Angela Merkel trifft in Ungarn erst Viktor Orbán und sorgt dann mit einem Interview für Wirbel. Die Reaktionen fallen eindeutig aus.
„Wahnvorstellungen“ und „Tiefpunkt“Merkel spricht über Kriegsgründe – und erntet Entrüstung aus Osteuropa

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit Interview-Aussagen für Ärger in Osteuropa gesorgt. (Archivbild)
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Bereits ein überraschendes Treffen mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in der letzten Woche hatte für Aufsehen gesorgt, nach einem Interview mit dem ungarischen Nachrichtenportal „Partizan“ trifft Angela Merkel nun jedoch eine wahrhaftige Kritikwelle. Die Altkanzlerin hatte zuvor in dem Interview brisante Aussagen geliefert und behauptet, Polen und die baltischen Staaten hätte eine Annäherung zwischen der Europäischen Union und Russland verhindert. Vielerorts wurden die Aussagen daraufhin so interpretiert, als habe Merkel den Ländern eine Mitschuld am Entstehen des russischen Kriegs gegen die Ukraine zugesprochen.
Nach Merkels Darstellung habe sie 2021 vorgeschlagen, ein neues Dialogformat mit Kremlchef Wladimir Putin zu schaffen, um die Beziehungen zu Moskau zu stabilisieren. Mehrere osteuropäische Länder hätten diesen Vorschlag jedoch abgelehnt – aus Sorge, die EU könne keine einheitliche Linie finden, berichtete die CDU-Politikerin jetzt.
Angela Merkel: Auch Corona-Pandemie hatte Anteil
Das Scheitern eines neuen Dialogs mit Putin habe schließlich zur weiteren Eskalation geführt, erklärte Merkel. „Dann bin ich aus dem Amt geschieden, und dann hat die Aggression Putins begonnen“, führte die Altkanzlerin aus, die jedoch auch die Corona-Pandemie für eine zunehmende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen verantwortlich machte.
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„Wenn man sich nicht treffen kann, wenn man nicht Auge in Auge die Meinungsunterschiede austragen kann, dann findet man auch keine neuen Kompromisse“, erklärte Merkel. Persönliche Gespräche mit Putin seien jedoch nicht mehr möglich gewesen, da der Kremlchef das Virus gefürchtet und sich nahezu vollständig isoliert habe, um eine Ansteckung zu vermeiden.
Altkanzlerin Merkel: „Jetzt haben sich die Zeiten geändert“
Lob gab es von der früheren Kanzlerin, die in ihrer Amtszeit auf eine Annäherung an Russland gesetzt hatte, derweil für die USA. Ob unter Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden – Washington habe immer eine ähnliche Linie zu den Europäern verfolgt, befand Merkel. So habe man sich mit dem damaligen US-Präsidenten Biden bereits 2021 darauf geeinigt, dass die Nordstream-2-Pipeline sofort abgeschaltet werden sollte, wenn Putin Erdgas „als Waffe einsetzen“ sollte. So sei es dann unter Kanzler Olaf Scholz auch geschehen, erklärte Merkel.
Genau sagen könne man gleichwohl nicht, was tatsächlich zum Kriegsausbruch geführt habe, erklärte die Altkanzlerin jedoch auch. „Jetzt haben sich die Zeiten geändert und jetzt müssen wir schauen, wie wir es schaffen, uns friedensfähig zu machen, indem wir eine wirkliche Abschreckung darstellen und gleichzeitig die Ukraine unterstützen“, lautete Merkels Fazit.
Ex-Ministerpräsident von Polen: „Unüberlegtes Interview“
In Osteuropa kamen die Aussagen der Altkanzlerin nicht gut an. „Angela Merkel hat mit ihrem unüberlegten Interview bewiesen, dass sie zu den deutschen Politikern gehört, die Europa im letzten Jahrhundert am meisten geschadet haben“, schrieb etwa der ehemalige polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei X.
Auch aus dem Baltikum folgte prompt eine Reaktion: Dass Merkel die baltischen Staaten und Polen für den Krieg mitverantwortlich mache, sei nicht nur „absurd“, sondern „unverschämt“, kommentierte etwa der lettische Europapolitiker Rihards Kols die Worte der CDU-Politikerin.
