Europas letzter Tag in FriedenSo verlief der 23. Februar 2022

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Flaggen der Ukraine und Europas wehen in der ukrainischen Hauptstadt im Wind. Am 24.02.2023 jährt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zum ersten Mal.

Flaggen der Ukraine und Europas wehen in der ukrainischen Hauptstadt im Wind. Am 24.02.2023 jährt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zum ersten Mal.

War den Deutschen heute vor einem Jahr die Dramatik der Situation bewusst? Eher nicht, verrät der Blick zurück. Die Chronologie eines beinahe normalen Wintertags.

Der 23. Februar 2022 – ein scheinbar ganz normaler Wintertag in Deutschland: Sonnenschein bei knapp über 10 Grad. Ahnte Europa, dass am nächsten Tag der Krieg beginnt? Dass eine lange Phase des Friedens enden würde, dass es an der Schwelle einer „Zeitenwende“ steht, wie es Olaf Scholz kurz darauf formulieren sollte?

Nicht, wenn man heute liest, womit sich die deutsche Öffentlichkeit an jenem Mittwoch vor einem Jahr beschäftigte. Zwar drohte der russische Truppenaufmarsch in der Ukraine gleich einer Gewitterwand kurz vor der Entladung – und der amerikanische Pentagonsprecher John Kirby warnte nochmals, die russischen Streitkräfte versammelten sich näher an der Grenze um „praktisch jederzeit eine militärische Aktion in der Ukraine durchzuführen“.

Biden kündigt Sanktionen gegen Russland an

Am 23.2.2022 um 6:10 Uhr melden die Agenturen, dass US-Präsident Joe Biden neue Sanktionen gegen Russland angekündigt hat. Die Maßnahmen richteten sich gegen zwei große Banken, gegen den Handel mit russischen Staatsanleihen und gegen Unterstützer des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Zuvor hatte auch die EU Sanktionen gegen Russland beschlossen. Diese sollen bereits am Mittwoch in Kraft treten. Die Außenminister der 27 Mitgliedstaaten stimmten unter anderem dafür, den Zugang Russlands zu den EU-Kapital- und Finanzmärkten einzuschränken. Zudem stehen Personen und Unternehmen auf der EU-Sanktionsliste, darunter rund 350 Abgeordnete des russischen Parlaments, die für die Anerkennung der Separatistenrepubliken gestimmt haben.

Beifall für Putin gibt es an diesem Tag auch – von Donald Trump. Der gab auf seinem Anwesen Mar-a-Lago in Florida den konservativen Radiomoderatoren Clay Travis und Buck Sexton ein Interview. „Das ist genial“, platzt es aus Trump heraus, als er auf Putins Ankündigung angesprochen wird, die künstlichen Separatistenrepubliken im Osten der Ukraine anzuerkennen. „Wie schlau ist das?“, fällt Trump dem Frager ins Wort, als der von Russland „Friedenstruppen“ spricht, also in die Ostukraine entsandte Armeeverbände, mithilfe derer sich Putin jetzt als Friedenshüter aufspielt. So etwas könne man auch an der Südgrenze der USA gut gebrauchen, ergänzt der einstige mächtigste Mann der Welt.

08:33 Uhr: Russlands Präsident Wladimir Putin erklärt die Interessen seines Landes im Konflikt als „nicht verhandelbar“. Gleichzeitig erklärte sich der Kreml-Chef aber auch zur Suche nach „diplomatischen Lösungen“ bereit, wie er in einer Videoansprache sagt. „Unser Land ist immer offen für einen direkten und ehrlichen Dialog, für die Suche nach diplomatischen Lösungen für die komplexesten Probleme“, betonte Putin. „Die Interessen Russlands, die Sicherheit unserer Bürger, sind für uns nicht verhandelbar“, fügte er jedoch hinzu.

Am Morgen des 23. Februar 2022 behauptet Putin, sein Land sei immer offen für einen direkten und ehrlichen Dialog.

Am Morgen des 23. Februar 2022 behauptet Putin, sein Land sei immer offen für einen direkten und ehrlichen Dialog.

09:28 Uhr: Die Bundesregierung stoppt das Pipelineprojekt Nord Stream 2, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck warnt vor steigenden Energiepreisen – die Eskalation in der Russland-Ukraine-Krise könnte die Energieversorgung in Deutschland beeinträchtigen. Einer Umfrage des MDR zufolge halten 61 Prozent der Menschen im Sendegebiet (Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt) die USA für die größte Bedrohung des Weltfriedens – nur 47 Prozent Russland.

