An der Grenze zu Estland tauchen uniformierte Truppen auf – und wecken Erinnerungen an die Krim. Russland setzt weiter auf Provokation.
„Europäern den Rest geben“Was steckt hinter Putins „kleinen grünen Männchen“ an der Nato-Grenze?

Russische Soldaten stehen vermummt und ohne Hoheitszeichen auf einer Straße nahe der Grenze zu Estland – und wecken Erinnerungen an die „kleinen grünen Männchen“ auf der Krim im Jahr 2014.
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Plötzich waren sie da – und weckten prompt düstere Erinnerungen an den Auftakt zu Russlands Krieg gegen die Ukraine: Auf einer estnischen Straße, die für wenige Meter durch Russland führt, zeigte sich am Freitag eine kleine Gruppe uniformierter, bewaffneter Männer ohne direkt erkennbare Hoheitsabzeichen – mitten auf der Fahrbahn. Die estnischen Behörden machten die Straße daraufhin dicht – und bemühten sich dann darum, die eigene Bevölkerung zu beruhigen.
„Die Russen agieren zwar etwas energischer und sichtbarer als zuvor, aber die Lage bleibt unter Kontrolle“, schrieb etwa der estnische Außenminister Margus Tsahkna am Sonntag auf der Plattform X, nachdem Aufnahmen der uniformierten Gruppe sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatten. „Berichte, denen zufolge sich die Lage an der estnisch-russischen Grenze zuspitzt, sind übertrieben“, schrieb Tsahkna weiter.
„Sieben bewaffnete russische Soldaten“ an der Nato-Grenze
Auf der russischen Seite der Straße habe man am Freitag „sieben bewaffnete russische Soldaten“ beobachtet, erklärte der Außenminister. „Um mögliche Zwischenfälle zu vermeiden, stoppten wir den Verkehr dort vorübergehend.“ Die derzeitige Regelung der Straße sei eine „historische Anomalie“, die bald behoben werde, kündigte Tsahkna außerdem an. „Eine alternative Route, die russisches Territorium umgeht, ist bereits vorhanden, und eine neue ist im Bau.“ Damit dürften Provokationen wie die Soldatengruppe auf der Straße für Russland schwieriger werden.
Dass es sich um Provokation des Kremls handelt, darüber herrscht unterdessen Einigkeit. Auf russischer Seite dürfte man einkalkuliert haben, dass die bewaffnete Gruppe bestimmte Erinnerungen wecken würde – und zwar an die berühmten „kleinen grünen Männchen“, die 2014 auf der ukrainischen Halbinsel Krim aufgetaucht waren und der russischen Annexion der Halbinsel schließlich den Weg bereiteten.
„Kleine grüne Männchen“ gab es 2014 auch auf der Krim
Damals hatte Kremlchef Wladimir Putin zunächst abgestritten, dass es sich um russische Soldaten handelte, erst ein Jahr später räumte ein russischer General ein, dass die „grünen Männchen“ zu den eigenen Streitkräften gehörten. Zuvor waren mehrere der auf die Krim geschickten Einsatzkräfte in sozialen Netzwerken als russische Soldaten identifiziert worden.
Nun tauchten die „kleinen grünen Männchen“, wie die Truppen damals von Medien getauft wurden, erstmal in der Nähe einer Nato-Grenze auf, übertraten diese jedoch nicht. Russland leugnete die Aktion diesmal auch nicht: Es habe sich um „Routinemaßnahmen“ gehandelt, hieß es aus Moskau.
Ex-BND-Chef warnte vor „Grüne Männchen“-Szenario
In Estland und im Westen sieht man das allerdings deutlich anders. Bereits im Juni hatte der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, vor Provokationen des Kremls mit „kleinen grünen Männchen“ gewarnt. Russland sei dazu bereit, die Entschlossenheit des Nato-Bündnisses auf die Probe zu stellen, etwa durch die Ausweitung seiner Konfrontation mit dem Westen über die Grenzen der Ukraine hinaus, sagte Kahl im Gespräch mit „Table Media“.
