PorträtEine türkische Ford-Dynastie

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Drei Generationen einer Familie, die in Köln eine neue Heimat gefunden hat: Großvater Selim, Enkel Murat und sein Vater Kaya Eren. (Bild: Grönert)

Drei Generationen einer Familie, die in Köln eine neue Heimat gefunden hat: Großvater Selim, Enkel Murat und sein Vater Kaya Eren. (Bild: Grönert)

Köln – "Bunte Wiese" heißt ihr Name. Übersetzt. Und das klingt eigentlich doch sehr hübsch. Aber Alacayir? Was im Türkischen noch poetisch daherkommt, ist für deutsche Zungen nur schwer auszusprechen. Als die türkischen Behörden dann auch noch versehentlich ein "ca" hinzufügten und statt Alacayir "Alacacayir" in die Pässe schrieben, wurde es der Kölner Familie zu "bunt". Sohn Kaya beschloss eine Namensänderung. "Den Deutschen haben wir einen Gefallen getan, uns weniger", sagt der 49-Jährige und lacht. Die Baufinanzierung, alles Mögliche musste auf den neuen Namen umgeschrieben werden. Jetzt heißen sie Eren. Kaya, Sebiha, Murat, Özlem und Özge Eren, wohnhaft in Köln-Volkhoven. Eren hört sich einfacher an - jedenfalls für deutsche Ohren.

Nur Vater Selim, heute 71 Jahre alt, und seine Frau blieben bei ihrem alten Namen. Dass sich die übrigen Familienmitglieder Eren nennen, spielt für den Ford-Pensionär keine große Rolle mehr. Söhnen, Schwiegertöchtern, Enkelinnen und Enkeln aber macht die Anpassung das Leben in Deutschland leichter. Ein Zugeständnis an dieses Land, das - wenn auch mit kleinen Unterschieden - längst allen zur Heimat geworden ist. Zur Heimat ist der Familie auch die Firma Ford geworden. Ford Köln war der erste Konzern, der 1961 türkische Arbeiter anwarb. Und damit über die Jahrzehnte wahre türkische "Dynastien" schuf - wie die der Erens, die schon in der dritten Generation für Ford tätig ist.

Erfolg am Fließband

Vater Selim stand am Band in Halle G und montierte Türen. Sohn Kaya arbeitete nach einem Maschinenbaustudium zunächst in den Bereichen Automationstechnik, Produktionsplanung und ist heute in der Zentral-Logistik der Getriebeentwicklung engagiert. Enkel Murat hat im Werk seinen Meister in "Lagerwirtschaft" gemacht und studiert jetzt nebenbei Betriebswirtschaft. Mit dieser Geschichte sind die Erens sicher nicht der Normalfall bei Ford. Aber auch nicht mehr die große Ausnahme, was den sozialen Aufstieg betrifft.

Erzählen wir die Familiengeschichte von Anfang an. Es war 1970, als Selim Alacayir das stolze Provinzstädtchen Sivas mitten in Anatolien verließ, um in Deutschland zu arbeiten. Wie viele andere auch, die von dem großen Sog erfasst wurden und loszogen aus den ländlichen Gebieten der Türkei. Denn in Deutschland, so schien es, waren die Straßen mit Gold gepflastert.

Es war nicht die Not, die Selim antrieb. Denn arm, wie viele andere, war seine Familie nicht. Als junger Mann hatte er nach dem Militärdienst sechs Jahre bei der Bahn gearbeitet. Einen gelernten Beruf hatte er zwar nicht. Aber das war damals auch nicht so üblich in der Türkei. Selim war neugierig auf die Fremde und er wollte mehr Geld verdienen. Geld verdienen und sparen, um sich und seiner Familie ein noch besseres Leben zu ermöglichen.

Eine ganze Familie wurde verpflanzt

Drei bis fünf Jahre sollten reichen in Deutschland. Daraus geworden sind bis heute 41. Und dies mit der Gewissheit, seine ganze Familie verpflanzt zu haben, von Anatolien an den Rhein: drei Söhne, die Frauen. Die Enkel sind schon in Deutschland geboren. Sicher sei das jetzt seine Heimat hier. "Heimat ist immer da, wo die Familie ist", sagt der 71-Jährige. "Aber wenn ich gewusst hätte, dass mein Leben hier so schwer würde, wäre ich nicht nach Deutschland gekommen."

Gerade sind die alten Leute nach vier Sommermonaten aus Sivas zurückgekehrt. Mit knapp 900 Euro Altersgeld und 270 Euro Betriebsrente von Ford lässt es sich in Anatolien preiswerter leben. Aber auch in der Türkei, das spüren und sehen sie immer deutlicher, ist die Zeit nicht stehengeblieben. Vielen Freunden und Verwandten, die in der alten Heimat geblieben seien, sagt der 71-Jährige, gehe es aufgrund der wirtschaftlichen Erfolge des Landes heute besser. Auch deren Kinder hätten es inzwischen einfacher, ein Studium zu beginnen. Gerade deshalb aber war er in Deutschland geblieben. Damit seine Söhne studieren könnten. In der Türkei, so dachte er damals, wäre das finanziell nicht möglich gewesen. Und politisch unruhig war es zu der Zeit auch. Hatte er es sich am Ende nur unnötig schwer gemacht? Die Mutter nickt. Mit einer Geste deutet sie viele Tränen an und lächelt ihrem Mann liebevoll zu.

