Längst erwachsenDarum bringen uns unsere Eltern immer noch so schnell auf die Palme

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Wie ein Besuch bei den Eltern abläuft, hängt im hohen Maße davon ab, ob die Eltern versuchen ihre erwachsenen Kinder weiter zu erziehen oder sie als eigenständige, unabhängige Menschen respektieren. 

  • Um einen Streit zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern zu entzünden, reichen oft schon Kleinigkeiten, wie ein Kommentar zur Kleidung oder zum neuen Partner.
  • Während man bei Freunden gelassen auf dieselben gut gemeinten Ratschläge reagiert, geht das meistens nicht so gut bei den eigenen Eltern.
  • Der Psychologe Claus Koch erklärt, warum erwachsene Kinder sich so schnell über Mutter und Vater aufregen, woher die Konflikte rühren und wie man sie vermeidet.

Köln – Wenn mein Vater mir erklären möchte, wie ich am besten die Mikrowelle bediene oder meiner Mutter mir sagt, dass mein Kleid unmöglich aussieht, nervt mich das. Ratschläge oder Kommentare, die mich bei anderen Menschen wahrscheinlich nie stören würden, machen mich wütend, wenn sie von meinen Eltern kommen. 

Warum erwachsene Kinder sich so schnell mit ihren Eltern streiten und oftmals schon Kleinigkeiten reichen, um einen Konflikt zu entfachen, weiß der Psychologe und Bindungsexperte Claus Koch. Im Interview erklärt er, warum wir gerade bei unseren Eltern so sensibel reagieren.

Schon bei der Fahrt zu den Eltern herrscht in mir eine gewisse Grundanspannung, weil ich genau weiß, welche Diskussionen und Verhaltensweisen kommen werden. Ist das bei vielen erwachsenen Kindern so?

Claus Koch: Ich glaube, dass es den meisten Erwachsenen so geht wie Ihnen. Das liegt an der Besonderheit des Kind-Eltern-Verhältnisses. Denn ein Kind ist ja lange von seinen Eltern abhängig – mindestens die ersten zehn bis zwölf Jahre. Es kommt völlig hilflos auf die Welt und muss erst einmal versuchen, eine feste Bindung zu seinen Eltern aufzubauen. Und diese Bindung bleibt, wenn man so will, ein Leben lang bestehen, egal ob der Bindungsprozess gut oder schlecht ausgeht. Im Laufe der Zeit wird das Kind zwar immer weniger abhängig von den Eltern. Doch die frühkindliche Erfahrung, abhängig von ihnen gewesen zu sein, hallt weiter nach und dies eben auch, wenn wir später als Erwachsene unsere Eltern besuchen. Mit anderen Worten: Eltern bleiben immer Eltern und Kinder bleiben immer ihre Kinder. Ob man will oder nicht. Und genau dies führt oft zu der gewissen Anspannung, die Sie ansprechen. 

Als Kind bin ich abhängig und wünsche mir, dass ich bei meinen Eltern sicher und geborgen bin. In der Pubertät entsteht aber ein Loslösungsprozess. Kinder befreien sich von ihren Eltern, nehmen Abstand. Je besser dieser Prozess in der Pubertät geklappt hat, desto weniger Konflikte treten später zwischen Eltern und Kind auf – wenn ein Jugendlicher sich als unabhängiges Wesen begreifen kann. Konflikte entstehen besonders dann, wenn dieser Abnabelungsprozess nicht so gut gelingt. Weil wir als Menschen so lange von unseren Eltern abhängig waren, beschleicht einen dann schon bei der Fahrt zu ihnen die Frage: „Bin ich eigentlich noch das Kind von früher, oder bin ich meinen Eltern gegenüber ein eigenständiges Wesen?“ Hinzukommt, und dies ist ein entscheidender Punkt, wie die Eltern reagieren, wenn man zu ihnen nach Hause kommt – behandeln sie ihr Kind als erwachsenen Menschen, oder glauben sie, immer noch alles besser zu wissen.

Wie meinen Sie das?

