Plan für seelische Gesundheit gefordertFast jeder Zweite in NRW entwickelt einmal im Leben eine psychische Erkrankung

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Eine Psychotherapie ist in den meisten Fällen wirksam.

Fast jeder zweite Mensch in NRW ist im Laufe seines Lebens von einer psychischen Erkrankung betroffen.

Die SPD in NRW will die Versorgung und Prävention nun verbessern – und nennt mehr als hundert Punkte. Die Lage im Überblick.

Zu wenige Therapeuten, zu lange Wartezeiten, zu schwache Versorgung mit Präventionsangeboten. Die SPD im NRW-Landtag will die seelische Gesundheit der nordrhein-westfälischen Bevölkerung verbessern. In der kommenden Plenarsitzung Ende Oktober stellt die Partei deshalb einen umfassenden Antrag zur Umsetzung eines „NRW-Plans für Seelische Gesundheit“.

In mehr als hundert Punkten geht es den Sozialdemokraten darum, die Prävention und die Versorgung neu zu denken. Zudem fordert sie die Landesregierung auf, die seelische Gesundheit zur Priorität ihres Regierungshandelns zu erklären. Die SPD sieht die Regierung in der Pflicht, die durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigte Reform der Psychotherapie-Bedarfsplanungsrichtlinie voranzutreiben, um die Zahl der kassenfinanzierten Therapeuten in NRW aufstocken zu können.

Ein Großteil der Psychotherapeuten ist älter als 50 Jahre

Auch bei der Prävention sieht die SPD Förderbedarf. Schon heute sei ein Großteil der Psychotherapeuten älter als 50 Jahre. „Wir müssen uns überlegen: Wie können wir verhindern, dass wir Personal in Massen brauchen?“, sagt Lisa-Kristin Kapteinat, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion. Klar sei nämlich, dass ein frühes Eingreifen zumindest die Chronifizierung einer psychischen Erkrankung verhindern könne, so Rodion Bakum, Mitglied im Landtagsausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Man regt zur Verbesserung der Lage beispielsweise mehr Mental-Health-Coaches an Schulen an. Bislang gebe es davon in NRW gerade einmal 18 Stück. Zudem sei eine ständige Erreichbarkeit des sozialpsychiatrischen Dienstes nach bayerischem Vorbild anzustreben.

Wir haben uns angesehen, wie es um die seelische Gesundheit in NRW bislang bestellt ist.

Wie viele Menschen sind von psychischen Erkrankungen betroffen?

„Fast jeder zweite Mensch in NRW entwickelt im Laufe seines Lebens eine behandlungsbedürftige seelische Erkrankung“, sagt Lisa Kapteinat gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Alle anderen Menschen seien rein statistisch gesehen zumindest als Angehörige betroffen. Zu den häufigsten seelischen Erkrankungen zählen nach Daten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) Angststörungen (15,4 Prozent), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 Prozent, unipolare Depression allein 8,2 Prozent) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch (5,7 Prozent).

Welche individuellen und gesellschaftlichen Folgen haben die Erkrankungen?

Menschen mit psychischen Erkrankungen haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine deutlich verringerte Lebenserwartung. Geschätzt wird laut DGPPN ein Verlust von einem bis 32 Jahren. Zudem leide auch die wirtschaftliche Produktivität. Im Jahr 2020 wurden 17 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage durch eine seelische Erkrankung verursacht. Seelische Erkrankungen seien mit 43 Prozent der häufigste Grund für Frühberentungen. Die direkten Kosten für psychische Erkrankungen belaufen sich in Deutschland demnach auf rund 44,4 Milliarden Euro pro Jahr.

Was ist aus dem Landespsychiatrieplan geworden?

Seit 2017 ist der NRW-Plan über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten gesetzlich vorgegeben. Ziel ist, die Versorgungsstruktur im Land zu verbessern, der Plan werde „kontinuierlich weiterentwickelt“. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) gibt zu, dass aufgrund der Corona-Pandemie zum jetzigen Zeitpunkt „nicht alle in den priorisierten Themenfeldern formulierten Handlungsempfehlungen umgesetzt werden“ konnten. So gibt es bislang beispielsweise keine Verbesserung bei der Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Jugendhilfe oder beim Übergang der Kinder- zur Erwachsenenpsychiatrie. 2024 werde eine „konkrete Fortschreibung“ erfolgen.

Wie gut ist die Versorgung mit Psychotherapeuten in NRW?

Hierzu schwelt seit Jahren ein Streit. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein spricht davon, dass im gesamten Rheinland eine Überversorgung vorliege. In Köln beispielsweise kommen auf gut eine Million Einwohner 684 Therapeuten, den Versorgungsgrad gibt die KVNO mit 192,4 Prozent an. Spitzenreiter bei der Versorgung ist nach Zahlen der KNVO die Stadt Bonn. Dort gibt es mit fast 270 Psychotherapeuten fast zweieinhalb Mal so viel Personal wie laut Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nötig. Laut KVNO gibt es im Rheinland mehr als 5000 Psychotherapeuten und noch magere drei Niederlassungsmöglichkeiten (Kleve und Oberhausen: je 1, Euskirchen und Wesel: jeweils: 0,5).

