Pädagogische Diskussion von Eltern und LehrernWann kann ein Kind aufs Gymnasium?

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Die Runde diskutierte in den Redaktionsräumen des Magazins.

Die Runde diskutierte in den Redaktionsräumen des Magazins.

These 6: Lehrer können gar nicht allen Kindern gerecht werden. Deshalb ist es gut, wenn sich die Eltern einmischen.

Naegele Nun sind ja Eltern keine Lehrer. Und viele Schüler stellen sich in der Schule ganz anders dar als zu Hause. „Mein Kind ist nicht so!“ – hören wir dann. Oder aber wir können sagen: „Ihr Kind ist viel besser als Sie glauben!“ Allerdings ist den Lehrern beispielsweise durch zentrale Abschlussprüfungen auch viel Flexibilität genommen worden. Das schränkt sie in der Gestaltung des Unterrichts ein, zieht ihren Fokus vor allem auf den Stoff, den sie mit ihren Schülern schaffen müssen. Die Klassengröße als solche muss gar nicht das Problem sein, wichtig wäre aber, dass die Lehrer individuell reagieren können, wenn sie 30 Schüler in der Klasse haben – dass sie also auch mal mit einer fünfköpfigen Arbeitsgruppe arbeiten können. Das ist aber bei dem Wochenpensum kaum zu schaffen. Die Kleingruppenförderung ist nicht mehr vorgesehen in den weiterführenden Schulen.

Tichelkamp Frau Störbrock, hat sich bei Ihnen der Druck durch G8 erhöht?

Störbrock Auf jeden Fall. Inhaltlich sowieso, das betrifft vor allem die Fächer Englisch und Mathe, in denen Lehrer und Schüler sehr unter Zeitdruck stehen. Im Deutschunterricht ist die Stofffülle ein geringeres Problem. Insgesamt habe ich aber durchaus manchmal das Gefühl, nicht allen Kindern gerecht werden zu können. Gar nicht mal, was den Unterricht betrifft. Wir haben an der Schule einige neue Konzepte, die auf Freiarbeit basieren und so individuelle Förderung besser möglich machen. Aber als Klassenlehrerin von 30 Kindern fehlt mir teilweise die Zeit, mich um die sozialen oder familiären Probleme der Kinder zu kümmern. Dadurch, dass aber bei vielen der Leistungsdruck steigt, steigen auch die sozialen Probleme. Einige Kinder haben psychische Schwierigkeiten – ich kann dann zwar Gespräche mit Eltern und Schülern führen, in der Klassenstunde mit den Kindern über Probleme sprechen oder das Gespräch mit dem Schulpsychologen oder Erziehungsberater in der Schule anbieten. Insgesamt brauche ich aber eigentlich mehr Zeit, um allen Schülern wirklich gerecht zu werden.

Magazin Frau Hinz, sind Sie als Grundschullehrerin überhaupt noch vier Jahre am Stück in einer Klasse?

Hinz Das kommt auf die Schule an, bei uns ist es so. Und das ist auch das, was ich an meinem Beruf schätze – ich bin vier Jahre lang fast jeden Tag fünf Stunden mit den Kindern zusammen. In diesen vier Jahren sehe ich, wie sich das Kind entwickelt. Was den sozialen Aspekt betrifft – da kann ich den Kindern schon gerecht werden. Ich sehe das Problem bei uns eher darin, auf das individuelle Leistungsniveau eingehen zu können. Gerade auch durch die Herausforderung der Inklusion. Es kommt immer mehr auf uns zu – es gibt aber nicht immer mehr Unterstützung.

Naegele Bei uns sind immer zwei Klassenlehrer sechs Jahre mit den Kindern zusammen. Das bedeutet: Die kennen ihre Leute. Es besteht Kontinuität. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, Lehrer alleine in einer Klasse arbeiten zu lassen. Die Last, die Klassenleitung alleine zu tragen, ist zu hoch.

Baumgarten Mein Kind hat das Talent, charmant zu sein. Das hat zu Beginn der dritten Klasse gereicht. Nach einem Quartal hat seine Lehrerin festgestellt – es lernt nicht. Dann hat sie den Druck gesteigert und sehr viel getan, um ihm zu helfen. Aber es ist wie bei der Titanic, es dauert, bis sich das Schiff bewegt. Auch, bis die beiden berufstätigen Eltern reagieren. Wir übten weiter zu Hause, die ganzen Ferien. Langsam wird es besser. Aber jetzt ist es eben sehr spät.

These 7: Eltern vertragen keine Kritik an ihren Kindern.

Tichelkamp Da sind wir wieder bei dem Thema, dass sich die Eltern über ihre Kinder identifizieren. Klar ist da jeder Kratzer auch ein Kratzer am eigenen Ego. Ich glaube aber, dass das Einzelfälle sind.

