Amputationen ohne BetäubungMilitärarzt berichtet aus Hölle von Mariupol und von Gefangenschaft

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Oleksandr Demchenko in Kiew

Oleksandr Demchenko in Kiew

Oleksandr Demchenko war im Asov-Stahlwerk und geriet dann in russische Kriegsgefangenschaft.

Aus seinem Einsatz in der von Russen belagerten Stadt Mariupol hat der ukrainische Anästhesist Oleksandr Demchenko Fotos auf dem Handy, von denen man ahnt, dass man sie nie wieder vergessen werden kann. Etwa das Bild von dem jungen Soldaten, dem ein Schrapnell die rechte Backe und Teile des Kiefers weggerissen hat. Oder das von dem abgestorbenen Bein, das ein Soldat nach einer Verwundung zwei Wochen lang mit einer Aderpresse abgebunden hatte, um nicht zu verbluten.

Das Bein gehörte zu den Dutzenden Gliedmaßen, die Militärarzt Demchenko in dem Operationssaal im Azov-Stahlwerk amputieren musste. Das Werksgelände war die letzte Bastion der ukrainischen Truppen in Mariupol. Wer überlebte, kam nach der Kapitulation in russische Kriegsgefangenschaft.

Der Kampf um Mariupol ist eines der grausamsten Kapitel im Krieg Russlands gegen die Ukraine – und gleichzeitig zum Symbol für die Beharrlichkeit der Ukrainer geworden. Schon am 6. März hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj Mariupol angesichts des Widerstands und der vielen Opfer den Status „Heldenstadt“ verliehen – ein Titel, den sonst nur Städte der ehemaligen Sowjetunion aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs tragen. Im März, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, waren in Mariupol bereits Wasser- und Stromversorgung zusammengebrochen, Lebensmittel wurden knapp, Tausende Zivilisten starben durch Raketenbeschuss.

Mariupol noch russisch besetzt

Russlands Armee bombardierte eine Geburtsklinik und wenig später das Theater im Zentrum Mariupols, in dem Hunderte Menschen Zuflucht gesucht hatten. Viele verbleibende Zivilistinnen und Zivilisten flüchteten sich schließlich in die unteriridische Bunkeranlage des Stahlwerks, das seit 1930 besteht und vom Asow-Bataillon gehalten wurde. Der russische Machthaber Wladimir Putin gab im Staatsfernsehen den Befehl aus, das Werk zu belagern und auszuhungern – „so, dass nicht einmal eine Fliege herauskommt“. Im Mai gaben die letzten Kämpfer auf und wurden russische Kriegsgefangene. Die weitgehend zerstörte ukrainische Hafenstadt ist seitdem russisch besetzt. Oleksandr Demchenko ist 31 Jahre alt, er wirkt zehn Jahre älter.

Oleksandr Demchenko zeigt ein Foto aus dem Asovstalwerk auf seinem Handy

Oleksandr Demchenko zeigt ein Foto auf seinem Handy

Der Militärarzt im Rang eines Hauptmanns gehört zu den 215 ukrainischen Kriegsgefangenen, die damals gefangen genommen und bei einem Austausch mit Russland am 21. September freigelassen wurden. Auf früheren Fotos erkennt man Demchenko erst auf den zweiten Blick. Vor dem russischen Einmarsch im Februar habe er 120 Kilogramm gewogen, sagt der ernste Mann mit den kurz geschorenen Haaren. In Mariupol und während der anschließenden russischen Kriegsgefangenschaft – einem Zeitraum von insgesamt knapp einem halben Jahr – habe er 45 Kilogramm abgenommen.

Als die Russen im Februar in der Ukraine einmarschierten, war Demchenko Anästhesist im Militärkrankenhaus in der Stadt Dnipro. Im März suchten die Streitkräfte nach Ärzten für den Einsatz in Mariupol, er meldete sich freiwillig. Mit einem Hubschrauber sei er 100 Kilometer über Feindesgebiet in die Stadt geflogen worden, wo sie sofort unter Beschuss geraten seien, sagt der Hauptmann. „Aber wir haben es nach Mariupol geschafft.“

Militärarzt Demchenko spricht über amputierte Gliedmaßen

In der unterirdischen Krankenstation im Stahlwerk hätten bei seiner Ankunft am 1. April rund 250 verwundete Soldaten gelegen, sagt Demchenko. An mehr als 1000 Operationen habe er bis zur Kapitulation und seiner eigenen Gefangennahme am 18. Mai mitgewirkt. Darunter seien mehr als 50 Amputationen gewesen. Wenn Patienten dabei bei Bewusstsein gewesen seien, hätten die Ärzte sie aufgefordert wegzusehen. „Wir wussten in dieser Zeit, dass jeder Tag der letzte sein könnte“, sagt Demchenko.

