Junge Leute im Lockdown„Ein verlorenes Jahr ist für Jugendliche sehr viel schlimmer“

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Nicht nur ältere Menschen haben in der Corona-Pandemie mit Einsamkeit zu kämpfen (Symbolfoto).

Köln – Ach die jungen Leute, für die ist das doch alles nicht so schlimm mit dem Lockdown. Die können doch auch mal eine Weile auf Partys verzichten. Richtig schlimm ist es für die Alten, die einsam in ihren Wohnungen sitzen. So hört man oft in diesem Corona-Jahr. Dabei sind die Beschränkungen gerade für Jugendliche hart. „Während Erwachsene größtenteils zu Hause entspannen, findet das Leben der Jugendlichen im Außen und mit Freunden statt. Für sie wird dadurch der gewohnte jugendkulturelle Raum zur Verbotszone“, erklärt Matthias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien. Mit seinem Team hat er vom 25. März bis 8. April 2020, also in der Zeit des ersten Lockdowns in Österreich, eine repräsentative Erhebung unter 16- bis 29-jährigen Österreichern durchgeführt. 

„Eine krasse Umstellung, alles nach Hause zu verlagern“

Der Befragung zufolge hat sich der Blick in die Zukunft für fast 50 Prozent der Österreicher im Alter zwischen 16 und 29 Jahren verdüstert. Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz oder den Schulabschluss. Ebenso fürchten sie, dass die Bewegungsfreiheit dauerhaft eingeschränkt werden könnte. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Sorgen und Ängste mit Fortdauer der Epidemie manifestiert haben. Die Angst vor Ansteckung hielt sich dagegen zumindest während der ersten Welle in den jungen Altersgruppen in Grenzen. Rohrer sagt: „Die zugrunde liegenden Befunde lassen sich auch auf Deutschland übertragen.“

Das kann auch Julie Bruns aus Köln bestätigen. Die 18-Jährige studiert im ersten Semester Lehramt für sonderpädagogische Förderung. Doch das Studium findet wegen der Corona-Krise zu Hause statt – vom eigenen Schreibtisch aus. Wenn Julie so viel alleine zu Hause ist, fühlt sie sich manchmal auch etwas einsam. „Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass meine Familie über Tag nicht zu Hause ist, sondern weil man den Kontakt zur Außenwelt verloren hat. Man sieht seine Freunde nicht, kann keine neuen Leute kennenlernen – das komplette Leben im Außenraum findet nicht statt.“

Auch die 23-jährige Sophie Knorr hat die Erfahrung gemacht: „Normalerweise treffe ich viele Freunde, wir gehen ins Café, in den Park oder was trinken. Eigentlich findet mein Leben überwiegend außerhalb meiner Wohnung statt“, sagt die Studentin. „Ich war immer viel unterwegs und eher selten zu Hause. Das war eine krasse Umstellung jetzt alles nach Hause zu verlagern.“

Plötzlich ist die Meinung dieser Generation nicht mehr gefragt

Mit diesen Erfahrungen sind die beiden jungen Frauen nicht alleine. Die Psychologin Nicole Hanisch, Mitglied der Geschäftsführung des Rheingold Instituts Köln, hat mit ihrem Team in der Zeit von März bis Oktober dieses Jahres 120 14- bis 25-Jährige aus Köln und Umgebung in zweistündigen tiefenpsychologischen Interviews befragt. Sie sagt: „Corona trifft die jungen Menschen doppelt hart. Sie sind untergetaucht, vor allem beim ersten Lockdown.“

Im Leben vor Corona war die sogenannte Generation Z in der Öffentlichkeit sehr gefragt, ihr Lebensgefühl war von Allmacht geprägt. Corona habe nun alle ihnen wichtigen Themen wie etwa Klimaschutz verdrängt. „Plötzlich unsichtbar zu werden und aus dem Fokus zu geraten, ist eine ganz schön harte Nummer“, sagt Hanisch.

Junge Menschen brauchen Körperlichkeit für ihre Entwicklung – die fehlt jetzt

Wegen der Corona-Beschränkungen könnten Jugendliche und junge Erwachsene ihr normales Leben nicht leben. „Sie wollen sich zeigen, flirten, feiern und knutschen. All das geht jetzt gerade nicht. Für junge Menschen ist das schlimmer als für ältere, weil sie diese Körperlichkeiten brauchen, um ins Leben zu kommen“, erklärt Hanisch.