Hinz Der Begriff Kritik klingt ja danach, als würde man das Kind als solches kritisieren. Darum geht es aber nicht, sondern um die Leistung oder um das Arbeits- oder Sozialverhalten. Das soll niemand persönlich nehmen. Bei Gesprächen über Kinder, die Schwierigkeiten haben, muss man als Lehrer vor allem gut vorbereitet sein, Ideen für Lösungsansätze entwickeln, an denen alle Parteien schrauben können, damit es besser läuft.

Naegele Das hängt auch immer davon ab, ob es gelingt, eine Beziehungsebene zwischen Eltern und Lehrern aufzubauen. Dann kann man ganz anders kommunizieren, als sich nur auf die schwarz-auf-weiß-niedergeschriebenen Noten zu berufen. Eltern kriegen erst einmal einen Schrecken, wenn etwas nicht gut läuft. Das haben sie vielleicht vorher gar nicht mitbekommen. Und in dieser Situation muss man als Lehrer erst einmal einen Einstieg möglich machen. Das entsteht aber nicht, wenn man sich einmal im Jahr zum Elternsprechtag sieht, sondern erfordert viel Extra-Engagement. Da ist dann immer die Frage, wie viel möglich ist.

Störbrock Ich habe oft das Gefühl, Eltern sind dankbar für meinen Blick auf die Dinge, wenn es um das Sozialverhalten der Kinder geht. Auch für Tipps, die ich gebe, weil zum Beispiel während der Pubertät die Kommunikation zu Hause überhaupt nicht funktioniert. Das klappt in der Schule sogar oft besser. Wenn es aber um die Leistungsfähigkeit geht, herrscht eher eine Front. Wenn ich sagen muss: „Ihr Kind ist überfordert“ – das ist für Eltern sehr schwierig zu verstehen. Da treffen dann vereinzelt die Klischees zu, und Eltern begründen die Schwierigkeiten damit, ihr Kind sei hochbegabt und werde nicht richtig gefördert.

These 8: Lehrer sind keine Respektspersonen mehr.

Tichelkamp Ja, das geht schon zum Teil in die Richtung, dass Eltern Lehrer nur noch als Dienstleister ansehen. Man zahlt ja auch immer ein bisschen Geld an die Schule und denkt dann, dass man dafür auch was zurückbekommen will. Als bei uns die Klassenlehrerstelle neu zu besetzen war, hätten einige Eltern gerne mit darüber entschieden. Man möchte eben gerne etwas beitragen, obwohl man gar nicht in der Position ist. Lehrer als Dienstleister – das passt aber eben dazu, dass das ganze Schulsystem ein Stück weit in den sozioökonomischen Kontext gerückt ist. So ist zwar der Geist der Zeit – aber ich finde es falsch.

Störbrock Der Ruf des Lehrers ist sicher ein ganz anderer als vor 50 Jahren, es ist mit Sicherheit weniger Respekt im Spiel. Ich sehe allerdings bei uns, dass es oft ganz pragmatische Gründe hat, wenn Konflikte auftreten. Da geht es schlicht um Noten, die anders sind als gewünscht – und gar nicht um den Lehrer selbst. Die Eltern wünschen sich für ihr Kind einen bestimmten Notenschnitt. Das trifft mich als Lehrerin dann nicht persönlich.

Magazin Im Film „Frau Müller muss weg“ verschwören sich die Eltern einer ganzen Klasse gegen eine einzige Lehrerin. Ist diese Situation realistisch?

Naegele Es kann in seltenen Fällen vorkommen, dass eine Situation so verfahren und die Standpunkte so verhärtet sind, dass es besser ist, einen Neuanfang zu starten. Das ist sehr schwierig und dann die Aufgabe der Schulleitung – bei der keiner verletzt werden soll. Aber dieses Zusammenrotten und Fertigmachen – das ist doch schon sehr theatralisch. Zum Thema Respekt: Es macht die Arbeit mit schwierigen Schülern schon wesentlich leichter, wenn die Eltern Respekt vor dem Lehrer haben und ihm vor allem vertrauen. Wenn die Eltern den Lehrer in seinen Ansichten nicht unterstützen – woher soll dann der Respekt des Schülers kommen?

These 9: Eltern sollten sich aus Schule raushalten.

Tichelkamp Eltern sollten die Lehrer ihrer Kinder als Fachmänner akzeptieren. Und ihnen stattdessen zu Hause einen Nährboden bereiten, der das Lernen und das Entwickeln möglich macht. Allerdings sollte man auch versuchen, am Ball zu bleiben und mit dem Lehrer sprechen, wenn es möglich ist. Die schulischen Leistungen kann man als Eltern ja noch irgendwie nachvollziehen, mich interessiert aber vor allem das Sozialverhalten meiner Tochter. Wie ist sie so, mit anderen? Das ist ein Kosmos, in den ich als Vater keinen Einblick habe. Wenn ich sie frage, wie es in der Schule war, sagt sie „War okay“, oder „Weiß ich gar nicht mehr“. Da erzählt der Lehrer dann schon etwas mehr. Ich bin übrigens auch kein großer Freund davon, mit den Kindern Hausaufgaben zu machen. Meine Tochter kommt zwar manchmal damit, weil sie dann vielleicht weniger Fehler im Heft hat. Aber ansonsten würde ich das meinem Kind nicht aufdrängen wollen.