In der BPK geht es um Mindestlohn, das Bundesausbildungsförderungsgesetz – und dann um Sanktionen

13.45 Uhr: In der Bundespressekonferenz in Berlin spricht zur selben Stunde Regierungssprecher Steffen Hebestreit zunächst über den Mindestlohn, über das Bundesausbildungsförderungsgesetz und am Ende auch über die am Vortag von der EU beschlossenen Sanktionen gegen Russland. Sie betreffen russische Abgeordnete, russische Banken. Kritiker werden später sagen, dass die Maßnahmen weit hinter dem zurückgeblieben, was nötig sei, um Russland zu beeindrucken.

Am Nachmittag besteigt Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), seinen Dienstflieger, eine Dassault Falcon 8X, lässt sich in Richtung Kiew fliegen. Er folgt einer Einladung seines Kiewer Amtskollegen. Dass sich der Chef des Auslandsnachrichtendienst eines wichtigen westlichen Industriestaates in die Hauptstadt eines Landes fliegen lässt, dem die Invasion droht, ist ein ungewöhnlicher Vorgang.

Kahl wird später auch im Gespräch mit dem RND versuchen, seinen Flug als „ein wichtiges Zeichen der Solidarität“ umzudeuten. In Wahrheit nahm der deutsche Geheimdienst im Vorfeld viele britischen und amerikanischen Warnungen nicht so ernst, wie es angemessen gewesen wäre.

17 Uhr: In New York tagt die UN-Vollversammlung. Das Treffen ist lange geplant, vor allem bleiben die Worte des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba in Erinnerung: „Der Beginn eines groß angelegten Krieges in der Ukraine wird das Ende der Weltordnung sein, wie wir sie kennen“, mahnt er.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba.

Die Welt stehe vor einem „Ausmaß und einer Schwere der Not, wie es sie seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat“, stimmt Uno-Generalsekretär António Guterres in den Chor der Warnenden ein. Deutschlands Staatsminister Tobias Lindner betont dagegen, sein Land und Frankreich strebten weiter eine diplomatische Lösung an. Berlin hat Putin noch nicht ganz fallengelassen – und gibt sich gelassen.

Habeck: Heute Nacht wird es passieren

Am frühen Abend bekommt der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Besuch aus der US-Botschaft, wie er dem Stern verraten hat: „Ich bekam ein Dossier, aus dem hervorging: Heute Nacht wird es passieren. Die Blutkonserven werden aufgetaut, die Raketenwerfer beladen, die Fahrzeuge sind markiert, und die Truppen bewegen sich eindeutig auf die Grenze zu. Es war klar: Der Krieg steht bevor, er wird bittere Realität.“

18.45 Uhr: In Berlin strahlt das Brandenburger Tor als Zeichen der Solidarität in den Farben der Ukraine. „Berlin steht an der Seite der Ukraine“, sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey.

20 Uhr: Von dieser Dramaturgie ist in der Tagesschau um 20 Uhr noch nichts zu spüren. Dort wird ein einsamer russischer Präsident Putin gezeigt, der sich am landesweit arbeitsfreien „Tag des Vaterlands“ an der Kremlmauer vor Gräbern verneigt und weiterhin „Gesprächsbereitschaft“ mit Kiew signalisiert, die allerdings nicht endlos währt, wie er betont.

Putin glaubt, sich das erlauben zu können, weil gleichzeitig rund 300.000 seiner Soldaten auf einer Breite von über 2000 Kilometern von Belarus im Norden und den beiden Separatistengebieten in der Ostukraine aus vorrücken.

Der russische Präsident wirkt in diesen Stunden gelassen, er will Geschichte schreiben, will korrigieren, was als er zuvor als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat: den Untergang der Sowjetunion. Er wird am nächsten Tag eine Rede halten, die der Welt alles erklären wird – davon ist er überzeugt. Auch davon, dass nach einer Woche alles vorbei ist, „das Kiewer Regime“ implodiert, die Menschen in Dnipro, Cherson und Charkiw den Siegern zujubeln. So wie in Budapest 1956 oder in Prag 1968, zumindest stand es so in den sowjetischen Schulbüchern.

Der nächste Nachrichtenbeitrag widmet sich dem Thema, das Deutschland in jenen Tagen vermutlich noch stärker umtreibt, als der russische Aufmarsch da im fernen Osteuropa, über den seit Wochen informiert wird. „Regierung sieht Gasversorgung gesichert“, heißt es da, und dann fallen Begriffe, die seit einem Jahr durch die Medien geistern: Flüssiggas, LNG, Gasspeicher, unabhängige Energieversorgung, Versorgungssicherheit.