Baltikum: „Europa zahlt den Preis für ihre Wahnvorstellungen“
„Diejenige, die Russlands offensichtliche Aggression mit neuen Pipelines belohnt hat, belehrt nun diejenigen, die sich geweigert haben, Beschwichtigung und Selbstzerstörung zu feiern“, fügte der Lette mit Blick auf Merkels Engagement für den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland an. „Vielleicht ist ernsthafte Selbstreflexion – und nicht Geschichtsrevisionismus – angebracht“, fand Kols deutliche Worte. „Denn Europa zahlt den Preis für ihre Wahnvorstellungen.“
Der estnische Außenpolitiker Marko Mihkelson zeigte sich ebenfalls irritiert. Den baltischen Staaten und Polen „die Schuld dafür zu geben, dass sie Russlands imperialistischen Krieg ausgelöst haben“, sei ein neuer Tiefpunkt für Merkel, schrieb der Este bei X. „Leider wirft dies einen Schatten auf ihre gesamte Amtszeit als deutsche Bundeskanzlerin. Von Nord Stream will ich hier gar nicht erst anfangen“, fügte Mihkelson an.
Kritik an Merkel auch aus Deutschland und den USA
Ähnlich äußerte sich der amerikanische Kongressabgeordnete Don Bacon. „Bundeskanzlerin Merkel war die deutsche Regierungschefin, die Russland als Deutschlands wichtigste Energiequelle auswählte“, schrieb der Republikaner bei X zu den Aussagen der ehemaligen Kanzlerin.
Auch in Deutschland wurde zu Wochenbeginn scharfe Kritik an Merkel laut. Der ehemalige Finanzminister Sachsen-Anhalts, Karl-Heinz Paqué, sprach von „unerträglichen“ Äußerungen der früheren Kanzlerin. Merkel sei „selbstzufrieden und eitel“ und habe „in ihrem Urteil“ stets „alles richtig gemacht“, schrieb der FDP-Politiker bei X. „Reformstau, Flüchtlingszustrom, Russlandpolitik … Schuld haben immer die anderen – jetzt Balten und Polen“, fügte Paqué an.
„Ich kann die Nachsicht gegenüber Merkel nicht verstehen“
„Ich kann die Nachsicht gegenüber Merkels desaströser Russland- und Osteuropapolitik noch immer nicht verstehen“, kritisierte auch der ehemalige Bundestagsabgeordnete Michael Roth bei X. „Deutschland muss sich diesen Versäumnissen endlich stellen – nicht um Schuld zuzuweisen, sondern um daraus zu lernen“, fügte der frühere SPD-Politiker hinzu und forderte, die Medien müssten Ex-Kanzlerin Merkel „mit ihrer gescheiterten Russland-/Osteuropa-Politik so rannehmen, wie sie das – völlig zu Recht – mit der SPD getan haben.“
Kremlkritiker wie der britische Menschenrechtsaktivist Sir William Browder quittierten Merkels Worte ebenfalls mit deutlicher Ablehnung. „Kein Wunder, dass Deutschland unter ihrer Führung eine so katastrophale Russlandpolitik verfolgt hat“, schrieb Browder bei X und fügte hinzu: „Gut, dass sie weg ist.“
Der deutsche Osteuropa-Experte Thomas Dudek zog angesichts der Ungarn-Reise der Altkanzlerin unterdessen einen Vergleich zu Merkels Vorgänger Gerhard Schröder (SPD), der für seine russlandfreundliche Haltung und die Freundschaft zu Kremlchef Putin immer wieder in die Kritik geriet.
Im Gegensatz zu Schröder habe Merkel nach ihrem Abschied aus dem Bundeskanzleramt „vieles richtig gemacht“, erklärte der Experte. Die jüngste Ungarn-Reise gehöre jedoch „nicht dazu“, schrieb Dudek bei X bereits nach Merkels Fototermin mit Orban, noch bevor die Altkanzlerin mit ihrem Interview für neuen Wirbel sorgte.