Streit der WocheSind Vegetarier die besseren Menschen?

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fleisch Collage

  • Elende Bedingungen in Ställen, hohe Emissionen: Massentierhaltung ist hoch umstritten.
  • Mehr als 90 Prozent der Deutschen essen trotzdem noch Fleisch. Sind sie deshalb die schlechteren Menschen?
  • Jonah Lemm (23), Redakteur im Ressort NRW/Story, isst auch manchmal noch Fleisch. Er erwartet von niemandem ein moralisch-einwandfreies Leben, findet aber, dass jeder Nicht-Vegetarier sich bewusst sein sollte, dass er Tierleid massiv fördert.
  • Alexander Holecek (28), Reporter in der Lokalredaktion, war schon Vegetarier, als Greta Thunberg noch in Plastikwindeln um den Weihnachtsbaum lief. Früher wurde er belächelt, heute akzeptiert, weil er Andere nie belehrte, solange die ihn in Ruhe ließen.

Köln – Mehr als 90 Prozent der Deutschen essen trotzdem noch Fleisch. Sind sie deshalb die schlechteren Menschen?

von Jonah Lemm

Der Tod, das sei gleich zu Beginn festgehalten, ist nicht das Problem. Die Tötung ist immer gleich, ob nun Freilandhaltung oder Ein-Quadratmeter-Mastschwein-Bucht.

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Tierschutzgesetz, Paragraf 4a: „Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs zum Zweck des Schlachtens betäubt worden ist.“

Der Tod kommt schnell, mit geübten Handgriffen. Er ist keine Qual. Vor allem, weil er auch den Gesetzen des Markts folgt. Das Fleisch eines Tieres, das vor seiner Schlachtung Stress hatte, ist nicht so zart, kürzer haltbar. Es bringt weniger Geld. Das Problem ist das Leben. Ein Leben in Käfig-Elend und Krankheit, ohne Tageslicht und artgerechte Behandlung. Die entscheidende Frage, die unsere schnitzelliebende, aber landflüchtende Gesellschaft gern ignoriert, lautet keineswegs: „Dürfen Menschen Tiere essen?“ Sie lautet: „Was tun Menschen Tieren an, um sie essen zu können?“

Tierschutzgesetz Paragraf 1: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“

Der Mensch kann problem- und mangellos ohne Fleisch leben

Man darf in Deutschland eine Kuh nicht treten, nur weil man das lustig findet. Man darf aber eine Kuh ihr Leben lang quälen, weil man sie lecker findet. Weil Genuss anscheinend ein „vernünftiger Grund“ für Tierleid ist. Denn einen anderen gibt es für das Fleischessen nicht mehr. Die Ernährung mit Fleisch ist nicht gesünder, im Gegenteil, die Deutschen essen so viele Tiere, dass es sie krank macht. 60 Kilo verzehrt der Durchschnittsbundesbürger pro Jahr, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt maximal die Hälfte. Der Mensch, das ist erwiesen, kann problem- und mangellos ohne Fleisch leben. Die Mehrzahl hierzulande isst es trotzdem. Weil es gut schmeckt. Ziemlich dünne moralische Rechtfertigung für die katastrophalen Haltungsbedingungen.

Ein Mensch kann ein Rind nicht mit den Händen erlegen. Aber er kann sich eine Waffe bauen und es damit töten. Oder diese Aufgabe abgeben an eine industrielle Maschinerie weit weg vom Konsumenten, die alles Leid unsichtbar macht, weil sie die Tiere in stacheldrahtumzäunten Fabriken in Fließbandsekunden schlachten lässt, von Arbeitern, die für einen Hungerlohn Discounterfleisch zurecht metzeln. Das alles kann der Mensch tun, weil er ein Bewusstsein hat. Und er kann dieses Bewusstsein an der Kühltheke ausschalten.

Es gibt keine „besseren“ und „weniger guten“ Menschen. Aber es gibt solche, die der kollektiven Verdrängung folgen, weil es bequem ist. Und andere, die für sich selbst auch unliebsame Fragen beantworten. Vegetarier gehören zur zweiten Sorte. Aber Fleisch, das ist hierzulande ja Tradition, rufen die Konservativen mit Eiche-Rustikal-Schrankwand und Gartenzwerg. Stimmt. Aber nicht jeden Tag 500 Gramm für 1,99 Euro. So wird die Tradition selbst die geliebte Heimat irgendwann zerstören. Mehr als die Hälfte der weltweiten Treibhausgasemissionen wird durch Massentierhaltung erzeugt. Dazu kommt der enorme Wasserverbrauch. Kann man aber an der Kühltheke ignorieren. Man is(s)t ja Gewohnheitstier.

