Freunde oder Vaterland?Was das Wort „Heimat“ für vier Menschen in der Region bedeutet

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Norman Franke ist mit seiner ganzen Familie von Manheim nach Manheim Neu gezogen, nachdem der alte Ort dem Braunkohle-Tagebau zum Opfer gefallen ist. Manheim Neu betrachtet er als seine Heimat.

  • Zum Tag der deutschen Einheit haben wir uns gefragt: Was ist Heimat?
  • Unsere Autorin hat sich auf die Suche nach Antworten auf diese schwierige Frage begeben und erfahren: Das sanfte Wort „Heimat“ wurde hierzulande oft missverstanden.
  • Der Begriff wurde verkitscht und verhöhnt, missbraucht von rechten Ideologen und werbewirksam hochgejazzt. Heute ist er wieder salonfähig.
  • Lesen Sie auch, was vier Menschen aus der Region unter dem Wort „Heimat“ verstehen.

Köln – Gibt es einen Plural von Heimat? Das fragte sich vor einigen Jahren die Kölner Lyrikerin Agnieszka Lessmann. Und wenn es denn einen Plural gibt – wie könnte er lauten? Heimata? Heimati? Heimaten? Kann man überhaupt mehrere Plätze, Städte, Länder, mehrere Herzens- und Seelenorte haben, denen man sich heimisch verbunden fühlt?

Heimat, das ist ein Begriff, der viele Deutungen zulässt. Der facettenreich ist, schillernd und so schwer zu fassen wie ein Traum. Der Emotionen weckt, gute wie schlechte, und wohl kaum jemanden unberührt lässt. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm waren die ersten, die sich an eine Definition des schwierigen Wortes wagten. Heimat, schrieben sie 1877 im Nachschlagwerk „Grimms Deutsches Wörterbuch“, bezeichne „das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat“. Heimat, nicht mehr als eine Ortsangabe.

Der Heimatbegriff wurde verkitscht und verhöhnt

Seitdem hat der Begriff so manche Metamorphose erfahren. Wurde verkitscht und verhöhnt, missbraucht von rechten Ideologen und werbewirksam hochgejazzt zu einem deutschen Alleinstellungsmerkmal, für das es in keiner anderen Sprache eine Entsprechung gibt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Ruf endgültig ruiniert. „Heimat ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit“, grantelte der Schriftsteller Martin Walser 1967 in seinem Essay „Heimatkunde“. Und warnte: „Wenn es sich um Heimat handelt, wird man leicht bedenkenlos.“ Heimat – darin hallte die Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten nach. Das klang nach den tränenseligen Heimattreffen der Vertriebenenverbände, nach ranziger Lederhose und dem angejahrten Kitsch von Filmen wie „Der Fischer vom Heiligensee“ und „Die Christl von der Post“.

Heute ist das Wort „Heimat“ wieder salonfähig

Inzwischen ist das Unwort des 20. Jahrhunderts wieder salonfähig geworden. Heimat sei eine „Art Begriff der Stunde“, sagt der Sprachforscher Thomas Niebuhr in einem Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“. 48 Millionen Einträge auf Google. 64 Verwendungen pro einer Million Wörter. So viele zählt die Wortstatistik des „Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache“. Heimat – in Zeiten der Corona-Pandemie schon fast eine Verheißung, wenn die Welt jenseits der deutschen Grenzen als brandgefährlich gilt und Urlaub im eigenen Land zur Notwendigkeit wird.

Für Susanne Scharnowski, Literaturwissenschaftlerin und Autorin des Buchs „Heimat – Geschichte eines Missverständnisses“, ist die Renaissance des Heimatbegriffs vor allem das Zeichen einer allgemeinen Verunsicherung. Je instabiler die Lage, desto größer die Sehnsucht nach einem emotionalen Kuschelort, sagt sie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Vor allem in Umbruchzeiten, wenn die Befürchtung im Raum stehe, etwas verändere sich oder gehe verloren, werde Heimat für die Menschen wichtig.

