Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland über den Papst, die politische Aufgabe der Kirchen, Krieg und Frieden - und über sein Verhältnis zum Kölner Kardinal Rainer Woelki.
Rheinischer Präses Thorsten Latzel„Papst Leo XIV. ist ein Hoffnungsträger“

13.08.2025 Köln. Besuch von Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, zum Redaktionsgespräch mit Gerald Selch und Joachim Frank. Foto: Alexander Schwaiger
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Herr Präses, mit Anspielung auf Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hat der katholische Publizist Andreas Püttmann jüngst den Begriff „Klöcknern“ geprägt – für den Versuch der Politik, den Kirchen zu sagen, was die ihnen gebührenden Themen und Aufgaben sind. Braucht es eine Neudefinition der kirchlichen Rolle in der Gesellschaft?
Thorsten Latzel: Die Kirche ist von ihrem Ursprung, vom Evangelium her immer auch politisch. Weil es ihr um das Wohl des Menschen in der Gemeinschaft geht, um eine Universalität der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt. Wir agieren nicht parteipolitisch, aber wir nehmen Partei für die Schwachen und Marginalisierten. Den Begriff finde ich aber unangemessen, weil er weder Frau Klöckner als Person noch der Würde ihres Amtes als Bundestagspräsidentin entspricht.
Die umstrittenen Stellungnahmen beider Kirchen zur Asylpolitik oder zu gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD waren aber schon klar gegen diese Partei gerichtet.
In der Flüchtlings- und Asylpolitik treten wir klar dafür ein, dass wir als Gesellschaft unsere Werte nicht verlieren und dass die Politik sich an das Recht hält. Wir haben das Asylrecht aus guten Gründen als Menschenrecht im Grundgesetz verankert. Das heißt nicht, dass jeder Mensch, der nach Deutschland kommt, automatisch ein Bleiberecht hat. Aber wir müssen menschlich mit Menschen umgehen und Schutzbedürftigen helfen. Für die Menschen, die bei uns leben, bemühen wir uns mit vielen Angeboten um gelingende Integration. Das alles will die AfD nicht. Und wir haben als Kirchen festgehalten, dass die Grundhaltung dieser Partei mit ihrer Hetze gegen Andere, ihrem völkischen Nationalismus und ihrer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dem christlichen Glauben widerspricht.

Besuch von Thorsten Latzel (r.), Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, beim Kölner Stadt-Anzeiger - hier im Redaktionsgespräch mit Chefredakteur Gerald Selch (Mitte) und Joachim Frank.
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Das sagen Sie auch jetzt zur Kommunalwahl in NRW? Die AfD – für Christen nicht wählbar?
Wir sagen, wofür wir als Kirche eintreten, für welche Werte wir von unserem Glauben her stehen. Und dann ist es Sache jedes Einzelnen, wen er oder sie wählt.
Ich bin beeindruckt von der konsequenten Haltung, mit der Frau Brosius-Gersdorf ihren Rückzug erklärt hat.
Nochmal zurück zum „Klöcknern“ oder, weil Ihnen das Wort ja nicht gefiel, zur Frage nach der Beteiligung der Kirchen an politischen Debatten. Was ist Ihre Meinung zu dem Streit, ob die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf Richterin am Bundesverfassungsgericht werden sollte? Aus der katholischen Kirche kam massiver Protest – teils basierend auf falschen Annahmen – wegen der Positionierungen der SPD-Kandidatin zur Abtreibung.
Wenn es um das Bundesverfassungsgericht geht, muss es das Ziel sein, die besten Juristinnen und Juristen nach Karlsruhe zu schicken, die wir haben. Sie sollen dann mit ihrer Kompetenz und in der Breite des demokratischen Spektrums die Verfassung auslegen und strittige Rechtsfragen entscheiden. Dafür finde ich eine Pluralität der Positionen unerlässlich. Das ist dann keine Frage des Einflusses von uns als Kirchen oder von anderen gesellschaftlichen Gruppen. Wir müssen auch schauen, dass es keine parteipolitischen Abhängigkeiten der Richter gibt. Konkret bin ich beeindruckt von der konsequenten Haltung, mit der Frau Brosius-Gersdorf ihren Rückzug von der Kandidatur erklärt hat. Ich fand es unsäglich, wie vor allem in den sozialen Medien mit ihr umgegangen wurde.
