„Verkommen und unterwürfig“Russischer Soziologe „schockiert“ von Putin-Treue seiner Landsleute

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Seit Kriegsbeginn bekommt der russische Präsident Wladimir Putin in seinem Land hohe Zustimmungswerte in Umfragen. (Archivbild)

Seit Kriegsbeginn bekommt der russische Präsident Wladimir Putin in seinem Land hohe Zustimmungswerte in Umfragen. (Archivbild)

Im Jahr 2017 erhielt Lew Gudkow, Leiter des Lewada Zentrums, in Köln den Lew-Kopelew-Preis. Die Zahlen des Soziologen bieten bis heute einen Blick in die russische Gesellschaft, die Wladimir Putin massiv unterstützt. 

Meinungsforschung in Russland ist schwierig – unabhängige westliche Institute sind nicht vor Ort. Die einzigen professionell erhobenen Zahlen liefert seit Kriegsbeginn das Lewada Zentrum unter der Leitung des russischen Soziologen Lew Gudkow. Monatlich veröffentlichen Gudkow und sein Team die Ergebnisse ihrer Erhebungen – so nun auch für den Februar 2023. Demnach ist die Unterstützung für den Kurs des Kremls zu Jahresbeginn in Russland weiter gestiegen.

77 Prozent der Befragten unterstützen den Zahlen zufolge das Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine. 48 Prozent dieser Gruppe beantworten die Frage sogar mit „definitiv ja“, die anderen mit „eher ja“. Nur sieben Prozent der befragten Russen äußerten demnach eine klare Ablehnung gegenüber dem Krieg, der in Russland weiterhin „militärische Spezialoperation“ genannt werden muss.

Russische Gesellschaft teilt Kriegsziele Wladimir Putins

Weniger eindeutig zeigen sich die Ergebnisse unterdessen in der Frage, ob Verhandlungen aufgenommen werden sollten. Immerhin 21 Prozent der Befragten sprechen sich für eine diplomatische Lösung aus, weitere 29 Prozent sind „eher“ dafür. 43 Prozent halten davon dagegen nichts – sie sprechen sich für eine Fortsetzung des Krieges aus.

Die Zahlen zur Unterstützung für den Krieg und zu möglichen Verhandlungen scheinen zunächst widersprüchlich zu sein. Doch das sei bereits häufig beobachtet worden, erklärte Juliane Fürst vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in einem Gastbeitrag für N-TV. „Was gegensätzlich erscheint, muss nicht unbedingt auf Fehler in den Umfragen hindeuten. Im Gegenteil, widersprüchliche Meinungen sind in Russland nichts Neues“, so Fürst. 

Kremlsprecher Dmitri Peskow stellt klar: „Kriegsziele“ sind nur „mit militärischen Mitteln“ erreichbar

Zumal sich die Bedingungen, unter denen die Russen eine Verhandlungslösung befürworten würden, in den Umfrageergebnissen ebenfalls deutlich niederschlagen. Lediglich für 24 Prozent der Befragten wäre es demnach akzeptabel, wenn die von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebiete Saporischschja und Cherson bei einer Friedenslösung ukrainisch bleiben würden.

Noch eindeutiger fällt die Ablehnung aus, wenn es um den Donbass geht: 71 Prozent halten es für inakzeptabel, wenn Luhansk und Donezk nicht zu Russland gehören würden. Noch mehr Ablehnung gibt es bei den Russen nur für einen Nato-Beitritt der Ukraine – 76 Prozent der Befragten würden ein Friedensabkommen ablehnen, das Kiew den Weg in das westliche Militärbündnis gestattet.

Zahlen des Lewada-Zentrums: Hohe Zustimmungswerte für Wladimir Putin

Damit zeigt sich die russische Bevölkerung weiterhin auf Kreml-Linie: „Wir müssen unsere Ziele erreichen. Jetzt ist dies unter der gegenwärtigen Position des Kiewer Regimes nur mit militärischen Mitteln möglich. Daran hat sich nichts geändert“, erklärte Sprecher Dmitri Peskow noch am Montag.