Heimatabteilungen in den Ministerien

Die Bundesregierung hat längst auf die gesellschaftliche Trendwende in Sachen Heimat reagiert. Aus dem „Bundesministerium es Innern“ ist 2018 das „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“ geworden. Eine neu geschaffene Heimatabteilung, zuständig für eine „heimatbezogene Innenpolitik“, soll „den Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Identifikation in beziehungsweise mit unserem Land“ erhöhen. Das Land NRW leistet sich bereits seit 2017 ein „Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung“. Es gelte, so die Jobbeschreibung, den starken gesellschaftlichen Zusammenhalt in NRW, der „lebenswerten Heimat im Herzen Europas“, zu bewahren.

„Allein das Wort klingt schön und elegant“, sagt der Reiseschriftsteller Andreas Altmann, der gerade ein Buch über den „Begriff der Stunde“ abgeschlossen hat. „Gebrauchsanweisung für Heimat“, so der Titel, soll im kommenden Jahr auf den Markt kommen. „Aber natürlich wissen wir inzwischen, dass nicht wenige das sanfte Wort missverstehen und gern alles andere in Brand stecken, was nicht wie ihre eigene Heimat aussieht“, so Altmann in einem Statement gegenüber dieser Zeitung. „Das ist sicher eine Frage des Intelligenzquotienten. Andere – mit mehr Hirn unterwegs – haben begriffen, dass man, ganz konkret, Deutschland lieben und trotzdem mit dem Rest der Welt freundschaftlich verbunden sein kann.“

Deutsche fühlen sich stark mit ihrer Heimat verbunden

„Heimat und Weltoffenheit lassen sich gut miteinander verbinden“, glaubt auch die ehemalige SPD-Chefin Andrea Nahles, die ein stilles Dorf in der Eifel ihren Herzensplatz nennt. „Heimat ist der Ort, an dem ich mich immer angekommen fühle“, sagt sie gegenüber dem Parteiorgan „Vorwärts“, und das habe nichts mit diesem „altbackenen und einengenden Heimatverständnis zu tun, das über Menschen bestimmt, so wie die Konservativen es versuchen“.

Die Mehrzahl der Deutschen hat ohnehin kein Problem mit dem einst verpönten Begriff. 77 Prozent fühlen sich „stark“ oder „sehr stark“ mit ihrer Heimat verbunden. Das ergab 2018 eine repräsentative Umfrage des „Instituts für Demoskopie Allensbach“– die erste überhaupt zu diesem Thema. In den letzten Jahrzehnten habe das Wort Heimat in der öffentlichen Diskussion in Deutschland keine große Rolle gespielt, entschuldigt Institutsmitarbeiter Thomas Petersen das Manko, nachdem er im Archiv vergeblich nach entsprechenden Untersuchungen gefahndet hatte. Umso bemerkenswerter sei die Aufmerksamkeit, die der Begriff in letzter Zeit erfahren habe.

Heimat kann sehr vieles sein

Heimat, auch das fanden die Demoskopen heraus, kann sehr vieles sein. Ein Ort, ein vertrauter Mensch. Das Sehnen nach etwas, das längst verloren ist. So verbanden die meisten der 1279 Befragten damit „Kindheit“, „Freunde“ und „Vergangenheit, alte Zeiten“. Das Gefühl von „Geborgenheit“ stand mit 72 Prozent ebenfalls hoch im Kurs. Ein Drittel bezeichnete seinen Wohnort als Heimat, 22 Prozent fühlten sich in ihren Geburtsort heimisch. Und gerade mal sieben Prozent dachten bei dem Stichwort Heimat an Deutschland. Bemerkenswert: Linke wie rechte Wähler standen gleichermaßen zu ihren Heimatgefühlen. Heimat, so die Schlussfolgerung der Allensbacher, sei also alles andere als ein reaktionärer Begriff des rechten politischen Randes.

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Auch für die Menschen, die wir für diese Geschichte befragt haben, ist Heimat sehr viel mehr als der Ort, in dem sie leben. Wichtig, um sich heimisch zu fühlen, seien die Familie, die Freunde, die Nachbarn. Sie alle machten Heimat aus. Natürlich könne er in keinem anderen Ort leben als in Manheim, sagt Norman Franke, der vor sechs Jahren im rheinischen Braunkohlerevier umgesiedelt wurde. „Es sei denn, das komplette Dorf käme mit.“