Nach der Kapitulation hätten die Besatzer ihn und andere Soldaten in ein Gefängnis in die annektierte Region Donezk in der Ostukraine gebracht. „Die Zustände dort waren sehr schlecht“, erinnert sich der Arzt. „Das Essen war furchtbar.“ Die Russen hätten über Lautsprecher Propaganda gespielt, um die Gefangenen zu demoralisieren. Besonders schlimm sei die Lage für seine Freundin und seine Eltern gewesen. „Sie wussten nicht, wie es uns geht, und unter welchen Konditionen wir festgehalten werden. Für sie war es die totale Ungewissheit.“

Er selbst sei nicht gefoltert worden. Der Frage, ob Mitgefangene misshandelt worden seien, weicht der Hauptmann aus. Dazu könne er keine Aussage treffen, sagt er, weil nach Ansicht des ukrainischen Verteidigungsministeriums weitere Gefangenenaustausche mit Russland gefährdet werden könnten. An die Genfer Konvention hätten sich die Russen nicht gehalten, sagt er. Mitarbeitende des Roten Kreuzes hätten keinen Zugang zu Gefangenen gehabt.

Austausch von Gefangenen

Tatsächlich wurden Anfang November weitere Offiziere und Soldaten ausgetauscht, die im Frühjahr das Azov-Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol verteidigt haben. Unter den Kriegsheimkehrern seien einige Schwerverletzte mit infizierten Wunden, verstümmelten Gliedmaßen und Verbrennungen gewesen. Das Moskauer Verteidigungsministerium wiederum teilte mit, die russischen Soldaten seien in ukrainischer Gefangenschaft in „Lebensgefahr“ gewesen. Sie seien mit Flugzeugen nach Moskau zur Behandlung in Militärkrankenhäuser gebracht worden. Auch die Ukraine sicherte ihren Soldaten zu, dass sie jede Hilfe erhielten.

In dem seit fast neun Monate dauernden russischen Angriffskrieg hatten Moskau und Kiew schon mehrfach Gefangene ausgetauscht. „Viele von unseren Leuten wurden schon im März verwundet“, sagte der Chef des Präsidialamtes in Kiew, Andrij Jermak, der auch ein Video und Fotos mit einigen Freigelassenen veröffentlichte. „Der Staat wird alles tun, um ihnen zu helfen.“ Unter den verletzten Kriegsheimkehrern sei auch ein Kämpfer, der im Juli die schwere Explosion in dem Gefangenenlager Oleniwka bei Donezk überlebt habe.

Oleksandr Demchenko erzählt, als vor dem Gefangenenaustausch sein Name aufgerufen wurde, habe er nicht geahnt, was ihm bevorstehe. „Ich dachte, ich werde an einen anderen Ort verlegt.“ Mit Lastwagen, Flugzeugen und Bussen seien er und andere Soldaten zwei Tage lang gefesselt und mit verbundenen Augen durch die Gegend transportiert worden – ohne Essen, ohne Trinken, ohne die Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen.

Während der Kriegsgefangenschaft habe er seinen Überlebenswillen daraus gezogen, „dass wir für die Freiheit unseres Landes kämpfen“, sagt er. „Unser Feind bringt nur Tod und Zerstörung.“ Er habe sich an dem Gedanken festgehalten, irgendwann nach Hause zurückzukehren. „Die Flut an Emotionen ist aber so unendlich viel größer, wenn du dann wirklich wieder zu Hause bist“, sagt der Arzt, es ist das erste Mal in dem Gespräch, dass er lächelt. „Das kann man sich vorher überhaupt nicht vorstellen.“

Zivilisten werden verschleppt

Aber nicht nur Militärangehörige werden in diesem Krieg gefangen genommen. Nach Angaben von Amnesty International haben russische Soldaten in den vergangenen Monaten auch zahlreiche ukrainische Zivilisten verschleppt. Sie seien nach Russland oder weiter ins Innere der russisch kontrollierten Gebiete gebracht worden. Auch Kinder wurden laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation von ihren Familien getrennt. Zudem gebe es Fälle von willkürlichen Festnahmen sowie Folter und andere Misshandlungen. All dies deute auf eine bewusste und systematische russische Politik hin, die Teil eines umfassenden Angriffs auf die Zivilbevölkerung sei.

Die meisten für den Amnesty-Bericht Befragten, insbesondere diejenigen aus Mariupol, beschrieben demnach Zwangssituationen, in denen sie faktisch keine andere Wahl hatten, als nach Russland oder in andere russisch besetzte Gebiete zu gehen. Laut Amnesty handelt es sich um Kriegsverbrechen. Das Völkerrecht verbiete Einzel- und Massenzwangsverschickungen von geschützten Personen, etwa von Zivilisten, aus besetzten Gebieten.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar sind nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft mehr als 8300 Zivilisten getötet worden. Unter ihnen seien 437 Kinder, teilte Generalstaatsanwalt Andrij Kostin nach Angaben des Internetportals „Unian“ vom Sonntag mit. Mehr als 11 000 Menschen seien in dem fast neun Monate andauernden Krieg verletzt worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte Kostin zufolge aber höher liegen, da ukrainische Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten noch keinen Zugang hätten. (RND, Can Merey)

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