Klassenfahrt, bei FreundenWarum haben manche Kinder Heimweh und andere gar nicht?

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Das Mädchen links ist traurig, während die anderen Kinder die Aktivität genießen. 

Köln – Manche Kinder halten es kaum ein paar Stunden ohne die Eltern aus, andere können problemlos eine Woche oder länger weg fahren, ohne ein einziges Mal an zuhause zu denken. Sie genießen die neuen Erlebnisse und freuen sich über alles, was anders ist. Momentan stehen viele Klassenfahrten an. Einigen Eltern und Kindern bereitet das Sorgen. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Hildegard Scherpe erklärt, wie man am besten mit Heimweh umgeht und ob Corona dieses Gefühl verstärkt hat.

Frau Scherpe, was ist Heimweh überhaupt?

Hildegard Scherpe: Heimweh hat immer etwas mit Strukturveränderung zu tun. Der fachliche Ausdruck für Heimweh in der Medizin lautet Nostalgia. Heimweh entsteht, wenn ich aus meinem vertrauten Umfeld heraus in ein fremdes Umfeld wechsle und dort nicht zurechtkomme. Wenn man sich woanders unwohl und verunsichert fühlt, bekommt man Heimweh nach seinem vertrauten Ort, nach der normalen Umgebung und dem normalen Ablauf.

Wie lange muss man von zuhause weg sein, um Heimweh zu bekommen?

Das ist ganz unterschiedlich und hängt von den psychischen Strukturen ab. Manche freuen sich vor allem über die neuen Erlebnisse und arrangieren sich schnell mit der neuen Umgebung. Sie haben nicht das Gefühl, dass ihnen etwas fehlt. Andere haben große Angst davor, ihr vertrautes Umfeld zu verlassen.

Heimweh wird vor allem mit Kindern in Verbindung gebracht. Manche haben sehr schlimmes Heimweh, anderen ist es völlig egal, von zuhause weg zu sein. Warum ist das so unterschiedlich?

Heimweh hat mit Sicherheit und Bindung zu tun. Menschen, die grundsätzlich wenig verunsichert sind und mit Freude und Neugier auf Veränderungen reagieren, haben auch weniger Heimweh. Sie sind in sich sicherer. Kinder, die zum Beispiel durch einen längeren Krankenhausaufenthalt von ihren Bezugspersonen getrennt und in der neuen Umgebung auf sich selbst gestellt waren, fühlen sich innerlich oft weniger sicher und kommen nicht so gut mit Veränderungen zurecht.

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind Heimweh hat?

Fragen Sie das Kind, wie es die Situation empfindet. Alle Gefühle müssen ernst genommen werden. Besprechen Sie gemeinsam mit dem Kind, wie Sie es bei einer Übernachtung außer Haus unterstützen können. Machen Sie Angebote: „Möchtest du deine eigenen Bettdecke mitnehmen? Welches Kuscheltier soll dabei sein? Soll ich dich abends anrufen? Möchtest du ein Foto mitnehmen?“ Bieten Sie auch an, das Kind abzuholen, wenn es wirklich nicht mehr geht. Lassen Sie alle Möglichkeiten offen. Reden Sie vorher mit den Lehrerinnen oder Betreuern. Es ist auch für die Kinder wichtig zu wissen, dass es unterwegs eine Vertrauensperson gibt, an die sie sich wenden können.

Zur Person

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Foto: Heinrich Franke

Hildegard Scherpe ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Oldenburg und gehört dem Vorstand des Bundesverbands für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie e.V. (bkj) an. 

Kann man vorbeugend etwas machen?

Sie sollten vorher schon mit den Kindern daran arbeiten, dass sie es ohne die Eltern schaffen. Dazu kann man in kleinen Schritten beginnen, zum Beispiel im Vorschulalter mal bei einem Freund oder bei Oma und Opa übernachten. Eltern sollten ihre Kinder so unterstützen, dass sie in diese Veränderung hinein wachsen. Der nächste Schritt wären Übernachtungen in der Schule oder die erste Klassenfahrt mit einer oder zwei Übernachtungen. Dann folgen die längeren Touren.

Haben Kinder seit Corona mehr Heimweh, weil sie es nicht gewohnt sind, woanders zu übernachten?