Andreas Altmann, der Weitgereiste, der schon früh „im Laufschritt und glückselig“ seine „Urheimat“ Altötting verließ, hat inzwischen in Paris seine erste „physische“ Heimat gefunden. „Alle anderen Orte, in denen ich gelebt habe – Deutschland, Österreich, Japan, Indien, USA und Mexiko – habe ich mit dem guten Gefühl verlassen, dass es jetzt genug ist und ich weiterziehen muss.“ Altmann ist überzeugt, dass der Begriff Heimat sehr wohl einen Plural hat. „Dass es eben nicht nur eine Heimat gibt, dass man mehrere haben kann, dass man eine aufgeben und sich in eine neue verlieben kann. Dass so vieles – jenseits des traditionellen Begriffs – Heimat sein kann: eine fremde Stadt, ein fremdes Land, die Liebe, Musik, der Körper eines anderen, die Sprache, Freunde, gewiss Tiere, gewiss auch Deutschland, auch wenn unser Land, so meinte Willy Brandt, ein schwieriges Vaterland ist“.

„Wenn ich den Dom sehe, weiß ich, dass ich zu Hause bin“

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Karin Ockenfels auf ihrem Balkon in Köln Zollstock 

Karin Ockenfels, 75 Jahre alt, Rentnerin in Köln-Zollstock 

Heimat, habe ich einmal gelesen, sei da, wo einem das Herz aufgeht. Genauso geht es mir mit Köln. In dieser Stadt geht mir das Herz auf. Nicht nur die Stadt selber, ihre Straßen und Plätze sind mir wichtig, sondern auch die Menschen mit ihrem „kölschen Hätz“. Meine Familie, meine Freunde. Mein Laienspielkreis. Die Kirchengemeinde St. Pius, der ich seit meiner Kindheit verbunden bin. Köln ist für mich ein Gefühl, das man schlecht in Worte fassen kann.

Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Stadt und kann mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu wohnen. Weil ich hier seit 75 Jahren zuhause bin und mich wohlfühle. Ich habe viele Städte in Europa gesehen. Rom, Prag, Paris, Lissabon, Berlin. Unsere Hochzeitsreise führte uns nach Wien, wo man im Fiaker zum ersten Mal in meinem Leben „gnädige Frau“ zu mir gesagt hat. Aber nirgendwo wäre ich gern dauerhaft geblieben. Nur hier in Köln fühle ich mich auf- und angenommen von den Menschen. Mein absoluter Lieblingsplatz ist der Kölner Dom. Egal, aus welcher Richtung Sie kommen – das Erste, was Sie sehen, ist der Dom. Dann wissen Sie, dass Sie zu Hause sind. Deswegen gibt es in meiner Wohnung auch viele Bilder vom Dom, und ich trage ihn als Anhänger um den Hals.

Kurz nach Kriegsende in Zollstock geboren

Schon meine Eltern sind in Köln geboren. Sie hatten vor dem Zweiten Weltkrieg eine Bäckerei am Mauritiussteinweg, die ausgebombt wurde. Als Kind habe ich zwischen den zerstörten Häuser gespielt, und ich kann mich noch an die Bombentrichter in den Straßen erinnern, wenn ich mit meiner Großmutter zu Fuß von Zollstock nach Sülz ging, wo eine Tante von mir wohnte.

Ich bin kurz nach Kriegsende in Zollstock zur Welt gekommen, nur ein paar Ecken von der Straße entfernt, in der ich seit mehr als 50 Jahren wohne. Mein Mann und ich sind zwei oder drei Jahre nach unserer Hochzeit in die Erdgeschosswohnung gezogen. Das Haus gehörte meinen Schwiegereltern. Hier sind auch zwei unserer drei Kinder geboren. Heute lebe ich allein in der großen Wohnung. Mein Mann ist vor wenigen Monaten gestorben. Wir haben uns bei einer Karnevalsfeier der Kirchengemeinde St. Pius kennengelernt und 1965 geheiratet. In diesem Jahr hätten wir unseren 55. Hochzeitstag.

„Die kölsche Seele ist für mich Heimat“

Mein großes Hobby ist die Pflege der kölschen Sprache und Eigenart. Ich bin Mitglied im „Spielkreis Fritz Monreal“ in Köln-Klettenberg, einem Kölner Mundart-Theater, und habe an der Kölsch-Akademie das Kölsch-Diplom gemacht.

