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Posttraumatische Belastungsstörungen„Viele, die traumatisiert sind, befinden sich noch gar nicht in Behandlung“

7 min
Psychische Belastungen im Gepäck: soldaten verlassen 2021 den afghanischen Stützpunkt Masar-i-Scharif (Archivbild). .

Psychische Belastungen im Gepäck: soldaten verlassen 2021 den afghanischen Stützpunkt Masar-i-Scharif (Archivbild). .

Jedes Jahr behandelt die Bundeswehr Hunderte Soldaten im Psycho-Traumazentrum. Im Kriegsfall könnten es bis zu 200 pro Tag sein, schätzt ein Arzt.

Herr Zimmermann, Sie haben in der Bundeswehr wesentlich dazu beigetragen, ein Bewusstsein für Posttraumatische Belastungsstörungen zu schaffen und eine Versorgung der Betroffenen sicherzustellen. Erinnern Sie sich noch, wie das anfing?

Oberstarzt Peter Zimmermann: Oh ja. Wir hatten in der Bundeswehr 1993 und 1994 erstmals mit dem Thema Trauma zu tun. Damals gab es ein Feldlazarett der Bundeswehr in Phnom Penh (Kambodscha). Da waren viele Ärzte und Sanitäter mit schwersten Verletzungen und entsprechenden psychischen Belastungen konfrontiert.

Das war der erste Auslandseinsatz überhaupt.

Ja. Und dann gab es einen zweiten Einsatz in Somalia. Das war 1996. Richtig los ging es kurz darauf mit Bosnien-Herzegowina. Und obwohl das eigentlich eine Peacekeeping-Mission war, gibt es bis heute Menschen, die unter den psychischen Folgen leiden - durch das erlebte Leid der Zivilbevölkerung oder bedrohliche Situationen wie zum Beispiel durch Minen. Kampfhandlungen waren damals noch sehr selten. Das änderte sich 1999/2000 mit dem Einmarsch in den Kosovo. Da wurden deutsche Soldaten in den Bergen teilweise auch von Kriminellen beschossen. Das macht was mit der Psyche.

Und das hat sich auch sofort gezeigt?

Das Problem bei Soldaten, aber auch bei der Feuerwehr, der Polizei oder dem Technischen Hilfswerk ist, dass viele Betroffene nicht sofort mit Beschwerden kommen, sondern sich erst nach langer Verzögerung trauen. Das sind Stigma-Ängste: „Ich bin ein Weichei, nicht mehr vollwertig oder habe Karriere-Nachteile. Und ich weiß sowieso nicht, ob die Behandlung hilft.“ Die Folge ist, dass laut unseren Studien im Schnitt vier Jahre vergehen, bis sich Betroffene dann doch mal in Therapie begeben. Das ist natürlich viel zu lang.

Was folgt daraus?

Das hat dazu geführt, dass wir in den Anfangsjahren kaum Fälle hatten. Weil die Leute alle dachten, das kriegen sie allein hin. Doch seither hat sich in den Bundeswehrkrankenhäusern viel getan. Ein wichtiger Schritt war 2009 die Gründung des Psycho-Traumazentrums. Da haben sich die Angebote sprunghaft ausgeweitet. Es gab gut strukturierte therapeutische Settings. Heute haben wir da einen guten Stand, glaube ich.

Und mit den Einsätzen in Afghanistan, auf dem Balkan und in Mali hat sich der Andrang vergrößert?

Vor allem mit den Einsätzen im Kosovo und in Afghanistan. Wir hatten ja in Afghanistan phasenweise etwa 15.000 Soldaten pro Jahr im Einsatz, drei Kontingente je 5.000. Und in unseren Studien haben wir gelernt, dass die Inzidenzrate in so einem Kampfeinsatz - also die Zahl derer, die neu erkranken - bei acht Prozent liegt. Wenn Sie das hochrechnen, sind das bei 15.000 Soldaten 2.000 Betroffene pro Jahr.

Und die müssen nicht aktiv in Kampfhandlungen verwickelt gewesen sein, um Symptome zu entwickeln.