Inwiefern sind Sie dann beeindruckt? Muss man nicht sagen, mit dem Verzicht auf die Kandidatur ist gelungen, was Beatrix von Storch von der AfD als Parole ausgegeben hat: den Fall zu „erledigen“?
Das ist genau ein Teil des Problems, dass die Leute, die in einer unsäglichen Weise agiert haben, dies jetzt als Erfolg für sich werten können. Umso mehr braucht man gute politische Abstimmungsprozesse, damit das Besetzungsverfahren besser läuft. Der Fall sollte jetzt aber auch nicht zu einer „Krise der Demokratie“ erklärt werden.
Etwas mehr protestantische Nüchternheit täte uns manchmal gut.
Warum ist Ihnen das zu viel?
Das war wahrlich kein politisches Glanzstück. Aber wir haben seit über 75 Jahren eine sehr gut funktionierende Demokratie, in ihr gab es immer wieder Konflikte, Probleme und dann auch Lösungen. Wir haben gegenwärtig eine aufgeregte Empörungskultur, die durch die sozialen Medien noch verstärkt wird. Theologisch formuliert: Etwas mehr protestantische Nüchternheit, selbstkritische Bescheidenheit und Vertrauen in unser Miteinander täte uns manchmal gut.
In Alaska wollte US-Präsident Donald Trump den russischen Machthaber Wladimir Putin zu einem Ende des Kriegs gegen die Ukraine bewegen. Sie plädieren für eine „diskursive Feindesliebe“ als Weg zum Frieden. Was soll das sein?
Feindesliebe heißt erst einmal, anzuerkennen, dass es einen Feind gibt. Konkret: Es gibt eine russische Aggression, einen russischen Angriff, und das darf man nicht nivellieren. Aber dann braucht es auch eine Haltung der „Entfeindung“, die sagt: Es ist nicht Russland an sich, es sind nicht „die“ Russen, sonst kommt man aus den Feindkonstellationen nicht mehr heraus. Wir haben selbst diese geschichtliche Erfahrung gemacht: Deutsche und Franzosen als „Erbfeinde“, Katholiken und Protestanten als unversöhnliche Gegner in Konfessionskriegen.
Wir brauchen nicht nur eine neue Verteidigungs-, sondern auch eine neue Friedensfähigkeit.
Lang, lang ist’s her…
Ich sehe, dass wir in Europa heute in einer anderen militärischen Bedrohungslage sind. Wir brauchen aber nicht nur eine neue Verteidigungs-, sondern auch eine neue Friedensfähigkeit. Dafür bietet die christliche Friedensethik wichtige Impulse zu einem gerechten Frieden. Und wir müssen neu lernen, wie wir Krieg verhindern und kriegerische Konflikte beilegen können.
Wie können wir das?
Dazu braucht es tatsächlich Dialog und Versöhnungsbereitschaft. Aber ich füge hinzu: auf beiden Seiten. Und das ist die große Frage mit Blick auf Putin und die russische Regierung: Gibt es dort überhaupt echte Gesprächsbereitschaft?

Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. Links im Bild Gerald Selch, Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“
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Sie sprachen das Verhältnis zwischen katholischer und evangelischer Kirche an. Auch da einen Sprung aus der Vergangenheit in die ökumenische Gegenwart. Aus dem Erzbistum Köln ist zu hören, das Tischtuch zwischen Kardinal Rainer Woelki und Ihnen sei zerschnitten. Und in der Tat fällt auf, dass Sie beide seit Jahren keine gemeinsamen Gottesdienste mehr halten. Wie ist der Stand zwischen Kölner Erzbischof und rheinischem Präses?
