Seit 35 Jahren begehen die Deutschen den 3. Oktober mit einem Festakt und großen Reden. Doch was ist davon seit 1990 hängengeblieben?
Tag der Deutschen EinheitEin Nationalfeiertag ohne echte Begeisterung

Berlin vor 35 Jahren: Mit einem Feuerwerk am Brandenburger Tor feierten rund eine Million Menschen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die deutsche Wiedervereinigung. Auf der Tribüne standen Kohl, Weizsäcker, Brandt und andere Spitzenpolitiker.
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„Jetzt muss die Nationalhymne kommen.“ Bundespräsident Richard von Weizsäcker raunt den Satz dem Bundeskanzler zu: Helmut Kohl, dem Kanzler der Einheit. Als wären nicht die Mikrofone offen, als hätte Weizsäcker nicht gerade mit drei besonders feierlichen Sätzen die deutsche Einheit begrüßt, die vor ein paar Sekunden, Schlag Mitternacht, mit Beginn des 3. Oktober 1990 wirksam geworden ist. „Vollendet“ wurde, wie Weizsäcker sagt.
Der Countdown zur Wiedervereinigung wird von unzähligen Sendern übertragen. Feuerwerk und Glockengeläut sind so laut, die Lautsprecher hallen derart über den Platz der Republik vor dem Berliner Reichstag, dass Weizsäcker kaum zu verstehen ist.
Der Rest ist Geböller
Er spricht von Einheit und Freiheit, von der Verantwortung vor Gott und den Menschen, zum Schluss sagt er: „Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen!“ Dann ertönt die gewünschte Hymne, Kanzlergattin Hannelore Kohl ruft, ihrem Mann oder dem Bundespräsidenten, wer weiß, noch zu: „Sag was zur Hymne!“ Doch der Chor schmettert bereits „für das deutsche Va-ter-land“, der Rest ist Geböller und Jubel.
Der offizielle Staatsakt zur Deutschen Einheit mit den echten Ansprachen folgt erst ein paar Stunden später, aber in dieser leicht verstolperten, halb improvisierten Begrüßung des 3. Oktober ist schon alles enthalten, was den Feiertag seitdem ausmacht: Bundespräsidenten und -kanzler, Jubel über Einheit und Freiheit, aber kaum Emotionen und noch weniger Nationalismus. Stattdessen Europa und Frieden. Und irgendwann muss die Nationalhymne kommen.
Seit 35 Jahren gedenken die Deutschen nun Jahr für Jahr am 3. Oktober so ihrer Wiedervereinigung: Während die Medien dann vor allem an die Jahre der Teilung und an den Mauerfall erinnern, hat der Staatsakt am Feiertag eine eigene Entwicklung genommen – die viel über die Entwicklung des vereinten Landes sagt.
Nationales Trara, Fanfaren und Tschinellen sind das letzte, was wir dabei brauchen können
Begonnen hat alles mit einer gewissen Verdruckstheit: Während Franzosen, Briten, US-Amerikaner Volk und Vaterland mit Militärparaden, Flugshows und Feuerwerk feiern, gehen es die Deutschen kleiner an, nachdenklicher.
Wenn es um „die Liebe zu unserem Land“ gehe, würden sich die Deutschen „ausgesprochen leiser Töne befleißigen“, brachte das Bundespräsident Roman Herzog in seiner Einheitsrestrede 1994 auf den Punkt: „Nationales Trara, Fanfaren und Tschinellen sind das letzte, was wir dabei brauchen können.“
So wie schon das Datum für den Einheitstag umstritten war und es am Ende einfach der frühestmögliche Stichtag zum Beitritt der Ex-DDR nach Durchlauf aller Instanzen wurde, so sollte auch das Fest selbst internationalen Ängsten vor einem wiedererwachenden Großdeutschland entgegenwirken. Im Zentrum steht eine dezente Feier, das vereinte Europa und der Föderalismus: Ein Wanderzirkus der Würdenträger tingelt jährlich von Bundesland zu Bundesland, Gastgeber der „zentralen“ (nicht nationalen!) Feier ist der turnusmäßige Bundesratsvorsitz.
