Russlands KriegsstrategieWladimir Putins Grausamkeit hat System

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Wladimir Putin

Wladimir Putin

Quälerei in Folterkellern, Bomben auf Zivilisten: Russlands Kriegsverbrechen wirken wie Wahnsinn, haben aber Methode.

Am 28. Dezember 2022 war es wieder mal so weit. Russlands Luftwaffe zerstörte in der Ukraine ein Krankenhaus. Diesmal traf es eine Geburtsklinik in Cherson. Die Patientinnen überlebten, denn die erste Bombe schlug knapp außerhalb des Gebäudes ein. Frauen und Kinder wurden in den Keller beordert, ein Kaiserschnitt schnell beendet – erst dann zerriss ein zweites Geschoss die Wände über dem Erdboden. „Meine Hände zittern noch immer“, sagte eine junge Mutter, ihr Neugeborenes auf dem Arm, als später am Ort des Schreckens Fernsehteams eintrafen.

Die Geburtsklinik war an diesem Tag nicht das einzige Ziel der Russen in Cherson. 33 Raketen trafen die Stadt. Jeder Schuss war ein Kriegsverbrechen.

Ein monströser Gedanke

Getroffen wurden Wohngebäude, eine Bäckerei, ein Kindergarten. Die russischen Geschosse bohrten sich in Mehrfamilienhäuser, setzten Autos in Brand und hinterließen auf den Straßen Schwerverletzte, die sich vor Schmerzen in ihrem Blut krümmten.

Rein militärisch ergibt dieser Terror keinen Sinn. Es geht um etwas anderes, um Politik und um Psychologie. Und um einen russischen Staatschef, der auf dem Schlachtfeld in die Defensive geraten ist. Wladimir Putin will, grob gesagt, dringend wieder mehr Angst vor Moskau erzeugen – in der Ukraine und weltweit. „Putin glaubt, wachsende Brutalität sei der einzige Weg, diesen Krieg noch zu gewinnen“, sagt der britische Historiker Mark Galeotti im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.

Galeotti lebt derzeit in Washington. Er gehört zu einem Kreis westlicher Kremlkenner aus Wissenschaft, Diplomatie und Geheimdiensten, denen bei Putin jede neue Nuance sofort auffällt. Länger und düsterer denn je, sagt Galeotti, sei diesmal Putins Neujahrsansprache geraten, „mehr als neun Minuten“. Darin beschrieb Putin die „Verteidigung des Mutterlandes“ als „heilige Pflicht“. Andere zum Jahreswechsel übliche Auftritte ließ Putin ausfallen. Alles keine guten Zeichen. „In seinem Fuchsbau ist es enger geworden“, sagt Galeotti über Putin. Der Staatschef wisse, dass er in Schwierigkeiten sei. Er reagiere darauf nicht etwa geschmeidig oder diplomatisch, sondern mit neuer Härte, neuer Starrheit.

Moskau lässt, für alle Welt sichtbar, die Maske fallen. Bereits im Dezember räumte sogar Putin persönlich ein, dass Russland etwas betreibt, was seit dem Jahr 1907 durch die Haager Landkriegsordnung verboten ist: gezielte Angriffe auf zivile Versorgungsstrukturen.

Der Kreml erzeugt Psychoterror

Nico Lange, bis Ende 2021 Chef des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium in Berlin, spricht von Psychoterror. Putin wolle die ukrainischen Zivilisten zermürben: „Häufige nächtliche Luftalarme in Kombination mit Abschaltungen von Strom, Wasser und Heizung sind eine sehr hohe psychische Belastung für Millionen Menschen.“ „Ja, wir machen das“, sagte Putin in einem Fernsehauftritt, bei dem sich der Eindruck des Diabolischen mischte mit dem eines leichten Besäuseltseins. Mit erhobenem Sektglas vor der Kamera fügte Putin mit Blick auf die Ukraine hinzu: „Aber man muss auch mal fragen: Wer hat denn angefangen?“

Brutal, zeigt sich, ist auch Putins Umgang mit den Fakten. Die Welt weiß, dass er es war, der am 24. Februar 2022 russische Panzer in die Ukraine rollen ließ und damit den schlimmsten Krieg in Europa seit 1945 anzettelte. Putin aber hat bereits begonnen, alles umzudeuten. Der frühere KGB-Mann glaubt, die Zukunft gehöre jenen Herrschern, die sich über wirklich alles erheben, auch über die Wahrheit. Erlaubt das Internetzeitalter ein Zurück zum Zaristischen? Winkt auch im 21. Jahrhundert Staatenlenkern mehr Macht, wenn sie mehr Grausamkeit anwenden? Schon der Gedanke ist monströs.

Putin hat mit seiner Strategie Erfolg

Putin aber, das ist das Problem, hatte mit dieser Linie bisher Erfolg. Schon in Syrien, sagt die Politologin Bente Scheller von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, sei es Putin darum gegangen, „der Zivilbevölkerung das größtmögliche Leid zuzufügen“. Moskau entwickelte in Syrien das „Double-Tab“-Verfahren bei Luftangriffen auf zivile Ziele. Die ersten Bomben galten dem Wohnhaus, der Schule oder der Klinik, die zweite Welle, ein paar Minuten später, tötete dann auch die inzwischen herbeigeeilten Rettungskräfte.

