Die Sprachnachricht kann nerven. Aber sie ist auch eine Magierin. Sie zaubert Nähe, sie kittet Beziehungen, sie ist Herrin über Raum und Zeit. Ein Plädoyer
Pro und Contra„Die Sprachnachricht zaubert Nähe und ist Herrin über Raum und Zeit“


Sprachnachrichten, findet unsere Autorin, sind als Trägermedium für Zuneigung und Freundschaft geeignet wie wenig anderes.
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Beim Thema Sprachnachrichten scheiden sich die Geister. Unseren Autor Florian Holler machen sie wütend. Unsere Autorin Claudia Lehnen verteidigt ihre Vorzüge.
Würden sich alle Gründe, warum Sprachnachrichten die Pest sind, an den Händen halten, könnte die Kette locker den Äquator umspannen. Aber was bedeutet schon Masse? Es gibt ja Wichtigeres. Freundschaft zum Beispiel. Zuneigung. Wärme. Und als Trägermedium für derlei Kostbarkeiten eignet sich vielleicht nichts so gut wie die aufgezeichnete menschliche Stimme. Der Liebesbrief? Kann da einpacken! Die Stimme der Freundin, die die Eigenheit hat, am Satzende immer einen imaginären Tongipfel zu erklimmen, auch wenn da weit und breit keine Frage gestellt wird, ist wie ein Klebstoff für die Freundschaft. Das warme Lachen des Freundes, das fast so einnehmend ist wie seine Umarmung, kann Fernbeziehungen über Jahre erträglich machen.
Wer einen Menschen, der ihm nahesteht hört, der sieht ihn im Kopf auch sofort vor sich. Weiß, dass sich gerade ein Grübchen in seine Wange gräbt. Dass die feine Narbe am Auge in einem Meer aus Lachfalten untertaucht.
Meisterin der Authentizität und Ehrlichkeit
Sprachnachrichtenschicken ist authentisch und intim. Im Gegensatz zur Textnachricht zieht man sich quasi aus. Ein geschriebenes „Hier alles ok“ ist nichts als eine Kette getippter Buchstaben und leicht dahingelogen. Kommt die Stimme dazu, muss man sich bekennen. Textnachrichten können in endlosen Schleifen fortwährend an der Oberfläche rumsurfen, wo 20 Sekunden Stimmehören sofort in wünschenswerter Tiefe alles klar dargelegt hätte.
Die Erkenntnis, dass aufgezeichnete Tondokumente ihren besonderen Reiz haben, ist dabei gar nicht so neu. Als ich 14 war, gab es in unserem Freundinnenkreis die Mode, sich gegenseitig Kassetten zu besprechen. Immer ein Stück, dann wurde das Tonband weitergegeben an die nächste Freundin, wir waren fünf und bequatschten reihum Seite um Seite. Und hörten nacheinander ab. Spulten zurück. Wendeten. Zum Einschlafen, zum Trost, aus Sehnsucht.
Die Podcastkette, die wir damals natürlich nicht so nannten, wuchs. Es ging inhaltlich um Schule, um Jungs, um nervige Eltern, aber mindestens genauso oft um: quasi Nichts. „Gschmarri Vol1“ bis „Gschmarri Vol20“ steht daher bezeichnenderweise auch handschriftlich auf den Kassettenhüllen. Ich habe immer noch drei Exemplare dieses Zeitdokuments im Keller. Wenn ich sie mal wieder anhöre, dann funktionieren sie wie eine Zeitmaschine. Ich bin sofort wieder 14, ich fühle sofort wieder die Locken der Freundin, die sich nach Übernachtungspartys morgens störrisch übers Kissen ringeln. Ich schmecke Erdbeer-Hubba-Bubbas, ich sehe verschmierte Wimperntusche. Sprachnachrichten sind der Kitt unseres Soziallebens, sie sind Nähe, sie sind Herrinnen über Raum und Zeit.
Als Freundschaftsmagier haben uns Sprachnachrichten übrigens auch während der Pandemie unschätzbare Dienste erwiesen. Es gab damals manchmal durchaus atemlose 10-Minüter mitten aus dem Alltag, die Freundschaften mehr erfrischten als endlose Abende in stickigen Kneipen.
Sprachnachrichten machen dazwischenredenden Widerspruch unmöglich
Wem das alles zu schwülstig ist: Es gibt auch ein Argument für Pragmatiker. Hatten sie schon mal einen Schulranzen sowie zwei Einkaufstüten in der Hand und mussten beim Aufschließen des Fahrrads schnell der Tochter mitteilen, gefälligst den Saustall zu Hause aufzuräumen bevor man wiederkommt? Eben. Die Eigenheit der Sprachnachricht, die Möglichkeit des dazwischenredenden Widerspruchs auszuschließen, ist in diesem Fall ebenfalls nützlich.
Claudia Lehnen, 44, ist Chefreporterin im Ressort Story/NRW und gibt zu, dass sie nervige Sprachnachrichten immer in doppelter Geschwindigkeit abhört. Wenn überhaupt. Aber es gibt auch die anderen, die sie verzaubern. Diese hütet sie wie einen Schatz.