Der Bundesnachrichtendienst sei „ziemlich sicher“ und verfüge über Geheimdienstinformationen, „die belegen, dass die Ukraine nur ein Schritt auf dem Weg nach Westen ist“, erklärte der ehemalige BND-Chef. „Das heißt nicht, dass wir erwarten, dass Panzerarmeen nach Westen rollen“, fügte er hinzu. „Aber wir sehen, dass das kollektive Verteidigungsversprechen der Nato auf die Probe gestellt wird.“
Will Russland die Nato auf die Probe stellen?
Russland wolle testen, ob insbesondere die USA ihren Verpflichtungen zur gegenseitigen Hilfe gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags nachkommen würden. In Moskau gebe es daran Zweifel, erklärte der BND-Chef, dessen Prognose nun bereits fast eingetreten ist. Um die Nato auf die Probe zu stellen, müsse Russland „keine Panzerarmeen entsenden“, erklärte Kahl im Sommer. „Es reicht, kleine grüne Männchen nach Estland zu schicken, um die angeblich unterdrückten russischen Minderheiten zu schützen.“
Die russischen Soldaten blieben in der letzten Woche allerdings auf ihrer Seite der Grenze – „nach Estland geschickt“ wurden sie also nicht. Doch bleibt das auch in Zukunft so?
„Putins Krieg gegen die Ukraine tritt in eine neue Phase ein“
„Putins Krieg gegen die Ukraine tritt nun in eine neue Phase ein“, warnte am Wochenende der Geopolitik-Analyst Dmitri Alperovitch. Der Kremlchef wolle zwar keinen Krieg gegen die Nato, werde aber weiterhin versuchen, mit Provokationen das EU-Engagement für die Ukraine ebenso zu verringern wie weitere westliche Waffenlieferungen, prognostiziert der US-Analyst und warnte vor dem „aggressiven Kurs“ des Kremls. „Fehleinschätzungen der europäischen Entschlossenheit“ seien möglich, die Lage sei deshalb „zunehmend gefährlich und instabil“, so Alperovitch.
Beim amerikanischen Institut für Kriegsstudien sieht man in der jüngsten Provokation Moskaus ebenfalls die Intensivierung einer russischen „Kampagne zur Vorbereitung auf einen möglichen zukünftigen Krieg zwischen der NATO und Russland“. Derartige Angriffe auf Europa – ob verdeckt oder offen durchgeführt – seien Teil der „Phase Null“, schrieben die US-Analysten am Montag in ihrem Lagebericht.
In Moskau will man die „Eskalationsleiter nach oben klettern“
In dieser Phase gehe es dem Kreml um eine „informative und psychologische Vorbereitung“ auf eine mögliche Auseinandersetzung mit der Nato. Die Provokation nahe der estnischen Grenze sei dabei ein nächster Schritt. „Es ist das erste Mal, dass das ISW ‚kleine grüne Männchen‘ beobachtet, die im Rahmen der ‚Phase Null‘-Kampagne in der Nähe eines Nato-Staates operieren“, beschrieb der US-Thinktank nüchtern die Aktion des Kremls, die auf die jüngsten Drohnenzwischenfälle und Luftraumverletzungen folgt.
Dafür, dass es sich bei den kleinen grünen Männchen auf der Straße in Estland nicht um die letzte Provokation gehandelt haben dürfte, sprechen unterdessen weiterhin auch die Wortmeldungen aus Moskau.
„Wir müssen entschlossener handeln“, forderte etwa Sergej Karaganow, Dekan der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften und ehemaliger Berater von Boris Jelzin und Wladimir Putin, zuletzt. „Ich hoffe, dass wir die Eskalationsleiter nach oben klettern, die Amerikaner zum Rückzug zwingen und den Europäern den Rest geben können“, machte Karaganow keinen Hehl aus Moskaus Motiven.