Und weiter: „Gerade die Zeit zwischen 18 und 19 ist sehr prägend. Ein verlorenes Jahr ist für Jugendliche sehr viel schlimmer als für Erwachsene.“

Alles, was junge Leute normalerweise machen, findet gerade nicht statt

Julie ist ein sehr aktiver Mensch, wie sie selbst von sich sagt. Sie ist beim Kinder- und Jugendzirkus, arbeitet dort auch als Trainerin. Normalerweise geht sie mehrmals die Woche ins Fitnessstudio, trifft Freunde in der Stadt, im Kino oder zum gemeinsamen Essen. Mit ihren Freunden telefoniert sie viel. Nur mit ihrer besten Freundin trifft sie sich ab und zu. „Wir sind da aber alle sehr vorsichtig und halten uns an die Regeln. Wir würden uns nie heimlich treffen.“ Auch feiern geht sie eigentlich gerne. Eigentlich. Weil das alles nicht geht, hat sie das Reiten wieder angefangen. „Um das Pflegepferd kann ich mich selbstständig kümmern. So bin ich nicht von den Corona-Beschränkungen abhängig.“

Vor allem im ersten Lockdown seien die jungen Menschen nah an depressive Verstimmung gerückt, hat Hanisch in ihren Befragungen herausgefunden. „Ihr Alltag war destabilisiert, die Struktur weg, Tag und Nacht sind miteinander verschwommen“, erklärt Hanisch. Man ahne gar nicht, wie wichtig Strukturierung durch Schule und Uni ist. „Wenn diese Taktung nicht mehr da ist, taucht man in eine Zwischenwelt ein, in der alles gleich ist“. Für viele sei außerdem die geplante Ausbildung, das Praktikum oder Auslandssemester ausgefallen. Auch Nebenjobs – zum Beispiel in der Gastronomie – fielen weg. Um die Existenz- und Zukunftsangst zu bekämpfen und sich zu wappnen, hätten einige deshalb versucht, sich durch Ernährung und Sport wieder Struktur zu schaffen und sich selbst zu optimieren.

Kein Abschied, keine Feier, kein Abiball

Während der ersten Welle Anfang des Jahres stand Julie kurz vor den Abiturprüfungen. „Mir hat der Ausgleich zum Lernen komplett gefehlt. Ich saß den ganzen Tag nur zu Hause am Schreibtisch und hab gelernt. Man konnte sich nicht mal ablenken.“ Als es zum Lockdown kam, war sie noch mitten in der Prüfungsvorbereitung. „Wir waren teilweise mit dem Stoff noch gar nicht so weit. Da dachte ich schon, dass es kritisch werden könnte, sich das alles selber beizubringen“, sagt Julie.

Auch die Wiederholung des älteren Stoffes fiel weg. „Da hatte man schon ein bisschen Angst, dass sich das auf die Note auswirken könnte.“ Hinzu kam die Ungewissheit: Findet die Abiturprüfung jetzt überhaupt statt? „Man wusste gar nicht, ob man jetzt lernen soll oder nicht“, sagt die Studentin. Enttäuscht sei sie auch, weil sie keinen richtigen Abschluss hatten: keine Motto-Woche, kein Abiball. „Darauf freut man sich ja schon die ganze Schulzeit.“ Stattdessen beendete eine Lautsprecherdurchsage den Lebensabschnitt: „Heut ist euer letzter Schultag“, hieß es dabei.

Julies momentaner Alltag gestaltet sich recht monoton: „Ich bin eigentlich den ganzen Tag alleine zu Hause.“ Manchmal habe sie eine Online-Vorlesung von der Uni, andere Professoren würden aber auch nur aufgenommene Vorlesungen hochladen, wieder andere ließen sie Material eigenständig durcharbeiten. „Das ist alles sehr unpersönlich, es findet kein Austausch statt.“ Auch die Uni habe sie noch nicht von innen gesehen. „Das ist schon frustrierend. Man hat nicht das Gefühl zu studieren. Das Studierendenleben besteht ja daraus Leute kennenzulernen, gemeinsam zu lernen und auch gemeinsam zu feiern. Stattdessen mache ich meine Aufgaben zu Hause – richtig Studieren würde ich das nicht nennen.“

