Ukrainische Soldaten an der FrontZwischen Geschützfeuer und Mäusen in den Baracken

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Ein ukrainischer Soldat isst in seiner Stellung in der Nähe der Frontlinie bei Bachmut ein Stück Brot.

Ein ukrainischer Soldat in seiner Stellung in der Nähe der Frontlinie bei Bachmut.

An der ukrainischen Ostfront haben sich beide Seiten in Schützengräben festgesetzt. Es wird mit Drohnen gekämpft und mit Feldtelefonen kommuniziert.

Die Schnellstraße von Slowjansk nach Bachmut führt direkt zur Front, weswegen man am besten mit Vollgas fährt. Hier gibt es weder Bäume noch andere Deckung, der nervöse Fahrer der ukrainischen Grenzschutztruppen sagt, die Straße sei eine der gefährlichsten überhaupt, jede Bewegung würden die russischen Gegner aus der Luft sehen. Krater im Asphalt untermauern seine Aussage. An diesem Morgen herrscht blauer Himmel, bestes Wetter für russische Drohnen. Der Soldat drückt das Gaspedal durch, bis er an einem Waldstück abrupt nach rechts abbiegt und den Pickup unter Baumkronen versteckt.

In diesem Waldgebiet haben sich die ukrainischen Grenzschutztruppen eingegraben. In einem anderen Waldstück, je nach Frontabschnitt 1000 bis 2000 Meter östlich, haben die russischen Besatzer ihre Stellungen befestigt. Dazwischen liegt ein offenes Feld, was einen Vormarsch für beide Seiten zum Blutbad machen könnte. Deswegen bewegt sich hier seit mehr als einem halben Jahr kaum etwas.

Zwar rücken südlich der symbolträchtigen Stadt Bachmut, die die Russen im Mai eingenommen haben und die etwa 20 Kilometer entfernt liegt, die Ukrainer vor. Oberstleutnant Sergij Osatschuk von den Grenzschutztruppen glaubt, dass das Ziel, Bachmut einzukreisen, in den nächsten Wochen erreicht werden könnte. In diesem Abschnitt im Nordwesten aber hat sich die Front seit Monaten nicht bedeutend verschoben, auch nicht während der Gegenoffensive, die im Juni im Süden und Osten der Ukraine begonnen hat und die bislang eher schleppend verläuft.

Verluste auf beiden Seiten

Stattdessen ist dieser Abschnitt zu einem bitteren Beispiel für den Abnutzungskrieg geworden, der den Ukrainern vom russischen Präsidenten Wladimir Putin aufgezwungen worden ist – und der jeden Tag etliche Menschenleben kostet. Ukrainische und russische Truppen spähen sich hier gegenseitig mit Aufklärungsdrohnen aus, und sie beschießen sich fast rund um die Uhr mit Artillerie- und Mörsergranaten. Beide Seiten haben Verluste, konkrete Zahlen nennen sie nicht. Die Ukrainer geben aber an, dass die Russen mehr Soldaten verlieren.

Die Russen hatten die Gegend nach dem Einmarsch vor gut eineinhalb Jahren zunächst erobert, dann konnten die Ukrainer die Invasoren im Herbst vergangenen Jahres zurückdrängen, nun stehen sich hier beide Seiten unerbittlich gegenüber. Auf den Bildern, die die ukrainischen Drohnen zurückfunken, sieht der russisch kontrollierte Teil nach all den Artilleriegefechten wie eine Mondlandschaft aus. Der Erde ist voller Krater, die Bäume sind entlaubt und verkohlt.

Auf der ukrainischen Seite sitzt Émilien in einem dunklen Erdloch, der 20 Jahre alte ukrainische Soldat möchte nach einem französischen Filmhelden genannt werden. Während draußen die Artillerie donnert, hat er die Fernbedienung einer handelsüblichen Mavic-3-Drohne in der Hand, die man in Elektronikmärkten in Deutschland für knapp 2000 Euro kaufen kann. An der Funksteuerung ist ein Bildschirm befestigt, der zeigt, was die Drohnenkamera sieht. Émilien hat einen russischen Trupp entdeckt, der Kabel verlegt – und den er als Ziel vormerkt.