Der protokollarische Teil bleibt gleich: Gottesdienst, Festakt mit Reden des oder der gastgebenden Ministerpräsident/in sowie entweder der Kanzler/in, Bundestagspräsident/in oder des Bundespräsidenten. Fürs Volk gibt es ein „Bürgerfest“: Zuckerwatte statt Salutschüsse.
Was sich in den 35 Jahren allerdings geändert hat, ist Deutschland. Wirtschafts- und Finanzkrisen hinterließen Spuren, das Internet kam auf, nach 9/11 kamen Krieg, Flüchtlinge und Brexit, nach Corona der Ukrainekrieg. Und so beließen es die Festredner nicht bei Friede, Freude, Einigkeit.
Schon Weizsäcker als erster gesamtdeutscher Bundespräsident hält sich nicht lange mit der Rückschau auf. Dass es „die Geschichte dieses Mal gut mit uns Deutschen gemeint“ habe, sei auch „Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung“, sagt er schon 1990. Das eigene Volk mahnt er: „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen.“ Und nach außen beruhigt er, die Einheit sei „Teil eines gesamteuropäischen Prozesses, der eine neue Friedensordnung unseres Kontinents zum Ziel hat“. Es ist der Traum jener Jahre.
Dankbarkeit gegenüber Russland
Auch alle anderen Redner des ersten Einheitsfests – und viele der kommenden Jahre – danken der Sowjetunion unter Gorbatschow, beschwören die Aussöhnung. Erst spät kühlt der Ton gegenüber Russland ab: 2021, vier Monate vor dem großen Ukraine-Krieg, spricht Angela Merkel in ihrer Festrede nur noch davon, dass nach dem Druck aus Osteuropa „die damalige Sowjetunion die Überwindung des Kalten Krieges geschehen ließ“.
Weitblick beweist bereits 1990 Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU): Sie ruft die Deutschen zu „Solidarität in ganz Europa und im Nord-Süd-Konflikt“ auf. Und tatsächlich: Obwohl das Land noch zwei Jahrzehnte eher mit sich selbst beschäftigt ist, werden es die Krisen in Europa und im globalen Süden sein, die aus Unzufriedenheit vieler eine Bedrohung für das ganze Land werden lassen – jedenfalls aus Sicht der Festredner der letzten zehn Jahre.
Warnungen gab es im Rahmen der „Selbstbesinnung“ am Einheitstag zuhauf: Schon 1992 war die Euphorie einer Katerstimmung gewichen, Weizsäcker zeichnet am 3. Oktober ein düsteres Bild aus „unerträglicher“ Massenarbeitslosigkeit im Osten, Enttäuschung und Gewalt. Gleich nebenan hatte, wenige Wochen vor dem Staatsakt in Schwerin, das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen die Welt schockiert.
Die „Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland“ sei auch in fünf Jahren nicht erreichbar, warnt Weizsäcker. Und bekommt 34 Jahre später Recht, als der damalige Kanzler Olaf Scholz, erneut in Schwerin, auch 2024 diese Formel bei der bislang letzten Einheitsfeier wiederholt.
Würdigung der Ostdeutschen
Gedankt wurde den Ostdeutschen zwar in jedem Jahr: Weizsäcker lobte 1990 in Berlin ihre „gelebte menschliche Solidarität“, Roman Herzog nannte sie 1998 in Hannover „mutig, klug und friedfertig“, Johannes Rau bezeichnete 2000 in Dresden ihren „Freiheitskampf“ als „wichtigsten Beitrag zur deutschen Einheit“. Doch irgendwann wird klar, dass Feiertagsreden nicht ausreichen. Die Redner mahnen, die Sorgen der Ostdeutschen ernster zu nehmen; das „Noch immer!“ in der Klage über unterschiedliche Lebensverhältnisse wird dringlicher.
Zuvor taucht allerdings ein neuer Aspekt „innerer Einheit“ in den Festreden auf, der sich später als Teil eines gemeinsamen, größeren Problems erweist: die Integration der Zugewanderten. Schon seit 1997 laden die deutschen Muslime an jedem 3. Oktober zum „Tag der offenen Moschee“ – um zu zeigen, dass sie Teil Deutschlands sind.