Koch: Wie ein Besuch bei den Eltern abläuft, hängt im hohen Maße davon ab, ob die Eltern versuchen, ihre erwachsenen Kinder weiterhin zu erziehen oder sie als eigenständige, unabhängige Menschen respektieren. Ein Beispiel: Ist die Beziehung der Tochter mit dem Partner in die Brüche gegangen, können Vater und Mutter auf zwei Weisen reagieren. „Ich habe ja schon immer gewusst, dass der Mann nicht zu dir passt!“ – sie versuchen zu bevormunden. Oder die Eltern sagen: „Oh, das tut mir aber leid. Möchtest du mit mir darüber sprechen und erzählen, was passiert ist?“ Nur mit der zweiten Reaktion kann ein fruchtbares Gespräch entstehen. Andernfalls sind die Eltern in der Rolle der Besserwisser. 

Es muss ja nicht eine Vorschrift sein, manchmal reichen schon Kleinigkeiten, die zu einem Konflikt führen.

Koch: Wie schon gesagt, das liegt an der Besonderheit einer Eltern-Kind-Beziehung. Sie bleibt als solche ein Leben lang bestehen. Hierin liegt ja auch der große Unterschied zu einem Freundschaftsverhältnis. Eltern kann man sich nicht aussuchen und Eltern bleiben einem das ganze Leben erhalten. Im Gegensatz zu einer Freundschaft, kann ich die Beziehung zu Mutter und Vater nicht einfach aufkündigen. Aus diesem Verhältnis resultieren Unsicherheiten und die Sorge, bei dem Besuch bei den Eltern wieder in die Rolle des Kindes hineinzugeraten, obwohl man schon 25, 30 oder 40 Jahre alt ist.

Mit meinem Vater gerate ich sehr schnell aneinander. Will ich beispielsweise die Mikrowelle bedienen, stellt er sich hinter mich und erklärt mir, wie es geht. Ein wahrscheinlich nett gemeinter Rat, nervt mich sehr. Wäre ich irgendwo zu Gast, würde mich das gleiche Verhalten wahrscheinlich nicht so stören. Warum ist das so?

Koch: Das ist so, weil wir durch die von Ihnen beschriebene Situation sofort wieder in einer Eltern-Kind-Rolle stecken. Das ruft Gefühle hervor, die wir als Kinder auch schon hatten, als uns unsere Eltern Vorschriften gemacht haben. Automatisch erinnern wir uns daran zurück, wie die Mutter oder der Vater uns gesagt haben, dass wir das Zimmer aufräumen müssen, uns eine Jacke anziehen sollen, weil es draußen kalt ist oder unsere Hausaufgaben erledigen sollen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Jetzt glauben sie, uns sagen zu müssen, wie eine Mikrowelle funktioniert, obwohl sie wissen, dass wir sie selbstständig bedienen können. 

Einem Kind zu erklären wie ein Herd oder eine Mikrowelle funktioniert, kann ja durchaus sinnvoll sein. Aber bei einem Erwachsenen funktioniert das nicht mehr. Es stört, erneut die Erfahrung zu machen, wieder als Kind gesehen zu werden. Es regt einen auf, weil Vater oder Mutter in ihrem Verhalten zurückfallen in die Rolle, wie sie einem früher begegnet sind. Und weil jedes Kind einmal selbstständig sein möchte, führt so ein Verhalten zu Konflikten. Hätten die Eltern akzeptiert, dass ihr kleines Mädchen nun eine erwachsene Frau ist, würden sie Sachen wie „du hast unmögliche Schuhe an“, „du kannst bei diesem Wetter nicht mit dieser Jacke herausgehen“ nicht sagen oder nicht erklären, wie eine Mikrowelle zu bedienen ist. Was dem Kind in einer solchen Situation aufstößt, ist, dass es wieder als Kind behandelt wird. 

Wir fallen also in unsere Rollen zurück?