„Alle Forderungen Moskaus sind bekannt, die De-facto-Situation und die neuen Realitäten sind ebenso bekannt. Ohne Berücksichtigung dieser Problematik ist der Übergang in eine friedliche Richtung unmöglich“, führte Peskow aus, der damit unterstrich, dass Russland weiterhin Landgewinne als Kriegsziel verfolgt. Während im Westen viele Stimmen immer lauter auf Verhandlungen drängen, sind diese im Kreml also derzeit offensichtlich gar nicht gewünscht.

Russischer Soziologe Lew Gudkow: Nur ein „sehr kleiner Teil“ ist gegen Wladimir Putin

Nicht nur die Unterstützung für den Krieg scheint in Russland weiterhin hoch, auch Kremlchef Wladimir Putin ist laut Lewada Zentrum derzeit so beliebt wie lange nicht mehr. Ganze 83 Prozent der rund 1.600 Befragten zeigten im Januar Unterstützung für den Kurs des russischen Präsidenten – der seine Beliebtheit durch den Krieg gegen die Ukraine den Daten zufolge massiv steigern konnte. Genau zwölf Monate zuvor, im Januar 2022, stellten sich lediglich 69 Prozent der Russen hinter die Politik des Kremlchefs – wenig später folgte der Überfall auf die Ukraine. 

Soziologe Gudkow zeigte sich zuletzt „schockiert“ von den hohen Zustimmungswerten für den Kreml bei seinen Landsleuten. Die Gesellschaft habe sich als „verkommener, unterwürfiger und passiver“, erwiesen, als er gedacht hätte, erklärte Gudkow im Februar im Gespräch mit der polnischen Zeitung „Noyaya Polsha“.

Keine Opposition mehr in Russland: „Jeder Protest, jeder Widerstand wird massiv und schamlos unterdrückt“

Man könne von einem „amoralischen Zustand“ sprechen, der durch „Apathie, Opportunismus und Zynismus“ gekennzeichnet sei, beschrieb der Soziologe die Gesellschaft in Russland. Lediglich „ein sehr kleiner Teil“ von zehn bis zwölf Prozent der Russen sei ausdrücklich gegen Putin und den Krieg. Bei allen anderen bekomme Putin „mit militärischer Rhetorik und Demagogie eine sehr große Resonanz“, erklärte Gudkow.

Die hohen Zustimmungswerte trotz massiver Verluste an der Front erklärt Gudkow mit der staatlichen Medienzensur in Russland. Opferzahlen würden nicht veröffentlicht, die Bevölkerung bekomme kaum belastbare Informationen zum Krieg gegen die Ukraine. Zudem gebe es in Russland keine Opposition mehr, die auf Misstände hinweisen könnte, erklärte der Soziologe. „Jeder Protest, jeder Widerstand wird massiv und schamlos unterdrückt.“

Lew Gudkow über Soziologie in Russland: „Pathologen einer toten Demokratie“

Wie lange Gudkow und das Lewada-Center ihre Arbeit noch fortsetzen können, sei unterdessen offen, so der Soziologe. „Sobald wir anfangen, einen Rückgang der Zustimmungsraten für Putin zu zeigen, werden wir aufgefressen und liquidiert“, so Gudkow. Bis dahin sieht sich der Soziologe als „Pathologe einer toten Demokratie“, es bleibe nur noch „eine Diagnose zu stellen und den Grund für den Tod des Patienten herauszufinden“.

Das Lewada-Zentrum ist ein Meinungsforschungsinstitut in Russland. Das Zentrum wurde nach seinem Gründer, dem ersten sowjetischen Professor der Soziologie, Juri Lewada, benannt. Es ist das einzige vom russischen Staat unabhängige Meinungsforschungsunternehmen im Land. 2016 wurde das Lewada-Zentrum in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft. Soziologe Gudkow wurde im Jahr 2017 in Köln mit dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte ausgezeichnet.

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