Gefahren durch Livestream-Portal „Younow“Wenn 100 Fremde ins Kinderzimmer schauen

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Köln – Es ist eine ungewöhnliche Allianz: Politiker wie Manuela Schwesig und Youtube-Stars wie LeFloid warnen einvernehmlich vor derselben Plattform: dem Live-Video-Chat Younow. „Kommunikationsplattformen wie Younow sind für Kinder gefährlich“, sagt die Familienministerin, während LeFloid es in seinem Youtube-Kanal etwas anders ausdrückt: „Seid nicht so naiv, Leute!“

Das Videoportal Younow gibt es seit 2011, in Deutschland boomt der Dienst seit 2015. Er ähnelt optisch Youtube – allerdings filmen sich die Nutzer hier überwiegend selbst, die Videos werden ohne Bedenkzeit sofort live im Internet ausgestrahlt. Zuschauer können über Chatfenster direkt Nachrichten an die Nutzer schicken. Zur Anmeldung ist ein Facebook-, Twitter- oder Google-Plus-Account nötig. 16 Millionen Streams werden in Deutschland pro Monat abgerufen. (ann)

Geändert hat es nichts: Die Anmeldezahlen sind in den vergangenen Monaten explodiert, 750000 Nutzer sind im deutschsprachigen Raum inzwischen registriert. Wer Younow einschaltet, kann zu jeder Uhrzeit live in Hunderte Kinderzimmer zappen – und über die Kommentare sofort Kontakt zu der Person vor der Kamera aufnehmen. Das US-Angebot ist für Kinder ab 13 Jahren erlaubt, die Plattform hat bloß die Pflicht, als anstößig oder urheberrechtlich problematisch gemeldete Videos zu entfernen. Klagen treffen in der Regel die Nutzer, nicht Younow.

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Verbote für Jugendliche, sagen Pädagogen und Psychologen, seien sinnlos. Bloß Aufklärung helfe und das Vermitteln von Medienkompetenz. Doch woher soll die kommen? Sogar die junge Generation der Eltern und Lehrer ist weit davon entfernt zu wissen, welche Möglichkeiten das neue Medium bereithält. Wo liegen rechtliche Gefahren, wo moralische Grauzonen? Wir haben eine Woche lang Younow verfolgt und Beispiele gesammelt. Der Kölner Medienanwalt Christian Solmecke hat die Szenen für uns analysiert.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Montagnacht, 1.30 Uhr: Christin (alle Namen geändert) filmt sich mit ihrem Smartphone im Bett, ihr stark geschminktes Gesicht ist nah vor der Kamera. Sie flüstert – ihre Eltern sollen nicht merken, dass sie noch online ist, sie sollen ihr aufreizendes Profilbild, ihren dazu passenden Nutzernamen und das zu starke Rouge auf ihren Wangen nicht entdecken. 100 Menschen schauen zu. „Wie alt ist die Kleine?“ – diese Frage taucht in den Kommentaren immer wieder auf.

Viele Zuschauer kennen die Antwort schon genau. „13 – nächste Woche wird sie 14!“, informiert Dennis die Neuankömmlinge. „Da ist die Süße ja wieder!“, freut sich auch Rangero23. Christin spricht wenig. Erst versteigert sie ihre Kontaktdaten – für 15 Likes hält sie ein Schild mit ihrem Instagram-Namen in die Kamera, für 30 gibt es den intimeren Skype-Kontakt. Ihren Wohnort verrät sie sofort. Für jedes Herz, das ein Zuschauer postet, wirft sie einen Kussmund in die Kamera.

Zwischendurch kaut sie minutenlang heftig auf einem Stift herum, seufzt immer wieder: „Mir ist so warm!“ und streicht sich über ihr Dekolleté. Unschuldige Koketterie, die Entdeckung der Weiblichkeit – zur falschen Zeit am falschen Ort. Denn um diese Uhrzeit und mit diesem Profil lädt Christin unerwünschte Gäste in ihr Bett ein. Das britische „Internet Crime Forum“ hat in einer Studie festgestellt, dass in Jugendchats rund 20 Prozent der Mitglieder Pädophile sind.

