkunft abholen wollen, ist dieser verschwunden. Kurz darauf taucht der Gesuchte wieder auf. Die Abschiebung aber ist gescheitert. Obschon noch Zeit bleibt, organisiert das zuständige Ausländeramt keinen neuen Abschiebeflug. Das gerichtliche Verfahren geht Ende August zu den Akten. Issa Al H. erhält als Syrer einen subsidiären Schutzstatus. Er kommt in eine Flüchtlingseinrichtung in der Solinger City. Dort greift er am 23. August 2024 zum Messer, leistet dem IS einen Treueschwur und attackiert Passanten, die ihm auf dem Solinger Stadtfest zufällig entgegenkommen. 

Sachverständige: „Strukturelle Defizite des Migrationsrechtes“

Seit Wochen durchleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag das Abschiebeversagen im Solinger Fall. Drei hochkarätige Sachverständige übten im Untersuchungsausschuss eine vernichtende Kritik zum staatlichen Vorgehen. Daniel Thym von der Universität Konstanz und Martin Fleuß, Richter am Bundesverwaltungsgericht, zeigten eklatante Missstände im deutschen und europäischen Asylsystem auf. Neben den beiden Juristen war der emeritierte Professor für Politikwissenschaften Dietrich Thränhardt von der Universität Münster als Sachverständiger für Migration geladen.

Laut Bundesrichter Fleuß haben „strukturelle Defizite des deutschen und des europäischen Migrationsrechtes den Boden für den Anschlag von Solingen bereitet“. Und sie könnten „jederzeit für die Verübung weiterer Anschläge vergleichbarer Art ausgenutzt werden“.

Die Sachverständige im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum IS-Attentat in Solingen.

Die Sachverständige im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum IS-Attentat in Solingen.

Seit Jahren schon gebe es „tiefgreifende strukturelle Verwerfungen“, bestätigte Professor Thym. Dublin könne nicht funktionieren, „weil das System von Designfehlern durchzogen ist.“ Die Probleme seien „hausgemacht“. Etwa die komplizierte Struktur in den personell meist unterbesetzten Behörden, die oft nicht wüssten, wer in den Einzelfällen „die letzte Anweisung“ geben dürfe - was zwangsläufig zu einer „Verantwortungsdiffusion“ führe. Oder die Tatsache, dass es viel zu wenig Abschiebehaftplätze gebe, so dass zahlreiche Betroffene schlichtweg verschwunden seien, wenn sie abgeholt werden sollen.

„Überall ist Sand im Getriebe“

Überall sei „Sand im Getriebe, auch in NRW“, monierte der Rechtsprofessor. Die Überstellungen in das eigentlich für das Asylverfahren zuständige EU-Land sei ein Desaster. Die Rückführungen würden „sehr, sehr häufig scheitern“, so Thym: „2023 und 2024 zusammen lag die Erfolgsquote für Italien nahe null, für Kroatien bei drei und für Bulgarien bei sieben Prozent.“

Dieser „kalte Boykott“ des Dublin-Systems durch die Ersteinreiseländer habe „Tradition“. Selbst Frankreich habe weniger als 50 Prozent der Leute zurückgenommen. „Insgesamt überstellte Deutschland in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres 4900 Personen an andere EU-Länder und übernahm, weil Deutschland zuständig ist, 3900 Menschen von dort.“

Wer morgens abgeschoben wird, kann abends wieder in Deutschland sein

So gleiche das Dublin-System „einem Kampf gegen Windmühlen“, führte Thym aus. Morgens rücküberstellte Personen könnten um Mitternacht wieder in Deutschland sein. Derzeit lebten hierzulande 15.000 Migranten, die bereits via Dublin-Verordnung in ihre Ersteinreiseländer überstellt wurden, aber wieder nach Deutschland zurückgereist seien. „Selbst bei einer Rückkehr sind Zurückweisungen im Normalfall dann rechtswidrig“, betonte der Jurist. Die Folge: Das Asylverfahren geht von Neuem los.

Schon 2016 habe die Bundesregierung festgestellt, dass die Asylverfahren mit einer durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von sechs Monaten viel zu lange dauerten, erläuterte der Migrationsexperte Thränhardt: „Trotz dieser Erkenntnis sind die Verfahren aber nicht schneller geworden. Die reale Zahl liegt heute bei 8,7 Monate“, so der Professor. Diese lange Zeit der Unterbringung „mit einer unsicheren Perspektive“ begünstige eine „Traumatisierung oder Retraumatisierung“. In vielen Fällen führe dies zu einem „Rückzug in die Depression“, sagte Thränhardt: „Aber in einer minderen Zahl von Fällen hat das eben die Konsequenzen, über die wir gerade schon gesprochen haben: Aggressivität und im Extremfall diese Anschläge.“

Der Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags zum Terror-Anschlag von Solingen erwartet am Freitag die bisherige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Zudem werden zwei Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge befragt.