Mir hat es schon als junge Frau viel Spaß gemacht, auf der Bühne zu stehen. Im vergangenen Jahr habe ich mein 40. Bühnenjubiläum gefeiert. Unsere Truppe ist eine große „Familich“, und wir sind stolz darauf, „e kölsch Hätz ze han“. Inzwischen tritt auch einer meiner Enkel bei uns auf.

Die kölsche Sprache liegt mir sehr am Herzen. Es gab einmal ein Motto im Kölner Karneval: „Uns Sproch es Heimat.“ Besser kann man es nicht ausdrücken. Die kölsche Seele, die sich in der Sprache widerspiegelt – das ist Heimat für mich. 

„Manheim-neu ist für mich die alte Heimat in einem neuen Gewand“

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Norman Franke ist mit seiner ganzen Familie von Manheim nach Manheim Neu gezogen, nachdem der alte Ort dem Braunkohle-Tagebau zum Opfer gefallen ist. Manheim Neu betrachtet er als seine Heimat.

Norman Franke, 37 Jahre alt, Versicherungskaufmann in Manheim-neu  

Heimat bedeutet für mich Wärme, Geborgenheit, Vertrautheit. Ich bin stark in der Region verwurzelt, in der ich schon immer gelebt habe, und es wäre schwierig für mich, von dort wegzuziehen. Es sei denn, meine Familie, meine Freunde, die Nachbarn, das komplette Dorf kämen mit. Ich brauche das Umfeld, das ich seit meiner Geburt kenne, um mich zu Hause zu fühlen. Das macht für mich Heimat aus.

Aufgewachsen bin ich in Manheim-alt. Vor sechs Jahren sind meine Familie und ich umgesiedelt worden nach Manheim-neu. Das Dorf, in dem ich 31 Jahre gelebt habe, wird wegen des Braunkohletagebaus weggebaggert. In Spitzenzeiten lebten dort mehr als 2000 Menschen. Heute sind es nur noch 38. Ein paar Landwirte und Familien, die noch nicht verkauft haben. Die meisten Gebäude stehen leer oder existieren schon gar nicht mehr. Auch mein Elternhaus und die Straße, in der wir gewohnt haben, sind längst dem Erdboden gleichgemacht.

„Eine Deadline für unser Dorf“

Mir war immer klar, dass es den alten Ort irgendwann nicht mehr geben wird. Dass wir weggebaggert werden, weil wir auf der Kohle sitzen, und „da wegmüssen“. Das Wort „Umsiedlung“ gab es damals noch nicht. Doch ich habe nie groß darüber nachgedacht, dass es eine Deadline für unser Dorf gab.

Manheim war meine Heimat. Meine Heimat auf Zeit. Ich fand es toll, dort aufzuwachsen. In der Nachbarschaft gab es viele gleichaltrige Kinder, und wir waren oft in den Feldern unterwegs und haben Quatsch gemacht. Man konnte sich frei bewegen und kannte jedes Haus und jeden Garten.

„Manheim-alt war immer noch unser Zuhause“

Anfangs fand ich es schwierig zu sehen, wie das Dorf allmählich starb. Immer mehr Häuser standen leer, die Gärten verwilderten, die Container an den Straßenrändern füllten sich. Dennoch war Manheim-alt immer noch unser Zuhause, in das wir abends, wenn wir in Manheim-neu an unserem Haus gearbeitet hatten, zurückkehrten und wo unserer Lebensmittelpunkt war. Meine Frau und ich haben noch in der alten Kirche geheiratet, und unsere drei Kinder sind dort getauft. Das war uns wichtig. Doch das Band lockerte sich mehr und mehr, die Verhältnisse verschoben sich, und irgendwann hatte ich mit dem alten Ort abgeschlossen. Wann das genau war, kann ich heute gar nicht mehr sagen.

2014 sind wir nach Manheim-neu gezogen, unsere beiden Töchter wurden bereits hier geboren. Meine Heimat habe ich dennoch nicht verloren, denn unsere Dorfgemeinschaft hat die gewachsenen Strukturen hinübergerettet in den neuen Ort. Das Vereinsleben, die Schützen, die Maigesellschaft, das alles funktionierte nach einer kurzen Pause wieder. 70 Prozent der Manheimer sind umgesiedelt in den neuen Ort. Man kennt sich, man grüßt sich, man feiert gemeinsam. Die Umsiedlung hat unsere Dorfgemeinschaft sogar noch mehr zusammengeschweißt als früher. Vielleicht war das eine Art Bewältigungsstrategie für uns alle. So eine Art Trotz. Jetzt erst recht! Wir lassen unser Dorfleben nicht sterben.