In einer Studie unter dem Titel „When the Planes Return“ haben Menschenrechtsgruppen 58 Attacken dieser Art dokumentiert. Zivile Tote, zivile Verletzte, Hoffnungslose, die sich auf die Flucht machen: Die systematische Grausamkeit hat sich aus Moskauer Sicht bewährt. Die Flüchtlingskrise brachte Putin eine Vielzahl politischer Vorteile. Sie stärkte überall im Westen moskaufreundliche s Rechtspopulisten, sie beflügelte 2016 den Brexit und die Trump-Wahl.

Bekommt Putin einen so großen Triumph russischer Grausamkeit noch einmal hin, diesmal in der Ukraine? Man dürfe Putins Entschlossenheit nicht unterschätzen, warnte dieser Tage die frühere US-Außenministerin Condoleeza Rice in der „Washington Post“. Der Kremlchef glaube noch immer, „dass die Zeit für ihn arbeitet“. Aber tut sie das wirklich? US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz setzen inzwischen mit ihrem Ja zur Lieferung westlicher Schützenpanzer (Bradley, Marder) eher das gegenteilige Signal. Die westliche Welt, genervt durch die immer neuen russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine, zieht bei den Waffenlieferungen neue Saiten auf.

Das stille Leid der Schwächsten

„Die Verachtung für das Leben und die Würde von Menschen ist zu Putins Markenzeichen geworden“, urteilt der ins Ausland geflohene unabhängige russische Fernsehjournalist Mikhail Fishman. Geht seine Taktik jetzt nach hinten los? Anfangs mochte Putin die Betonung seiner Grausamkeit noch nützlich finden, um, wie einst die Iwan der Schreckliche (1530-1584) seine Feinde schaudern zu lassen. Inzwischen aber erregt die Kette seiner widerlichen Taten weltweit wachsende Abscheu. Zugleich sind Putins Verteidiger leiser geworden.

Sogar Sergej Lawrows Lügenmaschinerie im Moskauer Außenministerium hat längst aufgehört, alles zu leugnen. Als die Geburtsklinik von Mariupol am 9. März bombardiert wurde, erklärte Lawrow noch in arrogantem Ton, man solle doch bitte nicht auf diese „Inszenierung durch die Ukrainer“ reinfallen. Inzwischen steht für die Ermittler der OSZE fest: Es war ein Kriegsverbrechen. Seit dem 24. Februar zählte die Weltgesundheitsorganisation mehr als 715 Attacken auf medizinische Einrichtungen in der Ukraine. Unter allen Angriffen auf die zivile Infrastruktur sind jene aufs Gesundheitswesen die unmenschlichsten: Sie machen letzte Orte der Hoffnung zur Hölle. Im Krankenhaus von Vilniansk tötete Russlands Luftwaffe im November den zwei Tage alten Serhii, Retter holten die Mutter lebend aus den Trümmern.

In kritischem Zustand war Andriy Kozin, ein Helfer aus der Notaufnahme, dessen Haut zu 37 Prozent verbrannte. In der Geburtsklinik von Mariupol wurde die schwangere Ukrainerin Irina Kalilina an Bauch und Becken durch Splitter getroffen. Als sie erfuhr, dass die Ärzte ihren Sohn nicht retten konnten, bat sie darum, sie sterben zu lassen.

Am meisten leiden unter den Verbrechen die Allerschwächsten, die man in der Berichterstattung des Fernsehens gar nicht zu sehen bekommt: Krebspatienten etwa, für die plötzlich die Chemotherapie abbricht. In Cherson räumten russische Plünderer Ende Oktober ein onkologisches Zentrum aus, sie hatten es auf teure Medikamente und Geräte abgesehen.

Hohngelächter und Folter

Zu all diesen Gräueln spielt das russische Staatsfernsehen Tag für Tag seine höhnische Begleitmusik. Jüngst ahmte einer der Moderatoren heulend den Ton des Luftalarms in Kiew nach – bis alle im Studio sich kaum noch halten konnten vor Lachen. Putins Propagandist Wladimir Solowjow pries die hohe Zahl von toten Zivilisten in der Ukraine: „Je mehr von diesen Nazis wir jetzt verbrennen, umso leichter können wir später Deutschland, Großbritannien und Frankreich besiegen.“ Laut Solowjew wird es Zeit, „dass wir den europäischen Bastarden Respekt vor Russland beibringen“. Diese Woche forderte Solowjow einen nuklearen Erstschlag gegen Frankreich.

Die in Moskau gepredigte Menschenverachtung beflügelte bereits unzählige Bluttaten. In Butscha waren nach UN-Angaben die jüngsten von Russen Vergewaltigten und Ermordeten vier Jahre alt. Überall in ehemals besetzten Städten stoßen Ermittler auf Folterkeller. In Cherson fanden sie zum eigenen Entsetzen Gasmasken aus Sowjetzeiten, die von der Rückkehr des „kleinen Elefanten“ kündeten. Das ist eine aus Putins Tschetschenien-Feldzug bekannte Foltermethode, bei der Gefesselte mit CS-Gas traktiert werden und auf dem Boden kriechen müssen, vor sich das eigene Erbrochene im Rüssel ihrer Gasmaske.

Geht den Russen nicht auf, dass sie gerade dabei sind, den Ruf ihres Landes weltweit zu verspielen, auf Jahrzehnte hinaus? Putin, schrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash jüngst in einem Aufsatz im „Guardian„, ruiniere Russland. Der russische Staatschef klage über einen angeblichen Kulturkrieg gegen die sogenannte russische Welt. „Doch niemand im Westen hat Russland jemals so großen Schaden zugefügt wie Putin selbst.“

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