Auch das ist unterschiedlich bei den Kindern, denn Heimweh hat etwas mit dem Erleben von innerer Instabilität und Verunsicherung zu tun. Viele Familien erleben durch Corona und durch das Kriegsgeschehen in der Ukraine mehr Verunsicherungen und Ängste. Dadurch fällt es dem Kind auch schwerer, unbefangen mit  einer neue Übernachtungssituation umzugehen. Wie gut sich ein Kind von den Eltern lösen und neue Erfahrungen und Abenteuer erleben kann, hängt auch davon ab, wie betroffen die Familien von den neuen Krisensituationen sind. Die Aufgabe der Eltern liegt in der Ermutigung, dem Kind die Kraft und die Freude auf das Neue zu vermitteln.   

Wie kommt es, dass Geschwister, die exakt gleich aufwachsen, ganz unterschiedlich auf Trennungen von den Eltern reagieren? Die eine Schwester ist bis zum Schulabschluss sehr ängstlich, die andere kann gar nicht früh genug hinaus in die Welt.

Das hat auch etwas mit Charakter und Persönlichkeit zu tun und vor allem damit, wie Menschen neue Erlebnisse verarbeiten. Wenn man für sich selbst die Erfahrung gemacht hat, neue Situationen und Menschen gut zu bewältigen, ist man weniger ängstlich. Das Problem: Nicht alle machen diese Erfahrungen. Es gibt die Mutigen, die alles ausprobieren und die Ängstlichen, die sich nicht trauen und die Mutigen vorschicken. Das mag zwar sicher wirken, aber auf diese Weise fehlt den Ängstlichen die Erfahrung, dass sie neue Situationen eigenständig bewältigen können und sie entwickeln keine Strategien für unbekannte Situationen. Die Mutigen dagegen verstärken diese Erfahrung. So bleibt jeder in seiner Rolle und verfestigt sie.

Was können Lehrinnen oder Betreuer unterwegs machen, wenn ein Kind Heimweh hat?

Lehrerinnen oder Betreuer können oft richtig einschätzen, wie heftig das Heimweh des Kindes wirklich ist. Sie sollten zunächst versuchen, das Kind abzulenken. Es hilft oft, noch einmal gemeinsam zu rekapitulieren, was bereits alles Schönes unternommen wurde und was alles gut gelaufen ist. Besprechen Sie auch den folgenden Tag. Für die Kinder ist es hilfreich, wenn sie wissen, was auf sie zukommt und wenn sie einen Plan haben. Oft ist es für sie einfacher, wenn sie eine Struktur in der neuen Umgebung wieder erkennen. Das Problem an Heimweh ist ja, dass den Kindern der vertraute Ablauf fehlt. Wenn die erste Nacht erst einmal geschafft ist, schaffen Kinder auch die zweite.

Manche Eltern machen sich so große Sorgen um ihr Kind, dass sie es nicht mit auf die Klassenfahrt schicken. Ein Fehler?

Ein riesiger Fehler! Das Kind verpasst ganz viel. Auch hinterher, wenn die anderen über die gemeinsamen Erlebnisse reden. Eine Klassenfahrt schweißt eine Gruppe enorm zusammen. Wenn ein Kind nicht dabei war, kann es aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

Und wenn man ein Kind hat, das gar kein Heimweh hat, kann man sich einfach nur freuen? Oder finden diese Kinder es zuhause einfach nicht so toll und sind lieber woanders?

Freuen Sie sich einfach. Kinder ohne Heimweh haben eine natürliche Neugierde, wollen möglichst viel kennenlernen und brauchen viel neuen Input.

Können auch Erwachsene Heimweh haben?

Ja, natürlich. Vor allem junge Erwachsene sind oft betroffen, wenn sie zum Beispiel im Ausland studieren. Sie freuen sich eigentlich sehr auf den neuen Abschnitt, können ihn aber nicht genießen, weil sie Heimweh bekommen. Aber auch alle anderen Erwachsenen können Heimweh haben. Manchmal erkennen sie es aber nicht als solches und bekommen zum Beispiel Panikattacken, haben keinen Appetit oder können nicht schlafen.

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