Manheim-neu ist für mich der alte Ort in einem anderen Gewand. Es ist meine neue Heimat. 

„Heimat bedeutet, einen Ort zu haben, wo man hingehört“

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Der Begriff Heimat wird für die Autorin Agnieszka Lessmann durch den Apfelbaum im eigenen Garten symbolisiert.

Agnieszka Lessmann, 56 Jahre alt, Autorin und Lyrikerin in Bergisch Gladbach 

Der Begriff Heimat ist für mich existenziell mit dem Menschsein verbunden. Heimat bedeutet, einen Ort zu haben, wo man hingehört und Teil einer Gemeinschaft ist. Meine Heimat ist Deutschland, das Land, in dem ich seit 52 Jahren lebe. Ich identifiziere mich mit seiner Politik, mit seinen Streitereien und Debatten und mit seiner Kultur. Doch mein Heimat- und mein Geburtsland sind nicht dasselbe. Auch meine Muttersprache und die Sprache, die mir am nächsten ist, in der ich schreibe und mich zu Hause fühle, sind nicht dieselben. Diese innere Zerrissenheit spiegelt sich auch in meinen Gedichten.

Geboren wurde ich in Polen. Mein jüdischer Großvater besaß in Lodz eine Limonadenfabrik. Während des Zweiten Weltkriegs wurden er und meine Großmutter von den Nazis ermordet, mein Onkel starb kurz nach Kriegsende an den Folgen der Lagerhaft. Nur mein Vater überlebte den Holocaust und arbeitete als Wirtschaftsredakteur bei einer Tageszeitung in Lodz. Für mich war immer spürbar, was für ein großer Schmerz für ihn der Verlust seiner Familie und seiner Heimat war, auch wenn er kaum darüber sprach.

„Bestimmte Gerüche und Wörter lösen etwas in mir aus“

1968 kam es in Polen im Zuge der Studentenunruhen zu einer großen Hetzkampagne gegen die jüdische Bevölkerung, und meine Eltern mussten das Land verlassen. Mein Vater war von der kommunistischen Partei zum Staatsfeind erklärt worden und hatte wie viele andere jüdische Intellektuelle seine Arbeit verloren. In seinem Heimatland hätte er nie mehr als Journalist arbeiten können.

Ich habe keine bewussten Erinnerungen an Polen. Als wir gingen, war ich vier Jahre alt. Doch es gibt bestimmte Gerüche und Wörter, die etwas in mir auslösen. Zum Beispiel die polnische Bezeichnung für Blaubeere: Jagoda. Dieses Wort weckt Schichten in mir, die kein deutsches Wort wecken kann. Gleichzeitig verspüre ich noch immer eine große Wut auf Polen, weil man uns damals einfach hinausgeworfen hat.

„Etwas besonderes so viele Jahre an einem Ort zu leben“

Nach unserer Ausreise aus Polen gingen wir zunächst nach Israel. Wir hatten Verwandte in Tel Aviv. Ein Onkel meines Vaters war 1933 in das damalige Palästina ausgewandert. Ich kam in den Kindergarten, meine Eltern besuchten einen Sprachkurs. Mein Vater stellte jedoch schnell fest, dass er in Israel nicht als Journalist arbeiten konnte, und eine andere Tätigkeit kam für ihn nicht infrage. Fünf Monate später verließen wir Tel Aviv wieder und gingen nach Deutschland. Mein Vater hoffte, bei „Radio Freies Europa“ eine Stelle als Redakteur zu finden. Sein Großvater stammte aus Breslau, dem heutigen Wroclaw, so dass wir problemlos die deutsche Staatsbürgerschaft bekamen. Wir wohnten zunächst in der Nähe von Hannover. Als ich neun Jahre alt war, zogen wir nach Porz. Seitdem lebe ich im Kölner Raum.

Ich empfinde es als etwas ganz Besonderes, so viele Jahre an einem Ort zu leben. Man kennt die Landschaft, die Menschen, die Häuser und Straßen. Man sieht, wie sich der Ort verändert. So ist mir das mit Köln ergangen: Ich fühle mich dieser Stadt und ihrem Umland eng verbunden, weil ich schon so lange hier wohne, so viele Menschen kenne und viele Freundschaften geschlossen habe.