Nein. Am Anfang schien Traumatologie identisch zu sein mit PTBS, ausgelöst durch ein dramatisches, lebensbedrohliches Ereignis - mit Albträumen, Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, Schreckhaftigkeit und so weiter. Aber wir haben dazugelernt, dass das nicht die einzige Wahrheit ist. Denn es gibt Situationen, die für eine PTBS nicht reichen, weil sie nicht katastrophal genug waren, beispielsweise über das Land zu fahren und Gewalt gegen Frauen und Kinder zu sehen. Das reicht aber für einen Familienvater mit Kindern in dem Alter, eine Anpassungsstörung zu entwickeln. Der entwickelt zum Beispiel Schuldgefühle, dass er nicht geholfen hat, die durchaus in eine Depression übergehen können. Das nennt sich moralische Verletzung.

Sind Bundeswehrsoldaten automatisch resilienter, weil härter? Oder ist das ein dummes Klischee?

Ich glaube, dass Soldaten und andere Einsatzkräfte eine höhere Resilienz haben. Sie machen zum Beispiel regelmäßiger Sport. Und 3-mal die Woche 30 Minuten Sport, so dass Sie „noch sprechen, aber nicht mehr singen“ können, ersetzt ein chemisches Antidepressivum. Die soziale Unterstützung ist ein zweiter Faktor. Soldaten haben in der Truppe oft gute soziale Netze. Das ist sogar der wichtigste Schutzfaktor, den man überhaupt kennt. Und dann spielt noch eine Rolle, dass man einen Job und ein festes Gehalt hat. Das macht Soldaten insgesamt resilienter.

Aber nicht, weil sie härter sind.

Nein. Härte ist eher ein Risikofaktor. Wenn man hart mit sich umgeht, dann führt das zu höheren Stigma-Ängsten, dann braucht man länger bis zur Behandlung. Das ist also eher ungünstig. Ein weicher und wohlwollender Umgang mit sich selbst ist eher ein Schutzfaktor.

Wie viele Betroffene sind von den Einsätzen noch übrig?

Aufgrund des Stigmatisierungsphänomens, das ich beschrieben habe, müssen wir davon ausgehen, dass sich ein Großteil derer, die in all den Jahren traumatisiert wurden, noch gar nicht in Behandlung befindet. Wir führen im Psycho-Traumazentrum seit 2010 eine Statistik. Da kommen jedes Jahr 300 neue Fälle hinzu. Deshalb müssen wir mit mehreren tausend zusätzlichen Fällen aus Afghanistan, Mali und dem Kosovo rechnen, die unbehandelte psychische Störungen mit sich herumschleppen und hoffentlich irgendwann noch kommen. Wir müssen, um sie zu motivieren, allerdings eine noch bessere Kampagnenarbeit leisten. Es geht um Aufklärung mit dem Ziel, dass Soldaten noch mehr Awareness entwickeln. Dabei richten wir uns auf verschiedenen Ebenen auch an Angehörige, damit sie auf Betroffene einwirken.

Es ist ja jetzt seit dem russischen Angriff auf die Ukraine davon die Rede, dass es auch Krieg unter Beteiligung der Bundeswehr geben könnte - in Litauen zum Beispiel. Die Bundeswehr bereitet sich auf diese Möglichkeit militärisch systematisch vor. Tun Sie das auch?

Wir haben vor etwa einem halben Jahr damit angefangen, uns auf ein mögliches Kriegsszenario vorzubereiten. Wir haben in der Bundeswehr ein, wie ich glaube, gut ausgestattetes psychosoziales Versorgungsnetzwerk, bestehend aus dem Sanitätsdienst, dem Psychologischen Dienst, dem Sozialdienst und Militärseelsorgern, einem evangelischen, einem katholischen und einem jüdischen. Was wir jetzt brauchen, ist ein Dachkonzept, in dem geregelt wird, wie diese Professionen im Ernstfall zusammenarbeiten. Da sitzen wir dran. Denn wir müssen im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung mit Besonderheiten rechnen.

Welche sind das?

Bei den bisherigen internationalen Einsätzen gab es einen begrenzten Umfang von Soldaten, die versorgt werden mussten. In einem Szenario der Landes- und Bündnisverteidigung können das aber auch mal 50 am Tag sein. Auf die Frage, wie man mit so großen Mengen an psychisch belasteten Menschen umgeht, müssen wir uns einrichten. Und dann müssen sich die Helfer auf eine Vielfalt an Problematiken einstellen. Da kommt zum Beispiel jemand von der Front zurück, der Angst um sein Leben hat. Dann kommt jemand zurück, der Probleme zu Hause hat und unter Depressionen und Schlafstörungen leidet. Und schließlich kommt jemand zurück, der gerade vielleicht einen Menschen verletzt oder getötet hat und Schuldgefühle entwickelt.

