Ursula von der Leyen und Ernst AlbrechtDie Spuren des Vaters auf dem Speicher

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Ursula von der Leyen und ihr Vater Ernst Albrecht – eine Aufnahme aus dem Jahr 2010

Ursula von der Leyen und ihr Vater Ernst Albrecht – eine Aufnahme aus dem Jahr 2010

Berlin – Und dann betritt sie diesen Raum außerhalb der Zeit. Es ist tatsächlich ein Raum, ein Dachboden, eine Art Zwischenboden, so erzählt sie das später in Berlin. Ein Speicher in dem alten Haus auf dem Land, in dem sie groß wurde, in dem ihre Eltern lebten, und in dem sie nun selber mit ihrer Familie wohnt, lange schon. Ein Blick in den Dachboden nur, und sie hat die Zeit verschoben, hinweg in jene Jahre, als ihr Vater jung war, durchaus mächtig und ein Vorbild für sie. Er war ein Politiker, sie ist eine Politikerin, sie ist Ursula von der Leyen.

Als ihr Vater Ernst Albrecht, der frühere Ministerpräsident von Niedersachsen, sein Leben nicht mehr überblicken konnte, da blieben ihm nur die wichtigen Erinnerungen greifbar, die Gedanken an seine verstorbene Frau selbstverständlich; aber auch dieses Europa, das ihm so viel bedeutete, und die vietnamesischen Boat-People, die Flüchtlinge, die er nach Deutschland geholt hatte, als sie auf dem südchinesischen Meer trieben und zu ertrinken drohten. Und da oben auf dem Dachboden, den seine Tochter Ursula von der Leyen nun behutsam ausräumt, da findet sie dieses Leben. Das, was für ihn am Ende blieb.

Sie ist jetzt Verteidigungsministerin in Berlin. Aber wenn sie am Freitagabend nach Hause fährt, in das alte Haus in der Nähe von Hannover, dann ist sie in diesen Wochen und Monaten nach dem Tod ihres Vaters auch eine Historikerin des Dachbodens, die eine Antwort sucht auf die Frage, was denn bleibt von einem Politikerleben. Was bleibt also?

Ein blaues Buch zum Beispiel mit gelben Buchstaben auf dem Titel: „Welches Europa?“ So heißt die Aufsatzsammlung. Darin haben 1977 Jacques Chirac, Margaret Thatcher, Helmut Kohl und auch Ernst Albrecht ihre Idee von Europa beschrieben . Von der Leyen hat das Buch, das sie auf dem Dachboden gefunden hat, mit nach Berlin gebracht. Sie sagt: „Das Buch über Europa stand zwischen den Büchern zur Schafzucht, den Bänden über Rosen und den Büchern über Hühner.“ Ernst Albrecht war ein Großbürger auf dem Lande, ein Mann mit Prinzipien und einem weiten Grundstück vor der Stadt. „Die Schafzuchtbücher sind auf jeden Fall nicht mehr aktuell nach 30, 40 Jahren“, sagt seine Tochter. Aber Schafe, die hatte er fast bis zuletzt. „Und dann lagen da auch bergeweise Landkarten, die braucht man auch nicht mehr in Zeiten des Navis.“

Aber Europa? In dem kleinen blauen Band macht sich Albrecht Gedanken darüber, ob es wohl gelingen kann, dem Kontinent eine gemeinsame Währung zu verpassen. Er wünscht es sich. Und selbstverständlich, wenn man heute als Politikerin weiß, dass vieles erreicht ist, wovon der Vater träumte, dann fällt die Antwort auf die Frage: „Lohnt sich Politik?“ leichter. Auch wenn der Euro heute vielleicht nicht ganz der ist, den sich Ernst Albrecht erträumt hatte. Aber doch, sagt seine Tochter und dehnt das Wort: „Politik looohnt sich. Man kann Spuren hinterlassen, das merke ich ja in den Nachrufen auf ihn, dass er Spuren hinterlassen hat.“