Aber ich weiß auch, dass mein Heimatgefühl nicht das gleiche sein kann wie das meines Mannes, der in Köln geboren wurde und nie fortgezogen ist. 

„Ich bin ein bisschen Italiener, ein bisschen Deutscher – aber ganz Kölner“

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Angelo Mugnos verbindet mit dem Begriff Heimat die Dürener Straße in Lindenthal, wo er ein Restaurant führt. 

Angelo Mugnos, 39 Jahre alt, Gastronom in Köln-Lindenthal

Meine Familie stammt aus Sizilien. Doch ich bin in Köln geboren, im Evangelischen Krankenhaus im Weyertal. Jetzt bin ich 39 Jahre alt, im Dezember werde ich 40. Meine ältere Schwester ist ebenfalls in Deutschland zur Welt gekommen. Irgendwann hat sie in Italien ihren heutigen Mann kennengelernt, geheiratet und ist dortgeblieben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Licata, dem Geburtsort meines Vaters. Er ist vor 57 Jahren nach Deutschland gegangen. Da war er 16 Jahre alt.

Meine Heimat ist definitiv Köln. Das ist der Ort, an dem ich geboren wurde, wo ich zur Schule gegangen bin, Fußball gespielt und den größten Teil meines Lebens verbracht habe. Hier leben meine Freunde. Die Dürener Straße in Köln-Lindenthal ist meine Straße, mein Zuhause. Dort bin ich großgeworden, dort bin ich immer noch, und dort werde ich, glaube ich, auch alt werden. Inzwischen wohne ich zwar in Hürth, aber mit Lindenthal bin ich weiter eng verbunden. Meine Familie hat in der Dürener Straße ihr Restaurant, und ich bin jeden Tag dort. Wenn das nicht möglich wäre, hätte ich ein Problem. Dann wäre ich nicht weggezogen.

„Heute bin ich in beiden Sprachen zu Hause“

Was Italien für mich bedeutet, kann ich nicht genau erklären, doch alle zwei, drei Jahre muss ich nach Sizilien fahren. Irgendetwas ist in mir, das mich regelmäßig dorthin lotst. Meist reicht mir schon eine Woche. Dann gehe ich durch die Straße, in der meine Großmutter gewohnt hat. Ich besuche eine bestimmte Kirche und zünde eine Kerze für meine Familie an. Damit weiterhin alles gut läuft und alle gesund bleiben.

Meine Eltern sind durch und durch Italiener und haben uns Kindern ihre Kultur und ihre Sprache vermittelt: Familienzusammenhalt, ganz viel Liebe, gutes Essen. Zuhause haben wir nur Italienisch beziehungsweise Sizilianisch gesprochen. Deutsch habe ich im Kindergarten gelernt, beim Sport und in der Schule. Außerdem hatte ich zweimal in der Woche zwei oder drei Stunden muttersprachlichen Ergänzungsunterricht, um Italienisch schreiben und lesen zu lernen. Anfangs hatte ich ein paar Probleme mit der deutschen Grammatik. Man vermischt schon sehr viel, aber irgendwann erledigt sich das. Heute bin ich in beiden Sprachen zu Hause, im Deutschen sogar mehr als im Italienischen, weil ich jeden Tag Deutsch spreche und schreibe.

„Ein Pass für das Land, das meine Heimat ist“

Obwohl ich Köln als meine Heimat empfinde, fühle ich mich weder als „normaler“ Italiener noch als „normaler“ Deutscher. Der „normale“ Deutsche ist konservativ, etwas ruhiger als der Italiener und sehr präzise. Der „normale“ Italiener ist chaotisch und sehr laut. Ich bin irgendetwas dazwischen und habe mir aus beiden Kulturen das Beste herausgepickt. Ich bin lebhaft, temperamentvoll, aber trotzdem präzise. Ich habe diese deutsche Genauigkeit und Pünktlichkeit und will meine Arbeit so gut wie möglich erledigen.

Noch besitze ich nur einen italienischen Pass, aber ich überlege, mir auch einen deutschen ausstellen zu lassen. Für das Land, das meine Heimat ist.

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