Wulff und der Islam
Doch erst 2010 löst Bundespräsident Christian Wulff mit der einzigen Einheitsrede seiner Karriere das wohl größte Echo aller Einheitsreden aus: In Bremen verbindet er sein Lob für den inzwischen „unverkrampften Patriotismus“ mit seinem berühmt gewordenen Aufruf zur Integration: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Der Widerspruch der Konservativen ist riesig.
Ironie der Geschichte: Wulff hatte in derselben Rede gesagt, die „Bereitschaft zur Veränderung“ der Ostdeutschen nach der Wende sei „bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden“. Nur fünf Jahre später ergaben beide Themen zusammen eine brisante Mischung.
Zuvor aber hatte Deutschland einen historischen Einschnitt erlebt: Mit Angela Merkel wird 2005 die erste Ostdeutsche Bundeskanzlerin. Was dennoch schiefläuft zwischen Ost und West, zeigt der Vergleich ihrer ersten mit ihrer letzten Einheitsrede: 2006 schildert sie in Kiel ihre persönliche Euphorie nach dem Mauerfall; die Ideen, die sie als Ostdeutsche in die Politik einbringen will; die Fehler im Westen, die ihr auffielen. 15 Jahre später hält sie, 2021 in Halle/Saale, wieder eine persönliche Rede: Nun geht es darum, dass ihre 35 DDR-Lebensjahre als „Ballast“ bezeichnet wurden, sie selbst als „angelernte Bundesdeutsche und Europäerin“.
Da war längst klar, dass auch sie Ost und West nicht versöhnt hatte. Im Gegenteil: Ihre Flüchtlingspolitik von 2015/2016 hatte weite Teile Ostdeutschlands endgültig entfremdet.
Beim Einheitsfest 2015 in Frankfurt/Main hatte Bundespräsident Joachim Gauck, ebenfalls Ostler, das Thema kurz nach Merkels „Wir schaffen das“ ins Zentrum seiner Ansprache gestellt. Ausgerechnet zum 25. Jahrestag der Vereinigung mahnte er, Deutschland könne sich nicht ausruhen: Angesichts der Flüchtlinge „stellt sich die Aufgabe der inneren Einheit neu“, so Gauck. „Wie 1990 erwartet uns alle eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird. Doch anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte.“ Das waren skeptischere Töne als bei Merkel, zumal Gauck von begrenzten Möglichkeiten sprach.
Doch ein Jahr später zeigte sich am Rande des Oktober-Staatsaktes, dass viele Deutsche dennoch nicht mitgingen. Der Zufall wollte es, dass die Gastgeberstadt 2016 ausgerechnet Dresden war, die Hauptstadt der „Pegida“-Bewegung, die gegen Migration und „Islamisierung“ Zehntausende auf die Straße gebracht hatte.
„Haut ab! Haut ab!“
Schon beim Eintreffen wurden die offiziellen Gäste von Hunderten Demonstranten ausbuht und mit Parolen wie „Volksverräter“ und „Haut ab“ empfangen. Gauck, Merkel, Bundestagspräsident Norbert Lammert und weitere Spitzenpolitiker gingen durch ein Spalier von aggressiven Pfiffen, Schmährufen und Transparenten. Seit 1990 waren wenige Höhepunkte von den Einheitsfeiern im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben, der Tiefpunkt von 2016 brannte sich ein.
In seiner Festrede im Folgejahr in Mainz sprach der neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – auch unter dem frischen Eindruck des erstmaligen Einzugs der AfD in den Bundestag - von neuen Mauern: „Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut, die bei manchen so fest geworden sind, dass Argumente nicht mehr hindurchdringen.“
Wenn nun, im Jahr 35 der Einheit, die Feier im Saarland stattfindet, sind diese Mauern nicht überwunden. Das liegt auch an den Krisen, die sie seit 2017 verfestigten: Corona, Ukraine, Ampel, Gaza. Im vorigen Jahr lief der Festakt zur Einheit in der „Tagesschau“ nicht einmal mehr unter den Top-Nachrichten.
Die Festredner 2025 sind SPD-Ministerpräsidentin Anke Rehlinger als Gastgeberin, der neue Bundeskanzler Friedrich Merz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der als als Gastredner anreist. Die beiden Ostdeutschen Joachim Gauck und Angela Merkel haben abgesagt.