20.45 Uhr: Anka Feldhusen, deutsche Botschafterin in der Ukraine, trifft sich im Kiewer Fünfsternehotel Premier Palace BND-Chef Kahl, der inzwischen eingetroffen ist und seinen Flieger zurück nach Berlin geschickt hat, zum Abendessen. Die Botschafterin ist zuvor vom Auswärtigen Amt in Berlin aufgefordert worden, die Ukraine zu verlassen – auf dem Landweg und bitte unverzüglich. Da ist der Luftraum über Kiew bereits gesperrt.

Ukrainisches Parlament bestätigt Ausnahmezustand

20.58 Uhr: Das ukrainische Parlament bestätigt den landesweiten Ausnahmezustand mit großer Mehrheit. Der Ausnahmezustand gilt im gesamten Land ab Mitternacht und für 30 Tage.

Es sind diese Fernsehbilder des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die aus heutiger Sicht so deutlich dokumentieren, was sich in diesem Jahr verändert hat. Jungenhaft, ein Lächeln auf den Lippen, dunkle Haare, rasiert, schwarzer Anzug, weißes Hemd und Krawatte – den Wolodymyr Selenskyj von damals gibt es nicht mehr, der Krieg hat ihn altern lassen. Der Selenskyj von heute scheint um Jahre gereift zu sein.

Zwei Tage später wird er die Rede seines Lebens halten – und der Welt mit dem geflügelten Wort in Erinnerung bleiben: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“

22 Uhr: Als in Frankfurt die Glocke den Börsenschluss einläutet, schließt der Dax leicht im Minus bei knapp unter 14.631 Punkten, nachdem er mit deutlichen Gewinnen in den Tag gestartet war. In den nächsten Tagen brauchen die von Pandemie und Rezession gebeutelten Anleger starke Nerven.

Der Krieg in der Ukraine und der sich anbahnende Ausschluss Russlands aus dem Welthandel werden zu Belastungsprobe für Wirtschaft und Verbraucher. Doch davon ist an jenem Abend noch nichts zu spüren.

22.45 Uhr: Mit Sigmar Gabriel sitzt am späten Abend dieses letzten Friedenstages einer in der ARD-Talkshow von Sandra Maischberger, der für die desolate Russlandpolitik Deutschlands in den letzten Jahren mitverantwortlich war. Doch die Moderatorin versäumt es, den ehemaligen Wirtschaftsminister an seinen größten Fehler zu erinnern – den Verkauf der deutschen Gasspeicher an den russischen Energieversorger Gazprom.

Putin will die Fäden in der Hand halten
Sigmar Gabriel in der ARD-Talkshow von Sandra Maischberger

Glaubt man dem einstigen SPD-Chef, leide Putin lediglich an ADHS, an einer Art Aufmerksamkeitsdefizit. Gabriel: „Er wird versuchen, dass immer wieder mit ihm geredet werden muss. Er will die Fäden in der Hand halten.“ Ein Jahr später wissen wir, dass Putin zwar ab und zu mit westlichen Staatenlenkern telefoniert, aber über Frieden nicht reden will.

Atlético Madrid und Manchester United trennen sich 1:1 in der Champions League

22:50 Uhr: Wenig aufregend verläuft das Champions-League-Achtelfinale zwischen Atlético Madrid und Manchester United 1:1. Was Fußball-Deutschland viel mehr beschäftig, ist die Frage, ob Superstar Erling Haaland Borussia Dortmund verlässt oder nicht.

01:30 Uhr Für Anna Feldhusen und das deutsche Botschaftspersonal in Kiew will dieser dramatische Tag einfach nicht enden: Eineinhalb Stunden nach Mitternacht verlässt der Konvoi von zwölf Autos die ukrainische Hauptstadt in Richtung Schytomyr, noch sind die Straßen frei, wie der Spiegel berichtet. BND-Chef Kahl wird in Kiew übernachten – nachdem sein Pilot in der Dassault Falcon 8X allein nach Berlin zurückgeflogen ist. Er sei „gewappnet dafür, dass der Angriff kommen kann, wenn ich dort bin“, sagte er im RND-Interview. Als die Invasion am nächsten Tag dann tatsächlich begonnen hat, erfuhr er von seinem ukrainischen Kollegen, „dass er jetzt meinen Schutz nicht mehr garantieren könne“.

Es war Krieg.

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