Auch wenn Younow ursprünglich für Musiker, Künstler und deren Fangemeinde gedacht war, hat sich die Plattform zu einem Jugendchat entwickelt. Dass er in Echtzeit und per Video abläuft, dürfte die Plattform für Pädosexuelle kaum unattraktiver machen. Auf Nachfrage dieser Zeitung teilt das Unternehmen mit, dass 50 Prozent der deutschsprachigen Nutzer jünger als 18 Jahre alt sind.

Zwölf Moderatoren hat Younow nach eigener Aussage für bisher 750000 Nutzer in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzt. Sie sollen die Nutzer schützen – vor anderen und vor sich selbst. Eine anspruchsvolle Aufgabe in einem Medium, in dem alles live passiert. „Du bist eine Göttin“ und „Du hast viel zu viel an!“, schreiben Christins Zuschauer. Dennis wird expliziter: „Willst du mal meinen Stift kauen?“ Christin runzelt kurz die Stirn, liest dann weiter "Dennis, du Depp!", warnt ein anderer. "Pass auf, sonst kommt der Moderator!" Dennis: "Sorry. Was ist ein Moderator?"

Als Christins Zuschauerzahl gegen 2.00 Uhr auf 70 sinkt, fängt sie an, die Namen ihrer Fans mit einem dicken, schwarzen Filzstift auf ihr weißes Trägertop zu schreiben. Der treue Jimmy ist der Erste – mit einem Herz landet sein Name auf ihrer rechten Brust. Als die Kritzelei fertig ist, richtet sie ihre Handykamera darauf, zum ersten Mal ist mehr von ihrem Körper zu sehen. "Ich will auch!", schreibt ein Zuschauer. Christin lächelt geschmeichelt. "Wer will noch auf meinem Top stehen?“", fragt sie. Sofort poppen ein Dutzend Namen in den Kommentaren auf. Einer nach dem anderen landet auf Christins Shirt: Kai, Patrick, Lukas, Hans. Am Ende sind es gut 15 Männernamen, die Kamera wandert über den Körper der 13-Jährigen. Kein Moderator in Sicht.

Der egoistische Regisseur

Dienstag, 21.00 Uhr: Valerie sagt kichernd, sie sei 26. Sie sieht höchstens aus wie 15. Die zierliche Brünette sitzt vor einer kahlen weißen Wand, im Hintergrund läuft das neue Album von The Rasmus, ihr aktuelles Lieblingsalbum. "Spiel mal Landser!", fordert ein Nutzer. Valerie liest vor. Überlegt. "Landser – ich hab echt keine Ahnung, was das ist." Eine rechtsradikale Band, klärt ein anderer Zuschauer auf. "Ach soo", sagt Valerie. "Nein, danke!"

Ein Kommentar nach dem anderen schießt in die Timeline, Valerie versucht in Sekundenschnelle, alle vorzulesen und zu beantworten, aber sie schafft es nicht, sie hatte noch nie mehr als 100 Zuschauer, so wie jetzt, "danke, danke noch mal". Die Zuschauer protestieren heftig. "Ey, du hast mich überlesen!" Valerie entschuldigt sich. "Es ist so schwer, all die Fragen zu beantworten. Weil so viele Fragen kommen. Und weil es eigentlich immer dieselben sind."

Das ist das Younow-Paradox: Der Mix aus Reality-TV, Casting-Show und Live-Format, der in seinen Neon-Farben auf den ersten Blick so aufregend wirkt, ist in Wirklichkeit ganz schön fad. Ideen haben die wenigsten Broadcaster. Wie sollten sie auch bis zu fünfstündige Liveshows geistreich füllen? Die meisten verlassen sich stattdessen ganz auf die Eingaben von draußen, auf den Dialog mit ihren Zuschauern. Doch das anonyme Publikum ist ein egoistischer Regisseur.

