Zwölf Tote bei FlutkatastropheIgnorierte ein Betreuer Warnhinweise der Feuerwehr?

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Das Lebenshilfe-Haus wurde während der Flut zur Todesfalle für zwölf Bewohner.

Sinzig – Am Tag nach der zerstörerischen Flut am 15. Juli schwappt das Wasser immer noch über den Eingangsbereich des Lebenshilfehauses (LHH) in Sinzig. Die Feuerwehr hat Boote hierher gebracht. Vier Betreuer der Behinderteneinrichtung haben es in den ersten Stock des Haupthauses in der Pestalozzistraße geschafft. Sie wollen ihre Schützlinge auf die anstehende Rettungsaktion vorbereiten.

Das LHH ist eine Wohnstätte für Menschen mit Beeinträchtigungen im Kreis Ahrweiler, das Haus bot vor der Tragödie 36 Menschen mit verschiedenen Behinderungen ein Zuhause. Jetzt steht das Wasser im Erdgeschoss, Gesichter drückten sich in der ersten Etage an die Fenster, manche Heimbewohner stehen auf dem Balkon, rufen und winken den Hilfskräften zu.

Bereits am Morgen haben die Helfer nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Bewohner der Nebengebäude aus der Notlage befreit und in Sicherheit gebracht. Seit dem frühen Nachmittag retten die Wehrleute nun die zehnköpfige Gruppe in der oberen Etage samt LHH-Personal per Boot aus dem überfluteten Haupttrakt. Die Rettungsmaßnahmen währen Stunden. Nur in kleinen Gruppen können die Eingeschlossenen evakuiert werden.

Kein Lebenszeichen aus dem Erdgeschoss

Das Todesermittlungsteam aus Koblenz wartet, bis die Maßnahme beendet ist. Erst am frühen Abend kann es seiner Arbeit nachgehen. Die Beamten sind gerufen worden, weil aus dem Erdgeschoss der Einrichtung über Stunden kein Lebenszeichen mehr dringt. Seit gegen 2.40 Uhr in der Nacht die Wassermassen das LHH fluteten, bleibt es still. Es ist ein furchtbarer Verdacht: Sind zwölf Menschen der Gruppe 1 nicht mehr am Leben?

Zunächst muss das Technische Hilfswerk die Zugänge sichern, manche Zimmer der Bewohner sind nur durch die Fenster zu erreichen. Zwei Beamte hangeln sich auf den Balkon des ersten Stocks, um sich von dort aus nach unten bewegen zu können. Weitere Stunden vergehen, ehe die unteren Räume erreichbar sind. Den Ermittlern offenbart sich ein Bild der Verwüstung. Möbelstücke sind umgefallen. Die Deckenverkleidung ist größtenteils heruntergebrochen. Stromkabel hängen von der Decke. Im Brackwasser wimmelt es nur so von Gegenständen.

Fund der ersten Leiche

Bald finden sie die erste Leiche einer Frau, die ertrunken ist. Beinahe in jedem Raum stoßen die Beamten auf weitere Tote, manche Türen werden mit einem Generalschlüssel geöffnet. Die Wassermassen müssen die Frauen und Männer im Schlaf überrascht haben. Der furchtbare Verdacht bewahrheitet sich. Die zwölf Vermissten sind ertrunken. Wie sich später herausstellt, konnte sich nur ein weiterer Gruppenbewohner durch einen Sprung aus dem Fenster retten.

Seit dem Unglück untersuchen Kripobeamte die Geschehnisse der Flutnacht. Dabei stoßen sie nach Recherchen dieser Zeitung auf einige Ungereimtheiten. So stellt sich heraus, dass nur eine Nachtwache während der Katastrophe im Lebenshilfehaus nach dem Rechten schaute. Und dies trotz der Hochwasserwarnungen, die bereits am Tag vor Beginn der Starkregenfälle kursierten.

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Zwölf Menschen konnten nicht mehr vor den Fluten der Ahr gerettet werden.