Die Drohne braucht jetzt aber erst einmal einen neuen Akku, Émilien steuert das Fluggerät zurück auf seine Seite der Front. Nach der Landung auf einer Lichtung lässt er einen Kameraden eine Handgranate mit einer improvisierten Abwurfvorrichtung an dem Fluggerät anbringen, um den russischen Trupp anzugreifen. Sprengsätze auf Knopfdruck abzuwerfen, das ist in der Bedienungsanleitung der Mavic-3 nicht vorgesehen. Die Ukrainer beweisen bei der Verteidigung ihrer Heimat aber seit jeher außerordentliches Innovationstalent.

In einem anderen Erdloch wenige Hundert Meter weiter sitzt Laser, der 38-Jährige will ebenfalls nur mit seinem Spitznamen zitiert werden. Einen Laser bedient er nicht, er ist aber Teil der vierköpfigen Besatzung eines Mörsers, also eines Granatwerfers. Die Höhle hat eine Fläche von vielleicht vier Quadratmetern, stehen kann man nicht, dafür ist sie zu niedrig. Ausgekleidet ist der Schutzraum mit schwarzer Plastikfolie. Während draußen die Artillerie donnert, rieselt drinnen Erde aufs Plastik.

Die vielen Mäuse in der Höhle quieken unablässig und haben jede Scheu verloren, sie laufen den Menschen über die Stiefel. „Die Mäuse mögen es hier, weil es warm ist“, erklärt Laser, er stört sich nicht mehr daran. Wie man es in diesem Erdloch aushalten kann? „Wir haben uns an den ständigen Artilleriebeschuss gewöhnt“, antwortet er. „Wir schlafen vielleicht zwei Stunden in der Nacht.“

Schüsse mit Granatwerfern

Von einer Drohneneinheit werden an diesem Morgen Zielkoordinaten eines russischen Verstecks durchgegeben. Zwei Soldaten, beide 20 Jahre alt, richten den Abschusswinkel und die Richtung des Granatwerfers aus. Einer der jungen Männer lässt eine Granate ins Rohr fallen, dann kauern sich beide hin und stecken die Finger in die Ohren. Es dauert einen Moment, bis das Geschoss zündet. Mit einem gewaltigen Knall steigt es in den Himmel, bevor es in einer Kurve nach unten fliegt und beim Aufprall detoniert. Fünf Granaten später melden ukrainische Drohnen-Operateure, dass das Ziel getroffen worden sei – drei russische Soldaten seien verletzt abtransportiert worden.

Solche Meldungen laufen in einer Stellung rund drei Kilometer hinter der Front zusammen, wo in einem Labyrinth aus Schützengräben die lokale Kommandozentrale der Grenzschutztruppen liegt. Verglichen mit den Höhlen an der Front wirkt das vielleicht zwölf Quadratmeter große unterirdische Hauptquartier fast wie ein Luxushotel, wie einer der Offiziere scherzt. Wände und Decke sind mit Holz ausgekleidet, im Winter kann mit einem Kanonenofen geheizt werden. In einer Ecke steht eine Figur des Heiligen Georg, er ist der Schutzpatron von Soldaten.

An einer Holzwand hängt ein Bild, das hinter Vorhängen versteckt ist. Wer den Stoff beiseite zieht, sieht – wie aus einem Fenster heraus – das märchenhafte Schloss Schwalbennest auf der Krim, jener ukrainischen Halbinsel, die Russland 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat. „Das ist unser Ziel“, sagt Hauptmann Dima Desjatnik (28). Zwischen dem Bunker an der Front und dem Schloss am Schwarzen Meer liegen allerdings rund 400 Kilometer Luftlinie, und dazwischen stehen die Russen. Ein zentrales Anliegen der ukrainischen Gegenoffensive ist es, zum Asowschen Meer vorzustoßen und so die Landverbindung zwischen Russland und der Krim zu kappen.