Contra: „Wir sollten aufhören, ein Tugendraster über unser Leben zu legen“

von Alexander Holecek

Manchmal staunt man ja, sich offenbar rechtfertigen zu müssen. Je nachdem, wer sonst so am Tisch sitzt, wird belehrt oder gar des Raumes verwiesen, wer es wagt, sich zu outen. Dass er Geschenke auf Amazon kauft, zum Beispiel. Oder Cola aus Alu-Dosen und Wurstwasser am liebsten direkt aus dem Glas trinkt, ein Auto besitzt und Schweinskopfsülze lecker findet. Die Stimmung ist dann schnell dahin, denn offensiver kann man gar nicht beweisen, einer von denen zu sein, die aber auch gar nichts kapiert haben. Es folgt nicht selten ein Referat über Tierwohl, Ethik, Umwelt- oder Klimaschutz. Das müssen ja tadellose Menschen sein, denkt man sich dann. Und staunt über die Flexibilität der gleichen Leute, die sich während ihres Vortrags einen Good-Life-Bowl mit Bananen, Granatäpfeln, Mangos und Chiasamen zusammenschnibbeln. Alles bio und aus der Eifel wahrscheinlich. Ein Leben mit Heiligenschein fühlt sich offenbar ausnehmend gut an, ist es aber nicht.

Diejenigen Teil- oder Vollzeit-Vegetarier, Radfahrer und Unverpackt-Kunden, die ihren Lebensstil für die Rettung der Welt halten, haben genauso wenig verstanden wie alle, über die sie ihre Nase rümpfen. Natürlich ist es für Umwelt und Klima besser, wenn weniger Fleisch und Plastik verbraucht, nicht mehr so viel CO2 freigesetzt wird. Aber was spricht dagegen, es einfach zu tun, statt missionierend durch die Straßen zu ziehen? Ja, was in der Massentierhaltung passiert, ist wahrscheinlich der größte tägliche Skandal, den wir alle schweigend hinnehmen. Und ja, vielleicht sollte jeder Schüler einmal verpflichtend eine Schlachterei besuchen und selbst mit sich und seinem Gewissen ausmachen, ob er weiterhin Fleisch essen will. Aber niemand hat das Recht, das moralisch zu bewerten.

Es gibt kein perfektes Leben in der Ersten Welt

Wir als Gesellschaft sollten dringend aufhören, ein Tugendraster auf ausgewählte Lebensbereiche zu legen, unsere Makellosigkeit anhand einer auch noch selbst aufgestellten Skala zu messen und die für universell gültig zu halten. Die würde nämlich ohnehin alle frustrieren. Den Radfahrer, der sich wundert, warum es denn in Australien immer noch brennt, obwohl er doch heute Morgen extra das Auto hat stehen lassen fürs Klima.

So wie der Fleischesser wissen sollte, dass und wie für Schnitzel Schweine sterben, sollte sich ein Vegetarier klar sein, dass auch er kein perfektes Leben führt. Weil es das in der Ersten Welt nicht gibt. Weil auch den vegetarischsten Öko-Hipster irgendwann die Reiselust nach Lateinamerika packt und er in zwölf Flugstunden so viel CO2 rausbläst wie zwei Dutzend Inder in ihrem gesamten Leben. Weil jährlich allein der deutsche Avocado-Import 70 Milliarden Liter Wasser saugt und Urwälder zu Wüsten macht. Weil ebenso wie Milliarden Schweine auf der Welt auch Tofufreunde Soja essen und dafür die Orang-Utans gleich mit dem Regenwald Indonesiens draufgehen. Weil sich für unseren Bio-Wahn die Arbeiter auf den chemiefreien Papaya-Plantagen Kenias das Tropenfieber holen.

All das richten wir an, ohne ein einziges Gramm Fleisch zu essen. Niemals kann uns so etwas heilig werden lassen. Im Gegenteil: Uns selbst zu überschätzen, macht uns hässlich. 

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