Baumgarten Ich finde es gefährlich, wenn sich Eltern ganz aus der Schule raushalten. Mein Mann hat es von zu Hause aus so gelernt, alles, was mit Schule zu tun hat, den Lehrern zu überlassen. Wegen seiner Arbeit konnte er sich nicht um die Hausaufgaben kümmern, nicht in die Hefte schauen. Ich war bei unseren Kindern stärker involviert, war bei jedem Elternabend und Lehrergespräch. Und jetzt – ist mein Mann von den Schwierigkeiten unseres Kindes überfahren, er hat es so nicht kommen sehen. Es ist schon wichtig, den Kontakt zu halten – und sei es nur zum Beispiel beim St.-Martins-Zug oder beim Schulfest, an dem man mal ein paar Minuten mit dem Lehrer spricht. Freundschaftlich, nicht zwingend über die Noten.

Magazin Eine Frage an die Lehrer – ist es sinnvoll, Hausaufgaben gemeinsam mit den Kindern zu machen?

Naegele Das kann man machen. Vor allem natürlich, wenn das Kind es wirklich braucht. Wichtiger ist aber, überhaupt Interesse zu zeigen. Schauen Sie dem Kind einfach mal über die Schulter, wenn es Hausaufgaben macht. Oder mal in den Ranzen rein. Das ist schon eine Art der latenten Kontrolle. Es wird immer mal Zeiten geben, in denen das Kind überhaupt nichts von der Schule erzählt. Dann muss man als Eltern kreativ sein, um rauszufinden, was so läuft, auch mal einen Freund aus der Klasse fragen. Eben Interesse zeigen, das Kind auf diese Weise natürlich begleiten. Allerdings ist das nicht für jeden gleich einfach. Es ist mit Zeitaufwand verbunden. Und diese Muße fehlt im Alltag oft. Viele müssen das zwischen Arbeit und Haushalt unterbringen, ich bewundere gerade viele Alleinerziehende, die das schaffen. Die fachliche Begleitung dagegen sollte schon die Schule anbieten. Wie mache ich eigentlich meine Hausaufgaben? Das zu beantworten, ist Aufgabe der Schule. Bei bestimmten Defiziten kann Schule fördern, damit sollte man Eltern nicht belasten. Eltern können keine Lese-Rechtschreib-Schwäche beheben.

These 10: Das aktuelle Schulsystem raubt Kindern ihre Kindheit.

Naegele Nach 40 Dienstjahren an verschiedenen Schulen – Gymnasien und Gesamtschulen – bin ich davon überzeugt: Das dreigliedrige System macht uns Probleme, die wir nicht haben müssten. Ich war an einem Gymnasium eine Zeit lang zuständig für die Abschulung der Schüler, die nach der sechsten Klasse nicht am Gymnasium bleiben durften. Das habe ich irgendwann nicht mehr ausgehalten. Da erlebt man Brüche im Lebensweg. Das halte ich für unzumutbar für Kinder. Sie tragen im Zweifelsfall das Ergebnis der Fehlentscheidung der eigenen Eltern. Es muss ein Weg gefunden werden, diese Brüche zu vermeiden. Die Kinder müssen im System bleiben, gerne auch am Gymnasium mit weiterer Förderung. Dann kommt auch viel mehr Ruhe in die elterliche Entscheidung, die sich vor der weiterführenden Schule stellt. Zum Glück bewegt sich viel, auch in NRW. Es gibt immer mehr Systeme, die Flexibilitäten enthalten, Sekundarschulen oder Gesamtschulen. Aber das Gymnasium als alte Institution ist unangetastet! Darüber müssen wir diskutieren, da liegt ein großes Problem.

Störbrock Der Schultag ist anspruchsvoller geworden. Es gibt zwar eine Mittagspause, die die Schüler in der Mensa verbringen oder Sportangebote nutzen, aber ansonsten gibt es viel fachlichen Input, der bei einigen überfordernd sein kann. Es ist ein anderer Stress für die Schüler als noch vor sieben Jahren, als ich angefangen habe. Das hängt für mich aber nicht mit dem dreigliedrigen Schulsystem zusammen, sondern mit dem Druck, der eben zum Beispiel durch G8 entsteht.

Tichelkamp Genau diese Verknappung durch G8 kritisiere ich. Die Kinder früher in die Schule, raus aus der Schule, ins Studium, ins Berufsleben schicken – diese Ökonomisierung des Schulsystems ist ein Fehler. Das wird unseren Kindern nicht gerecht. Meine Tochter ist noch zu jung, als dass ich da selber wirklich betroffen bin. Trotzdem sagt auch sie oft: „Ich möchte mehr frei.“ Durch den offenen oder geschlossenen Ganztag kommt all das zu kurz, was Kinder wirklich machen wollen: Rumkicken, turnen, tanzen.

Moderation: Angela Horstmann, Claudia Lehnen, Hannah Schneider

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