Die Fluktuation zwischen den Streams ist hoch, wer irgendwo neu einschaltet, will erst mal auf den neuesten Stand gebracht werden; wissen, wie der Broadcaster heißt; wie alt er ist; wie er seine Haare so hinbekommen hat? Tiefer führt die Unterhaltung selten, dann haben schon drei neue Zuschauer eingeschaltet. Andere formulieren klare Befehle: "Steh mal auf!" oder "Sing was!" werden oft genug bereitwillig befolgt.

Je unsicherer der Broadcaster, desto schneller gibt er Intimes preis, um die Sendezeit zu füllen: Wohnort, Schule, echter Name, Schulweg, Hobbys am Nachmittag und die Medikamente zum Beispiel, die man zurzeit so einnimmt. Wer bei den Zuschauern gut ankommt, erhält von ihnen Likes und kann damit das nächste Level im Younow-Ranking erreichen – der Stream des Broadcasters wird dann zum Beispiel prominenter auf der Seite platziert.

Wer es nicht durch reine Interaktion auf die nächste Ebene schafft, der kann sich diese Privilegien aber auch erkaufen: Die beliebten Goldbarren gibt es im Appstore, 90 Stück kosten 99 Cent, 3100 gibt es für 24,99 Euro.

„Gema, du Spacko?“

Mittwoch 9.30 Uhr: Vera und Luise sitzen im Wohnzimmer. Hinter ihnen läuft ein Fernseher, auf lautlos geschaltet, das Radio spielt stattdessen Lady Gagas „Pokerface“. Die beiden haben "schulfrei" – wie so viele Broadcaster, die zu dieser Uhrzeit streamen. "Zahlt ihr Gema für die Musik, die ihr hier spielt?", fragt Nutzer Keiko hartnäckig. Vera wird beim dritten Post motzig: "Boah, du Spacko! Was soll denn das sein – Gema? Nein, zahlen wir nicht. Und ich blockier’ dich jetzt."

Noch sind dem Medienanwalt Christian Solmecke keine Klagen der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (Gema) gegen Younower bekannt. Potenziell könnten Vera und Luise aber nicht nur wegen des lautlos flackernden Fernsehers, sondern für jeden einzelnen Song abgemahnt werden, der während des Zwei-Stunden-Streams läuft.

Regel- und Rechtsverstöße sind bei Younow nicht nur häufig, sie machen in vielen Streams das Haupt-Programm aus. Die Broadcaster nutzen vor der Kamera eben die Medien ihres Alltags. „Prank-Calls“ zum Beispiel, Scherz-Anrufe, werden oft aktiv von den Zuschauern gefordert. Viele Younower nutzen dafür den Dienst „Basechat“. Man wählt eine Festnetznummer und wird von dort aus zu anderen, unbekannten Basechattern weitergeleitet.

Oft heben Männer ab, die sich gerade einsam fühlen – und die nicht ahnen, dass ihnen 100 Fremde lauschen. Auch das „Instagram-Spiel“ ist beliebt: Dabei wählen die Broadcaster fremde Nutzer auf der Foto-Plattform Instagram aus, halten deren Profilbild in die Kamera und lassen das Publikum über ihr Aussehen abstimmen. Erstaunlich selten filmen die Jugendlichen in der Außenwelt. Dann aber tappen ahnungslose Passanten durchs Bild oder Lehrer, mit Kreidestift in der Hand auf dem Weg zur Tafel.

Fazit

Younow ist kein Monster. Manche Nutzer können es aber sein. Weil in Echtzeit gesendet wird, ist die Plattform für Minderjährige ein kaum zu meisternder Drahtseilakt. Dennoch lockt Younow mit Design und Inhalt Jugendliche – im Internet sind sie die wichtigste Zielgruppe. Datenschutz und seelische Stabilität scheinen hierbei zweitrangig. Die Moderatoren jedenfalls, die Younow-Gründer Adi Sideman als einzige Kontrollinstanz nennen kann, sind offenbar nutzlos. Was also tun? Wirksamer als jedes elterliche Verbot dürfte eine elterliche Registrierung bei Younow sein. Melden Sie sich an, wissen Sie Bescheid – und mischen Sie sich bei kritischen Streams ein. Denn der Trend der Live-Übertragung wird so schnell sicher nicht verschwinden.

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