Stillen in Frankreich„Das Ansehen einer Frau sinkt“

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Schon drei Monate nach der Geburt gibt die Mehrzahl der französischen Mütter ihren Babys das Fläschchen.

Schon drei Monate nach der Geburt gibt die Mehrzahl der französischen Mütter ihren Babys das Fläschchen.

Die Dämmerung bricht herein. Passanten beschleunigen ihre Schritte. Die Ladenstraße in der Pariser Vorstadt Val d’Argenteuil lädt nun noch weniger zum Verweilen ein. Das Viertel gilt als unsicher, nachts zumal. Rollläden rasseln herunter, Türen fallen ins Schloss. Eine steht sperrangelweit offen. Sie führt zu Nezha Sahmi, einer Geburtshelferin.

Die Tochter einer Französin und eines Marokkaners hat Mut. Sie schließt ihre Praxis, wann sie will; nicht, wann sie soll. Sie führt Hausgeburten durch, auch wenn sie sich damit in rechtliche Grauzonen begibt. Und, was vielleicht den meisten Mut erfordert: Die 35-Jährige widersetzt sich dem gesellschaftlichen Trend zum Fläschchen. Sahmi kämpft dafür, dass die Französinnen wieder stillen.

Berufliche Ausgrenzung

Anders als in Deutschland ist das Stillen in Frankreich verpönt. Seit den 1960er Jahren gilt es dort als Zeichen mangelnder Emanzipation, als Hindernis auf dem Weg zur Gleichberechtigung am Arbeitsplatz. Eine Einstellung, die sich in Zahlen spiegelt: Geben nach der Entbindung noch 66 Prozent der Französinnen ihrem Kind die Brust, sind es drei Monate später nur noch 32 Prozent. Noch einen Monat später, wenn das Gros der Mütter nach 16-wöchiger Babypause in den Job zurückgekehrt ist, sinkt der Anteil auf unter zehn Prozent. Im europäischen Vergleich liegt Frankreich damit weit hinten. Zum Vergleich: In Deutschland stillen ein halbes Jahr nach der Entbindung mehr als 40 Prozent der Frauen.

„Wir Französinnen sind einem enormen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt“, sagt Sahmi, die vor sechs Jahren selbst eine Tochter zur Welt gebracht hat. Eine Französin habe an der Seite ihres Mannes verführerisch zu sein und am Arbeitsplatz erfolgreich. Die Nähe zu den Kindern – und damit auch das Stillen, das doch Ausdruck größter Nähe sei – komme fast zwangsläufig zu kurz. Wer sich widersetze und Mutterfreuden auskosten wolle, müsse damit rechnen, beruflich und gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden.

Umgekehrt erntet Bewunderung, wer ein paar Tage nach der Geburt am Arbeitsplatz erscheint, als sei nichts gewesen. Die frühere Justizministerin Rachida Dati hatte das Anfang 2009 vorexerziert. Fünf Tage nach der Entbindung streifte sie sich Stöckelschuhe und schwarzes Kostüm über und nahm am Ministerrat teil. „Das Ansehen einer Frau steigt, wenn sie kurz nach der Geburt an den Arbeitsplatz zurückkehrt, es sinkt, wenn sie eine ein- oder gar zweijährige Auszeit nimmt“, sagt Sahmi.

Still-Happenings als Protest

Die Geburtshelferin hat rund ein Dutzend Mitstreiterinnen gegen den Fläschchen-Zwang gefunden. In der Pariser Vorstadt Colombes hat sie mit ihnen Mitte Oktober ein „Großes Stillen“ inszeniert: Vier der Frauen, die, auf Klappstühlen sitzend, ihrem Kind im Blitzlichtgewitter der Fotografen die Brust gaben, waren Mütter, denen Sahmi zuvor als Hebamme beigestanden hatte. Tags darauf schmückte das Foto stillender Frauen die Titelseite des Lokalteils der Zeitung „Le Parisien“. „Eine Gegenbewegung ist im Entstehen“, glaubt Sahmi. Sie erzählt von anderen französischen Städten, in denen ebenfalls öffentliche Still-Happenings stattgefunden haben. Sahmi und die anderen Aktivistinnen hoffen auf einen Bewusstseinswandel: Sie wünschen sich Krippen am Arbeitsplatz, die es berufstätigen Müttern erlaubten, ihren Kindern nahe zu sein, sie auch zu stillen. Noch sind Firmen-Kitas in Frankreich die große Ausnahme.

Ein Marokkaner betritt Sahmis Praxis, gefolgt von seiner fast von Kopf bis Fuß verhüllten schwangeren Frau. Der Unterschied zwischen der werdenden Mutter und der Geburtshelferin, die ihr mit wallendem Haar, Minirock und Stiefeln gegenübersitzt, könnte augenfälliger kaum sein. „Sie wird das Baby stillen“, sagt Sahmi, als das Paar die Praxis verlassen hat. „In Marokko ist das ja auch vollkommen normal.“

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