Keine Chance, jemand kennenzulernen

Die 23-jährige Sophie studiert ebenfalls im ersten Semester Deutsche Sprache und Literatur und Romanistik. Vor drei Jahren ist sie nach Köln gezogen. „Ich wohne alleine, deshalb empfinde ich die Situation als besonders schwierig. Ich habe zwar einige Freunde, aber ich kann nicht immer davon ausgehen, dass jemand Zeit hat. Da gibt es durchaus Abende, an denen man sich alleine fühlt.“ Sie sei froh, dass sie vorher schon Freunde in Köln hatte. „Denn Kommilitonen kenne ich keine und andere, die neu in der Stadt sind, haben keine Chance jemanden kennenzulernen“, sagt die Studentin.

Durch die Uni ist sie momentan sehr beschäftigt, sagt sie. Das gebe ihr eine Tagesstruktur. „Aber dabei sitze ich auch nur den ganzen Tag alleine am Schreibtisch.“ Während der Pandemie habe sie angefangen mehr zu kochen und mehr auszuprobieren. Und sie gehe oft mit Freundinnen spazieren, „um überhaupt mal aus der Wohnung zu kommen.“

Sehnsucht nach analogen, echten Begegnungen

Dass echte Begegnungen und echtes Erleben wichtiger geworden sind, hat auch Hanisch beobachtet. Während die Älteren jetzt immer digitaler unterwegs seien, bekomme das Analoge für die Jugendlichen wieder mehr Bedeutung. „Junge Menschen sind digitale Profis und gut vernetzt. Während des ersten Lockdowns kam viel stärker die Sehnsucht nach echten Begegnungen und richtigem Kontakt auf.“ In den Interviews hätten einige gesagt, dass sie nicht mehr so viel posten wollten, sondern die Situation wirklich erleben, zum Beispiel, wenn sie das nächste Mal am Strand seien. „Sie spüren plötzlich, dass das Digitale nicht alles ist. Das Wirkliche wird plötzlich mehr geschätzt“, erklärt Hanisch.

Die Erfahrung hat auch Julie gemacht. Für sie ersetzen die Video-Calls die persönliche Nähe nicht. „Es fehlt, dass wir uns nicht sehen und treffen können.“ Als die Kontaktbeschränkungen im Sommer gelockert wurden, habe sie sich nochmal mit ihren Freundinnen zum Essen verabredet: „Das war gleich ein Highlight. Da ist mir bewusst geworden, wie wichtig mir das ist.“

Weitere Studien zum Thema

18- bis 30-Jährige sind am einsamsten

Im Zeitraum vom 16. März bis 12. April 2020 befragte das Team um die Psychologen Susanne Bücker aus Bochum und Prof. Dr. Kai Horstmann aus Berlin in einer Online-Tagebuchstudie 4.850 deutschsprachige Erwachsene im Alter zwischen 18 und 88 Jahren zu den persönlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie, insbesondere zum Thema Einsamkeit. Die Ergebnisse sind verblüffend: Am einsamsten fühlten sich demnach Teilnehmer zwischen 18 und 30 Jahren. Ältere Menschen berichteten zwar im Durchschnitt weniger Einsamkeit als jüngere, allerdings stieg bei ihnen die Einsamkeit im Lauf der vier untersuchten Wochen tendenziell an, während sie bei Jüngeren tendenziell abnahm.

Ersten Lockdown besser verkraftet als vermutet

Wie verändert die Coronakrise schon jetzt unseren Alltag? Und wie wird sich die Pandemie auf Dauer auf den Einzelnen und die Gesellschaft auswirken? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Studie „Sozio-ökonomische Faktoren und Folgen der Verbreitung des Coronavirus in Deutschland“ (SOEP-CoV). Dafür werden seit Anfang April mehr als 10.000 SOEP-Befragte telefonisch interviewt. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Menschen den ersten Lockdown besser verkraftet haben als vermutet. Allerdings haben Frauen und junge Menschen unter 30 vermehrt unter Einsamkeit gelitten.  

Psychische Gesundheit

Die COPSY-Studie untersucht die Auswirkungen und Folgen der COVID-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In der bundesweiten Studie wird eine umfangreiche Online-Befragung durchgeführt. Insgesamt werden 1000 11- bis 17-jährige Kinder und Jugendliche sowie 1500 Eltern von 7- bis 17-Jährigen befragt. 