Ganz anders sieht das die Psychotherapeutenkammer NRW. Die durchschnittliche Wartezeit zwischen Erstgespräch bis zum Beginn einer leitliniengerechten Psychotherapie beträgt in NRW nach Zahlen von 2018 im Schnitt gute 23 Wochen, das entspricht fast einem halben Jahr. Im Ländervergleich belegt NRW damit einen der letzten Plätze. In Berlin beispielsweise ist die Wartezeit mit gut 13 Wochen um 40 Prozent kürzer. Lediglich in Brandenburg (23,4), dem Saarland (23,6) sowie Thüringen (23,7) wartet man laut Psychotherapeutenkammer noch länger. Noch mehr ins Gewicht fallen die langen Wartezeiten, wenn man bedenkt, dass sich nach Zahlen der DGPPN nur jeder fünfte Betroffene in Behandlung begibt.

Hat die Landesregierung das Problem auf dem Schirm?

Das Gesundheitsministerium bestätigt gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass die Grundlagen der Bedarfsplanermittlung „einer Anpassung“ bedürfen. Die Länder hätten den Bund, der für die Rahmenbedingungen zuständig sei, dazu aufgefordert „für eine schnelle gesetzliche Regelung zur kurzfristigen Verbesserung der Versorgungssituation in der ambulanten Psychotherapie zu sorgen“. Zudem bereite das Gesundheitsministerium erste Anträge vor, in strukturschwachen Gebieten zusätzliche Zulassungen umzusetzen.

Wie steht es um die Versorgung von Kindern und Jugendlichen?

Eine besondere Schieflage ergebe sich in der kinder- und jugendpsychotherapeutischen Versorgung. Zwanzig Prozent aller Kassensitze seien für Kinder und Jugendliche vorgesehen, „was dem Bedarf im Grunde von Anfang an nicht entsprochen hat“, so Höhner. Dazu käme, dass Kinder- und Jugendpsychotherapeuten neben der Arbeit mit dem Kind noch zahlreiche andere Aufgaben zu erledigen hätten, die in der Planung aber gar keine Rolle spielten: Kontakt mit Kita, Schule, Jugendamt, Termine mit Eltern.

In der Raumordnungsregion Köln kommen nach Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein auf 382.488 potenzielle Patienten 44 Kinder- und Jugendpsychiater. Der Versorgungsgrad wird laut Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein mit 175,1 Prozent angegeben. Freie Sitze: 0. In der Raumordnungsregion Düsseldorf sind bei knapp 34 Vollzeit-Kinder- und Jugendpsychiatern immerhin 2,5 Sitze frei, in der Raumordnung Duisburg-Essen 0,5.

Wie ist die Perspektive?

Zwar ist ein Großteil der Psychotherapeuten in NRW älter als 50 Jahre, wird also in absehbarer Zeit in Rente gehen. Einen Mangel an Nachwuchs sieht die Psychotherapeutenkammer allerdings nicht. Durch die Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung starteten in NRW etwa 2500 Berufsanfänger pro Jahr. Die Schwierigkeit sei eher, für den bereitstehenden Nachwuchs auch die erforderlichen Kassensitze und Arbeitsstellen in den Kliniken anzubieten. „Sonst wird es schon mit dem Erhalt der Versorgungsangebote im aktuellen Niveau schwierig, an die erforderliche Verbesserung ist ohne die Weiterentwicklung der Angebote schon gar nicht zu denken“, sagt Höhner.

Wie gut ist NRW bei der Prävention?

Der Präventionsgedanke sei in NRW „gelebte Realität“, schreibt das Gesundheitsministerium. Besonders gekümmert wird sich um Kinder, laut Schulministerium helfen dabei mehr als 1600 landeseigene Schulsozialarbeiter. Hinzu kommen 1200 Stellen über kommunale Schulträger. Außerdem arbeiten laut Ministerium 464 Schulpsychologen in NRW. Auch auf Flüchtlinge lege man ein besonderes Augenmerk. So gibt das Integrationsministerium auf Anfrage an, man fördere psychosoziale Erstberatungsstellen in den Landesunterkünften.

Wo kann Digitalisierung helfen, wie weit ist man beim Einsatz künstlicher Intelligenz?

Das Gesundheitsministerium gibt auf Anfrage an, im Rahmen der Digitalisierung auf einen verstärkten Einsatz von Videoangeboten zu setzen. Die SPD fordert in ihrem Antrag, alle Notfallnummern zu bündeln, damit Betroffene unter einer einzigen Nummer immer Hilfe erhielten. Hier könne auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz zu einer besseren Organisation beitragen. Bakum erzählt vom Vorbild Skandinavien: „In Schweden hilft bereits ein Algorithmus bei der Frage, zu welchem Anrufer ein Rettungswagen geschickt werden muss.“

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