Aus den Nachforschungen ergibt sich ein ungeheurer Verdacht: Womöglich hat der Betreuer der Heimbewohner Warnungen der Feuerwehr zur rechtzeitigen Evakuierung der Wohngruppe im Erdgeschoss ignoriert. Dabei geht es um die Zeit zwischen 23 Uhr und 23.30 Uhr an jenem Katastrophentag, dem 14. Juli. Ein Feuerwehrmann aus Sinzig schildert einen Monat später, wie er zu besagter Zeit am Portal des LHH geklingelt hatte. Ein Mann sei erschienen. Baseballkappe, locker gekleidet. Der Zeuge will den Betreuer vor einer Flutwelle gewarnt habe. Zwar wisse man nicht genau, wie hoch das Wasser noch steigen werde, aber besser sei es, die Leute aus dem Erdgeschoss nach oben in den ersten Stock zu verlegen, so der Zeuge.

Der Wehrmann kennt sich im Gebäude aus, er hat dort in der Vergangenheit Brandschutzübungen durchgeführt. Er weiß, dass die untere Etage sehr tief gelegen ist.

Glaubt man der Aussage, stößt seine Warnung auf taube Ohren. Der LHH-Betreuer soll sich demnach geweigert haben, die unteren Gebäudeteile zu räumen, da Unruhen unter den Heimbewohnern zur befürchten wären. Zweifelnd soll er nachgefragt haben, ob das Wasser denn wirklich so hoch steigen könne. Die Antwort lautet, man wisse es nicht, aber der Hinweis blieb: Besser sei es, den unteren Trakt zu räumen.

„Keine explizite Warnung“

Dazu durch die Todesermittler befragt, schildert der Heimmitarbeiter den Sachverhalt völlig anders. Zwar sei die Feuerwehr zu jener Zeit bei ihm gewesen. Allerdings hätte man ihm nur berichtet, dass die Ahr über die Ufer treten könne. Keine explizite Warnung, die Anlass zur Panik gegeben hätte. Immerhin liegt das Haus der Lebenshilfe oberhalb der Ahrwiesen etwa 200 Meter vom Fluss entfernt.

Der Betreuer berichtet, dass er fortan mehrfach die Lage kontrolliert, aber kein Hochwasser bemerkt habe. Nachts um halb drei alarmiert ihn die Feuerwehr, die Flut käme. Der Mann versucht zu retten, was zu retten ist.

Nach eigenen Angaben hastet er zu den zwei Doppelhaushälften, klingelt die Bewohner aus dem Schlaf. Während die Wassermassen über die Straße auf den Wohnkomplex zulaufen, versucht er vier schlaftrunkene Schützlinge der Tageswohnung 2 zur Eile anzutreiben, um sie rauszubringen. Doch es ist zu spät, die Fluten rauschen im rechten Nebengebäude durch den Eingangsbereich. Scheiben splittern, binnen Minuten läuft alles voll.

Vier Bewohner gerettet

Mit den vier Heiminsassen rettet sich der LHH-Angestellte in das Obergeschoss. Der Mann ruft seine Vorgesetzte an, um ihr zu erklären, dass im Haupthaus im Erdgeschoss immer noch eine ganze Gruppe vom hereinströmenden Wasser bedroht sei. Im Wissen, dass diese Menschen Hilfe brauchen, will er rübergehen, um zu helfen. Doch seine Gruppenleiterin hält ihn laut Protokoll mit dem Hinweis zurück, dies sei zu gefährlich. Am Ende bleibt es dabei. Die Menschen im Haupthaus werden sich selbst überlassen und ertrinken.

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Bei der Polizei widerspricht der Betreuer den Darstellungen der Feuerwehr, die ihn rechtzeitig gemahnt haben will, die Heiminsassen zu evakuieren. Vielmehr will der Betreuer das Thema von sich aus beim ersten Besuch des Feuerwehrmannes angeschnitten haben. Der Retter sei sich aber unsicher gewesen und hätte dann empfohlen, damit noch zu warten. Somit steht Aussage gegen Aussage . Hat der Betreuer des Lebenshilfehauses frühe Warnungen der Feuerwehr in den Wind geschlagen oder war es umgekehrt? Und warum wurde in der Katastrophennacht nur eine Nachtwache im Lebenshilfehaus eingesetzt?

Der Betreiber der Behindertenstätte wollte sich auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ nicht dazu äußern. Die Staatsanwaltschaft Koblenz bestätigte den Sachverhalt: „Die Frage der hinreichenden Warnungen ist Gegenstand der Ermittlungen.“ Derzeit stehe noch nicht fest, wann mit einer abschließenden Bewertung zu rechnen sei.

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