Dann legt sie das blaue Buch vor sich auf den Tisch. „Da ist spannend zu sehen, wie sie in den 70er Jahren Dinge konsequent nach vorne gedacht haben, die noch in weiter Ferne lagen, und heute Realität sind. Das hat mich gelehrt, dass man sich neben allen pragmatischen Alltagsaufgaben auch politische Ziele im Leben setzen muss, die scheinbar noch unerreichbar in der Ferne liegen.“

Ein Nachlass kann eine Bekräftigung sein. Das ist sicher die eine Lektion vom Dachboden, und die andere ist, da muss Ursula von der Leyen lachen: „Fang nie am Sonntagabend an.“ Denn wenn man einmal begonnen hat mit dieser staubigen Zeitreise, dann will man weiter machen. „Also besser Freitagsabends anfangen“, sagt von der Leyen. Dann hat man das ganze Wochenende. „Stundenlang habe ich da gehockt mit den Sachen, man kann nicht aufhören.“

Das kennen viele, die ihre Eltern verloren haben. Wenn man mit Ruhe suchen kann, dann findet man auch die kleinen Nebenlinien eines Lebens. In diesem Fall: Ein Bild von Ernst Albrecht mit Lady Di an einem schönen Tag in Niedersachsen. „Wie groß gewachsen sie war, das sieht man, wenn man sie neben meinem Vater betrachtet“, sagt von der Leyen. Ihr Vater, der war schmal und feingliedrig.

Den großen, roten Rettungsring von der Cap Anamur hat seine Tochter nicht lange suchen müssen auf dem Dachboden, den kannte sie ja noch von früher, als er im Wohnzimmer hing. Die Cap Anamur, das war das Schiff von Rupert Neudeck, mit dem er die Flüchtlinge rettete, die Vietnam auf brüchigen Fischerbooten verlassen hatten. Oder auf dem Frachter Hai- Hong, einem Seelenverkäufer, von Hafen zu Hafen irrten, um irgendwo an Land gelassen zu werden.

Ernst Albrecht sah das damals im Fernsehen, und er tat etwas, was nicht viele von einem konservativen Ministerpräsidenten in einer reichen Republik erwarteten: Er nahm 1000 Vietnamesen in seinem Land auf,. War das der gestrenge Mann, der sich für Atomkraft in Deutschland einsetzte? Ja, das war er auch, und so wollte er wohl sein, denn der Rettungsring, den hat er bis zum Ende behalten. Auch die Schiffsglocke der Hai-Hong, die ihm die Vietnamesen später schenkten, hat seine Tochter auf dem Dachboden gefunden.

Dann ist da noch dieses Stück Stacheldraht, das er aufbewahrt hat. Damit fing 1989 alles an, denn es ist ein Stück vom Grenzzaun in Ungarn, der aufgeschnitten wurden, damit die DDR-Flüchtlinge in den Westen laufen konnten. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Ernst Albrecht es bewahrt hat. Für seine Tochter ist es noch so ein Beweis, dass es lohnenswert ist, sich Ziele zu setzen. Und es stimmt ja, dass das alte Buch über Europa, der Rettungsring und der Stacheldraht sich so einsetzen lassen als Ermutigung für eine Politikerin, als Selbstversicherung zwischen den Generationen der Familie Albrecht. Aber da ist noch mehr. „Es ist wie eine Zwiesprache mit dem Verstorbenen“, sagt die Tochter.

Die Stücke vom Dachboden sind Puzzleteile eines Lebens, das die Tochter hat zerfallen sehen, als Ernst Albrecht dement wurde. Jeder, der seine Eltern so erlebt hat, kann wahrscheinlich verstehen, was das heißt, und begreifen, wie schön es ist, wenn man die Chance hat, das Leben mit den Stücken von einem Dachboden wieder zusammenzusetzen.