Sie rechnen im Kriegsfall mit 50 Betroffenen pro Tag?

Wir haben ja in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg keine eigenen Erfahrungen mit so einem Szenario mehr. Aber es gibt internationale Studien aus ähnlichen Szenarien. Und die sagen, dass auf die körperlich Verwundeten nochmal zwischen 5 und 50 Prozent psychisch Verwundete oben draufkommen. Die Nato rechnet, je nach Truppengröße, mit 400 Verwundeten pro Tag. Und dann müsste man damit rechnen, dass 100, vielleicht sogar 200 psychisch Verwundete dazu kommen. Das zeigen auch die Ukraine-Erfahrungen. In jedem Fall muss man auf größere Zahlen vorbereitet sein.

Wie viele Psychiater hat die Bundeswehr?

So zwischen 30 und 40.

Reicht das für die Versorgung?

Das reicht vorne und hinten nicht. Andererseits muss Hilfe auch nicht immer von einem Psychiater kommen. Es reicht zum Beispiel für bestimmte Problematiken aus, wenn man jemandem drei Tage Ruhe, ein gutes Entspannungstraining und ein Schlafmedikament verordnet. Das kann auch ein guter Allgemeinarzt machen. Bei Beziehungskonflikten zu Hause braucht ein Betroffener vielleicht nur praktische Tipps. Ziel ist, dass wir unsere Durchhaltefähigkeit erweitern, indem wir gut ausbilden und die verschiedenen Professionen nutzen.

Was lehrt der Ukraine-Krieg?

Es gibt erste wissenschaftliche Schätzungen, wonach die Zahl der Menschen in der Ukraine mit behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen bei etwa 16 Millionen liegt - bei einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen. In anderen Ländern wie Afghanistan wurde dieser Anteil sogar auf 70 Prozent geschätzt. Das heißt: Man muss in Ländern mit so schweren Kriegshandlungen mit 50 plus X Prozent psychisch Erkrankten rechnen. Deshalb muss man die Psyche definitiv hoch priorisieren. Sonst hat das Folgen, auch für das Umfeld des Betroffenen. Deswegen ist jeder Euro für Prävention gut investiert.

Haben Sie denn eine Idee davon, wie sich diese Kriegsangst, die es in der Gesamtgesellschaft neuerdings gibt, auswirkt?

Solche gesellschaftlichen Phänomene haben wir immer wieder. Denken Sie an die Corona-Pandemie. Und man kann sicher sagen, dass in der Breite auftretende Ängste einer Gesellschaft nicht guttun. Das wichtigste Gegengift sind soziale Kontakte und gegenseitige Unterstützung. Mein Rat wäre immer, daran zu arbeiten.

Nun raten Psychologen im außermilitärischen Bereich den Betroffenen bei bestimmten Belastungssituationen bisweilen, sich daraus zu entfernen - aus einer krank machenden Beziehung etwa oder einer toxischen Arbeitssituation. Aber Sie sind ja darauf geeicht, die Truppe funktionstüchtig zu halten. Oder gibt es Fälle, in denen Sie sagen: Die Bundeswehr ist nichts für Dich?

Ja, natürlich. Zeit- oder Berufssoldaten können zwar nicht so ohne weiteres raus. Schließlich erbringt die Bundeswehr auch finanzielle Leistungen, bezahlt eine Ausbildung oder ein Studium. Aber wenn jemand psychisch erkrankt, dann gibt es zunächst immer eine Behandlung. Und wenn die nicht fruchtet, dann kann ein Dienstunfähigkeitsverfahren eingeleitet werden. Tatsächlich sind 60 bis 80 Prozent aller gesundheitlich begründeten vorzeitigen Entlassungen aus der Bundeswehr psychiatrisch begründet.

Würde das auch im Kriegsfall gelten?

Das Vorgehen hätte auch im Kriegsfall Gültigkeit.

Wie viel Sorge machen Ihnen diese Aussichten?

Das ist eine gute Frage. Aber ich bin ein grundsätzlich optimistischer Mensch. Bei mir dominiert die Hoffnung, dass die Vernunft die Oberhand behält. Insofern hält sich meine Angst in Grenzen.

Aber sicher sind Sie nicht.

Nein, ganz sicher kann man sich in der heutigen Zeit nie sein.