Briefe voller Sehnsucht

Wer sich in dem schönen, sonnigen Familienhaus in Volkhoven umschaut, wo türkischer Nippes sich allenfalls in die modernen Glasvitrinen verzogen hat und wo die Großeltern das geräumige Dachgeschoss bewohnen, der mag den Kummer kaum nachvollziehen. Und doch erschließt er sich, wenn man der Wärme und innigen Verbundenheit in dieser Familie nachspürt. Denn was der ältere Herr mit den feinen Gesichtszügen da sagt, fasst den Preis für den wirtschaftlichen Erfolg einer Einwandererfamilie zusammen, den in erster Linie die erste Generation bezahlt hat. "Die Sehnsucht nach der Familie war das Schlimmste", sagt Großvater Selim im Rückblick auf die ersten Jahre, als er allein in Deutschland lebte. "Ein langer, harter Tag und abends kommt man in einen Raum im Heim, wo drei Leute wohnen, die man nicht kennt." Telefon gab es nicht. Gesungen haben sie zusammen, Briefe geschrieben, viele Briefe voller Sehnsucht.

Nach zwei Jahren am Hochofen in Nordenham bei Preussag holte er Frau und ein Kind nach, ging 1974 nach dem Tod seines Vaters wieder zurück in die Türkei, um 1979 dann doch in Köln bei Ford anzufangen. Erst 1980 siedelte die ganze Familie über. Sein Wunsch, dass die Kinder studierten, erfüllte sich. Und auch, dass sie bei Ford aufstiegen. Ford, so sehen sie es alle bis hin zu Enkel Murat, gibt ihnen Sicherheit. Ford ist der Rückhalt ihres Erfolges in Deutschland. Und natürlich die Familie. Bis heute scheint sie die Quelle für alle Generationen zu sein, aus der sie ihre Kraft schöpfen, die hilft, harte Arbeit zu akzeptieren und Niederlagen gemeinsam wegzustecken. Ein 25-Jähriger wie Murat gibt unverkrampft den Vater als großes Vorbild an. Denn 18 Jahre war Kaya Eren damals schon, als er endlich zu seinem Vater nach Köln durfte. Nur neun Monate brauchte er, um Deutsch zu lernen. Heute unverkennbar mit rheinischem Singsang. Sein türkisches Abitur wurde anerkannt. Zwei Jahre Fachoberschule in Köln folgten. Dann das Studium an der FH. "Ihr müsst euch doppelt anstrengen", habe der Großvater immer gesagt.

Für Enkel Murat ist das kein Thema mehr. Er sieht für sich gleiche Chancen wie für die Deutschen. Obschon er mit seinem Fleiß auch auf Nummer sicher geht. Dass sein überwiegend deutscher Freundeskreis ihn mitunter als Spaßbremse schilt, deutet er indirekt an. Auch, weil er keinen Alkohol trinkt, bleibt er manchmal abends lieber gleich zu Hause. Mit der Religion aber habe das nichts zu tun. Die Religion spielt in der Familie Eren, wie sie alle sagen, keine Rolle. Wichtig sei der Mensch. Religion dürfe doch nicht über dessen Wertigkeit entscheiden. Wichtig sei eben, was man aus seinem Leben mache. "Von nichts kommt nichts", ergänzt Kaya mit einem guten alten kölschen Spruch. Für die schulischen und beruflichen Misserfolge vieler türkischer Gleichaltriger hat Murat deshalb wenig Verständnis. "Man muss nur wollen", sagt er. 30 bis 40 Prozent der türkischen Jugendlichen hätten keine Lust, meint sein Vater. Murat glaubt, dass es die Mehrheit ist. Zu 90 Prozent seien die Eltern schuld, wenn aus den Kindern nichts werde. "Man muss sich kümmern und auch kontrollieren", sinniert Murats Vater. Es hört sich streng an. Aber natürlich bräuchten die Kinder auch Freiheiten und Vertrauen, schließt er seine Betrachtungen.

Und dann sprechen sie doch noch von ihren Diskriminierungserfahrungen, die sie mit der mangelnden Integrationslust nicht weniger ihrer Landsleute in Zusammenhang bringen. In den 80er Jahren sei die Stimmung gegenüber den Türken besser gewesen." Was man sät, erntet man", sagt Kaya Eren nüchtern. Und das gelte für beide Seiten. Er selber tut sich leicht, die kleinen und eher seltenen Gemeinheiten im Alltag abzuwehren. Schon allein, weil sein Deutsch nahezu perfekt ist.

Dass er für seinen Vater Selim heute noch übersetzen muss, will deshalb so gar nicht ins Bild passen. Ja, das sei sein größter Fehler gewesen, ärgert sich der 71-Jährige. Bei Ford habe er kein Deutsch gebraucht. Die Kollegen, sie kamen doch fast alle aus der Türkei. So war das und ist bis heute nicht anders. Selbst die Kolonnenführer und Meister sind mittlerweile Türken, was schließlich auch den Aufstieg markiert. Nur, dass viele Junge heute weder vernünftig Türkisch noch Deutsch sprächen. Für die Erens ein Unding.

Übrigens, Eren heißt übersetzt: Der Kluge, der vorausschaut.

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