„Ja“, sagt Ursula von der Leyen, „es kommt natürlich beim Betrachten dieser Dinge und Texte der Mann in der Mitte seines Lebens zurück, ein Mann im Vollbesitz seiner Kräfte, dieser scharfe Verstand, für den er bekannt war, der blitzt in allem auf.“

„Als Kind versucht man sich abzugrenzen von der Politik“

Aber nicht alles kommt zurück. Da liegen die Akten, die Redemanuskripte, alle abgetippt auf Papier. Sie stellen vielleicht Fragen, wenn man das so sehen will, Antworten aber geben sie nicht. „Was ich bereue ist, dass ich ihn nicht genügend nach Politik gefragt habe in den wachen Zeiten“, sagt von der Leyen. Sie ist jetzt da, wo man nicht mehr viel weiter kommen kann in der Politik. Sie sitzt in diesem großen Büro im Bendlerblock, und sie könnte, so nennt man das ja, nun auf Augenhöhe reden mit ihrem Vater. „Mit meiner Erfahrung jetzt hätte ich gerne noch einmal mit ihm gesprochen“.

Aber als sie ihn zuletzt nach Gorleben fragte, dem umkämpften Atommülllager, da fragte er zurück: „Liegt das in Europa?“ Seine Tochter weiß, dass Ernst Albrecht viel für sich behalten hat, wenn er damals nach Hause kam, und die Kinder da waren. Sie schätzt das, weil sie selber weiß: „Als Kind versucht man sich abzugrenzen von der Politik. Die Angriffe, die ich als gestandene Frau annehmen kann, die würden meine Kinder verletzen. Wenn man ein Teil der Familie ist, erlebt man nur die Kränkungen, wenn man aber selbst in der Politik drin ist, dann kann man sich wehren. Das ist der Unterschied.“

Die Kinder, die Familie. Hinter einem Schrank im Wohnzimmer ihres Vaters hat Ursula von der Leyen eine kleine Holzpuppe gefunden, ganz verstaubt. Sie wusste sofort, das ist: Alice. Die Puppe ihrer als Kind verstorbenen Schwester Benita. Niemand hat sie weggeschmissen, niemand hat sie vor ihr gefunden.

Ihr Vater hat die Niederlagen in der Politik gut überstanden, vielleicht auch, weil er sie gar nicht als solche empfunden hat. Sicher, er wollte Kanzler werden, die Unionsfraktion musste sich zwischen zwei Kandidaten entscheiden. Albrecht glaubte, der Ruf werde ihn ereilen, da ist sich seine Tochter sicher, so war seine Art zu denken. Albrecht unterlag in der Fraktion, Franz Josef Strauß wurde Kanzlerkandidat und verlor die Wahl. Was war wohl schlimmer? Auf jeden Fall wurde das Mädchen Ursula Albrecht keine Kanzlertochter. Und die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sagt fast 40 Jahre später in ihrem Berliner Büro: „Vielleicht ist unserem Familienleben vieles erspart geblieben. Dass es nicht so wurde, hat unser Familienleben geschützt.“ Auf solche Dinge kommt man auch, wenn man sich auf den Zwischenboden der Familiengeschichte begibt.

„Man betritt den schönen Raum der Erinnerung, man geht selber in diesen Raum mit hinein, über mir ist jetzt keiner mehr.“ Das ist es, was Kinder spüren, wenn sie die Sachen der Eltern ordnen, auch Ursula von der Leyen weiß das. Und dann kommt der nächste Gedanke, das Fortführen: „Ich realisiere plötzlich anhand der Dinge, die mich bewegen, dass ich nicht Dinge wegschmeißen sollte, die meinen Kindern später auch eine Geschichte erzählen können. Man muss auch sentimentale Stücke behalten.“ Dinge wie einen Rettungsring, vielleicht ein altes Kinderbuch, ein Besteck. Vielleicht auch einen USB-Stick mit ihren Redemanuskripten, Politikergeschichte? Wer weiß. Das Haus bei Hannover ist groß genug.

„Ich werde in diesem Haus bis zu meinem Lebensende bleiben“, sagt Ursula von der Leyen. „Ich fange jetzt auch an zu stapeln und zu horten, meine armen Urenkel.“ Sie lacht. Es wird wohl noch einiges dazukommen; an diesem Abend vor Ostern muss sie bald schon zum nächsten Termin. Sie ist dort, wo sie die Spur ihres Vaters auf dem Dachboden aufgenommen hat. Mitten in einem Politikerleben. Und was bleibt, ist noch nicht entschieden.

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