An anderen Wänden in der Kommandozentrale sind Monitore angebracht, über die Live-Feeds der Drohnen flimmern. In der vergangenen Nacht hat die Einheit zwei der Fluggeräte verloren, sie sind wegen russischer Störsignale nicht mehr zurückgekehrt. Auf einem Monitor ist plötzlich Bewegung zu sehen, ein russischer Soldat läuft ohne Deckung über ein Feld. Desjatnik könnte ihn töten lassen, lässt ihn aber leben – für den Tod eines einzelnen Soldaten wäre ein Beschuss zu teuer, sagt er.

In der Kommandozentrale prallt modernste Technik auf solche aus dem Ersten Weltkrieg. Die Drohnen funken über Starlink, also über das Internet-Satellitensystem von Elon Musk. Darüber kommunizieren die Soldaten auch miteinander, zusätzlich halten sie so Kontakt zu ihren Familien. In der Kommandozentrale steht aber auch ein Schaltkasten für Feldtelefone, wie sie schon vor mehr als hundert Jahren im Einsatz waren. Die Stellungen an der Front sind über Drähte verbunden, die über dem Erdboden ausgerollt wurden. Feldtelefone können nicht elektronisch gestört werden.

Oberstleutnant Yurii Zizik ist Kommandeur der Einheit. Seinen Truppen stünden an diesem Frontabschnitt ein Vielfaches an Russen gegenüber. „Es ist wirklich schwierig, diese Kakerlaken zu vertreiben“, sagt er, er meint die Besatzer. Dass die Gegenoffensive nur langsam vorankomme, liege auch daran, dass die Ukraine ihre Soldaten nicht verheizen wolle – ein Aspekt, der für die russische Führung keine Rolle spiele. Zizek ist dankbar für die Waffen, die der Westen liefert. „Natürlich hätte ich gerne mehr davon“, sagt der 36-Jährige. „Aber ich verstehe, dass Länder ihre Limits haben.“ Er sagt aber auch: „Je mehr Waffen wir haben, desto schneller siegen wir.“

In den Kampfeinheiten im Osten der Ukraine kommen alle Gesellschaftsschichten zusammen, dort finden sich Ingenieure und Lkw-Fahrer, Lehrer und Arbeiter. Da wäre zum Beispiel Bogdan, der in der Stellung nahe der Front gerade ein Frühstück mit Bratwurst und Nudeln gezaubert hat, zum Nachtisch gibt‘s Pfannkuchen. Bogdan hat 20 Jahre als Koch in einem Restaurant in Lemberg in der Westukraine gearbeitet – er ist ein kulinarischer Segen für die Einheit, da sind sich hier alle einig.

Honorarkonsul an der Front

Dann ist da Oberstleutnant Osatschuk, der 52-Jährige ist Verbindungsoffizier zwischen den Grenzschutztruppen und der Armee, vor dem Krieg war er Gouverneur der Provinz Tscherniwtsi und österreichischer Honorarkonsul. Der promovierte Historiker hat unter anderem in Wien und München studiert. Er ist stolz auf seinen 26 Jahre alten Sohn, der wie er bei den Grenzschutztruppen ist – genauso aber auch auf dessen 20 Jahre alten Bruder, der Musiker sein wolle und mit den Streitkräften „gar nichts am Hut“ habe, wie Osatschuk sagt.

Oberstleutnant Zizek wiederum hat sich schon nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 den Grenzschutztruppen angeschlossen. Er hat eine zehn Jahre alte Tochter, die er zu selten sieht. „Ich habe so viele wichtige Momente verpasst, die ersten Schritte, die sie gegangen ist, die ersten Wörter, die sie gesprochen hat“, sagt der Kommandeur. Seine Tochter wisse nicht, dass er an der Ostfront ist, sie glaube, ihr Vater schütze die Grenze in den Karpaten im ruhigeren Westen des Landes.

Wenn man Zizik fragt, was seine Einheit an der Front besonders dringend benötige, dann spricht der Kommandeur nicht von westlichen Waffensystemen. „Gebete“, antwortet er stattdessen, dabei zeigt der 36-Jährige auf zwei Schildchen, mit denen ihn seine Ehefrau überrascht hat und die an seiner Splitterschutzweste prangen. „Mein Gebet ist Deine Rüstung“, heißt es auf einem davon. Auf dem anderen steht: „Deine Mädchen sind immer an Deiner Seite.“ (RND)

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