Auch Sophie merkt, dass ihr die sozialen Kontakte fehlen. „Es gibt Tage, da habe ich sonst den ganzen Tag nicht geredet.“ Deshalb treffe sie sich abends schon mal mit Freundinnen, um was zu kochen oder gemeinsam einen Film anzuschauen. Doch auch das wird mit der Zeit eintönig, sagt die 23-Jährige. „Dabei ist Köln eigentlich eine Stadt mit so vielen Möglichkeiten – für die viele ja auch nach Köln gezogen sind – jetzt kann man die alle nicht in Anspruch nehmen.“

Deshalb fehle ihr nicht nur die Nähe zu ihren Freunden sehr. „Mir fehlt auch gemeinsam Sachen zu erleben, das man sagen kann ‚Das war ein cooler Abend!‘.“

Rückkehr in die Kernfamilie bekommt nicht jedem gleich gut

Weil man Freunde nicht mehr so treffen kann wie sonst, ist die eigene Kernfamilie während des Lockdowns wieder wichtiger geworden. „Wer zurück ins Familiennest konnte, hat sich besser gefühlt“, sagt Hanisch. Junge Menschen, die eigentlich längst ausgezogen waren, hätten plötzlich angefangen, mit ihren Eltern und Geschwistern zu backen, zu spielen und im Garten zu arbeiten.

Auch Julie ist bei ihren Eltern wohnen geblieben und nicht für das Studium ausgezogen, sagt sie. „Wegen Corona hab ich das nicht für nötig gehalten, stattdessen bin ich eher froh noch zu Hause zu wohnen.“ Und weiter: „Wir haben in der Familie schon immer viel Zeit miteinander verbracht – jetzt aber natürlich noch mehr. Das empfinde ich als großes Glück sich auch so gut mit der Familie zu verstehen.“

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Was aber, wenn man sich nicht so gut mit seinen Eltern versteht und nicht zurück möchte oder kann? Dass die zum Teil erzwungene Rückkehr ins Familiennest nicht für alle Jugendlichen harmonisch verläuft, zeigt die österreichische Befragung. Weil sich die Familienmitglieder in der Enge des Raumes zunehmend auf die Nerven gingen, wendeten sich die Jugendlichen vermehrt der virtuellen Unterhaltung am Computer zu. Über 55 Prozent der 16- bis 19-jährigen Befragten gaben an, dass sich ihr Videospielkonsum aufgrund der Corona-Ausgangssperre deutlich ausgeweitet habe. Außerdem wurde mehr getrunken: Der österreichischen Studie zufolge griffen vor allem die jungen Männer, die niedrigen und mittleren Bildungsschichten sowie die 16- bis 19-jährigen vermehrt zur Flasche.

Ein weiteres Problem ist, dass sich manche gar nicht nach Hause trauen, weil sie Angst haben, jemanden anzustecken. Sophie kommt aus der Nähe von Nürnberg und war jetzt mehr als zwei Monate lang nicht dort, weil ihre Oma auch im Haus der Eltern lebt.

Jugend unter Generalverdacht

Junge Frauen und Männer haben also derzeit unter vielen Einschränkungen zu leiden. Nicole Hanisch meint, dass die meisten dafür ganz schön vernünftig seien. Auch Sophie und Julie schätzen sich selbst und ihr Umfeld als sehr verantwortungsbewusst ein. Sophie findet es deshalb nicht in Ordnung, dass die gesamte Jugend über einen Kamm geschert wird. „Meine Freunde und ich sind alle sehr vorsichtig und reflektiert – keiner will jemanden anstecken. Vielleicht gibt es andere, die noch nicht so das Verantwortungsbewusstsein haben. Doch es gibt viele, die sich einschränken.“

Auch Julie stört der Generalverdacht besonders. Wenn die 18-Jährige die Glühwein-Ansammlungen beispielsweise am Lenauplatz sieht, macht sie das richtig sauer: „Da stehen rund hundert Leute – alles erwachsene Menschen – zusammen und trinken Glühwein und nachher heißt es wieder ‚Die jungen Leute halten sich nicht an die Regeln'.“

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