Koch: Genau. Nicht nur Eltern ergeht es so, dass sie ihre Kinder wie früher behandeln, auch Erwachsene werden dann wieder zu Kindern. Man ist 22, 25, 30 und wohnt vielleicht schon seit Jahren in einer anderen Stadt, besucht die Eltern und trifft abends Freunde. „Macht euch keine Sorgen, ich komme nicht zu spät nach Hause!“ – sagt so manch ein erwachsenes Kind zu seinen Eltern. Als ob es das jetzt nicht selbst entscheiden kann!

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Und Mutter und Vater machen sich Sorgen, wenn das erwachsene Kind um zwei Uhr nachts noch nicht zu Hause ist, obwohl ihr „Kind“ schon seit Jahren in einer Großstadt lebt und nach Hause kommt, wann es will und bisher auch nichts passiert ist. Beide Seiten fallen also in ihre alten Verhaltensweisen zurück. Die Situation zeigt gut, dass man dieses Verhältnis zwischen Kind und Eltern nie so ganz loswird.

Eltern möchten einfach ein Stück weit Eltern bleiben?

Koch: Bleiben wir bei Ihrem Beispiel mit Ihrem Vater und der Erklärung zur Mikrowelle. Entweder war der Vater schon immer so und wusste stets alles besser, hat immer Vorschriften gemacht. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er darüber versucht, an seine Elternrolle, wie sie früher einmal gewesen ist, festzuhalten. Er reproduziert sein Eltern-Verhalten.

Ich kenne meine Eltern gut und umgekehrt sie mich. Haben sich einfach Verhaltensweisen eingeschlichen, die zu Konflikten führen? Und warum reagiere ich auf die gleiche Botschaft unterschiedlich, wenn sie von einem Freund oder meinen Eltern kommt?

Koch: Das liegt an dem Gefühl von den Eltern weiterhin abhängig zu sein, auch wenn es in der Realität nicht mehr so ist. Das unterscheidet Eltern von Freunden, die uns etwas Ähnliches sagen. Wir reagieren auf Besserwisserei oder Vorschriften von Mutter oder Vater viel sensibler. Bei einem Freund können wir leichter sagen, dass wir eine Sache nicht so angehen werden, wie er es für richtig hält. 

Habe ich mit 14, 15 oder 16 Jahren immer wieder gehört, dass meine Kleidung nicht passend oder angemessen sei, fühle ich mich in diese Situation zurückversetzt, wenn mir meine Eltern dies im Erwachsenenalter immer noch sagen. Es fühlt sich außerdem so an, als ob die Eltern nicht mitbekommen hätten, dass man nicht mehr 14 ist. Sie nicht merken und anerkennen würden, dass man sich weiterentwickelt hat. Anders als bei Freunden fällt es uns bei unseren Eltern aber schwerer zu widersprechen, weil Kinder von Geburt an zu ihren Eltern sehr loyal sind. Diese Loyalitätskonflikte treten in der Beziehung mit den Eltern auf, wenn wir auch als Erwachsene unserer Mutter oder unserem Vater nicht widersprechen wollen. Innerlich akzeptieren wir das Verhalten der Eltern allerdings nicht und regen uns darüber auf. Vielleicht auch darüber, dass wir selbst wieder wie ein Kind reagieren.

Eltern können ihre erwachsenen Kinder nicht mehr erziehen. Aber sie können immer präsent bleiben, wie ich es jüngst in meinem Buch über das Erwachsenwerden geschrieben habe. Sie können ihren Kindern weiterhin beistehen, wenn sie Probleme haben, ohne ihnen dabei Vorschriften zu machen. Dann braucht man auch nicht mehr angespannt zu sein, wenn man sie besucht. Eltern und ihre erwachsenen Kinder begegnen sich auf Augenhöhe und teilen ihre Vergangenheit und gemeinsamen Erfahrungen auf respektvolle und angenehme Weise.

Zum Weiterlesen: Claus Koch, „Pubertät war erst der Vorwaschgang: Wie junge Menschen erwachsen werden und ihren Platz im Leben finden“, Gütersloher Verlagshaus, 2016.

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