Also, es gibt regelmäßig Treffen der katholischen Bischöfe und der evangelischen Präsides. Dazu werde ich selbst bald nach Düsseldorf einladen, und ich bin mit den katholischen Bischöfen in gutem Austausch. Uns als rheinischer Kirche und mir persönlich liegt sehr an einem engen ökumenischen Austausch. Meine Offenheit dafür ist vorhanden.
Die rheinische Kirche will im Missbrauchsskandal die Vorgänge in ehemaligen Heimen aufarbeiten. Sie haben etwaige Betroffene aufgerufen, sich zu melden?Wie ist da der Rücklauf?
Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Die Meldungen gehen nicht bei uns ein, sondern bei der Beratungsstelle Weißer Ring, bei der unabhängigen Ansprechstelle der Landeskirche oder den Vertrauenspersonen in den Kirchenkreisen. Die Studie bezieht sich auf 11 Internate, bei zwei von ihnen sind Fälle sexualisierter Gewalt bekannt. 2026 soll die Studie vorliegen. Dann wissen wir hoffentlich mehr.
Die Heime, um die es geht, wurden teils schon vor Jahrzehnten geschlossen. Etwaige Missbrauchstaten wären längst verjährt. Wenn Opfer vor Gericht gehen und auf Schadenersatz oder Schmerzensgeld klagen sollten, würden Sie auf die in Zivilprozessen mögliche Einrede der Verjährung verzichten – um der Gerechtigkeit willen?
Für die Anerkennungsleistungen, die wir als Kirche im Rahmen eines unabhängigen Verfahrens zahlen, gibt es von vornherein keine Verjährung. Das Gleiche gilt für disziplinarrechtliche Schritte gegen Täter, die bei der Kirche angestellt waren oder sind. Fälle, nach denen Sie fragen, also Zivilprozesse vor einem staatlichen Gericht, haben wir nicht. Wenn das auf uns zukäme und sich die Frage nach der Amtshaftung der Kirche stellen würde, würden wir das im konkreten Fall prüfen.
Papst Leo XIV. steht auch für ein anderes Amerika.
Papst Leo XIV. ist die berühmten 100 Tage im Amt. Wie fällt Ihre Bilanz aus evangelischer Sicht aus?
Wir haben im April beim Tod von Papst Franziskus mit unseren katholischen Geschwistern getrauert und uns im Mai mit ihnen über die Wahl von Papst Leo XIV. gefreut. Seitdem hat er wichtige erste Impulse gegeben – etwa mit der Betonung des Themas Frieden. Er hat eine große Weltgewandtheit. Die Internationalität seiner Erfahrungen ist bedeutsam vor allem auch vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten mit der US-Administration unter Donald Trump. Da ist Papst Leo XIV. jemand, der auch für ein anderes Amerika steht. Er strahlt in einer Zeit großer Aufgeregtheit wohltuend Ruhe und Menschenfreundlichkeit aus. Und ich empfand auch die Papstwahl an sich als Hoffnungszeichen.
Wieso das?
Es zeigt, wie sehr uralte Rituale auf die Menschen wirken – und wie wichtig Einzelpersonen als Hoffnungsträger sind. Was der Papst dann konkret leisten kann, muss man dann nochmal sehen. Aber am Beginn seines Pontifikats tritt Leo XIV. als Oberhaupt der weltweiten römisch-katholischen Kirche, aber auch als ein Repräsentant für den christlichen Glauben insgesamt, ein für Frieden, Versöhnung und Hoffnung. Und da hat er, meiner Wahrnehmung nach, tatsächlich schon Akzente gesetzt. Wobei die „100 Tage“ ja mehr eine Größe aus dem politischen Raum sind. Für uns als Kirchen gelten andere Zeitrhythmen – im Horizont der Ewigkeit. Gott sei Dank.