Kölner Sexualpädagogin erklärt„Es ist ganz natürlich, dass Kinder die Körper anderer Kinder erkunden wollen“

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Kinder spielen mit Holzfiguren im Kindergarten
Getty Images / Lourdes  Balduque

Jede Kita braucht ein pädagogisches Konzept, ein Unterpunkt davon kann ein sexualpädagogisches Konzept sein.

Der Fall um angebliche „Masturbationsräume“ in einer Kita schockte. Was man unter sexualpädagogischen Konzepten in Kindergärten versteht.

Masturbationsräume. Befriedigen. Doktorspiele. Das sind Worte, die man nicht mit kleinen Kindern und Kitas in Verbindung bringt – nicht in Verbindung bringen will. Trotzdem soll das passiert sein. In einer Kita aus Kerpen sollen diese Worte im sexualpädagogischen Konzept gestanden haben – sehr zum Entsetzen der Bevölkerung. Jugendämter wurden eingeschaltet, Landtagsabgeordnete, Träger, die Stadt Kerpen, alle sahen sich gezwungen, sich zu äußern, der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete. Und gleichzeitig fragten sich Eltern: Wie ist das denn eigentlich in meiner Kita? Hat die ein sexualpädagogisches Konzept? Was steht da drin? Und: Braucht es das überhaupt? „Ja“, sagt Laura König. Sie ist Sonderpädagogin und Sexualpädagogin bei der Beratungsstelle „pro familia“ in Köln.

Was ist ein sexualpädagogisches Konzept?

Zunächst mal: Jede Kita braucht ein pädagogisches Konzept und ein Schutzkonzept. Das schreibt die Einrichtung (oder der Träger) selbst und das kann – je nach den individuellen Gegebenheiten – unterschiedlich aussehen. Ein Unterpunkt kann dann das sexualpädagogische Konzept sein, muss es aber nicht. Denn das Land NRW verpflichtet Kitas nicht dazu, ein sexualpädagogisches Konzept zu erstellen. Trotzdem, sinnvoll sei das schon, sagt Laura König. „Es braucht Regeln, die festlegen, wie eine Kita mit frühkindlicher Sexualität umgeht. Damit die Mitarbeitenden wissen, wie sie agieren sollen. Damit die Eltern gut informiert sind und vor allem, damit die Kinder in einer sicheren Umgebung ohne Tabus aufwachsen.“ Denn frühkindliche Sexualität umfasst viel mehr als die Genitalien. Es geht auch darum, Gefühle von Freude über Wut bis Angst zu erkennen und ausdrücken zu können. Um verschiedene Familienbilder, vom klassischen Vater-Mutter-Kind-Konstrukt über Patchwork- und Regenbogen-Familien bis hin zu Alleinerziehenden. Es geht um Geschlechterklischees und Rollenbilder, um Jungs und Mädchen und darum, was sie unterscheidet. Aber es geht eben auch um „Doktorspiele“ oder „Körpererkundungsspiele“, wie Laura König es nennt. Denn die sind in einer gewissen Altersspanne ganz natürlich.

Was ist frühkindliche Sexualität überhaupt?

„Wir alle tragen von Anfang an Sexualität in uns“, sagt Laura König. „Und diese verändert sich im Laufe des Lebens dynamisch.“ Es beginnt damit, dass ein kleines Kind seinen eigenen Körper entdeckt, die Hände, die Füße, die Ohren, den Bauch, den Penis oder die Vulva. Dass Kinder ihren Körper spielerisch erkunden wollen, gehöre ganz natürlich zur Entwicklung, sagt Laura König. Dem solle man Rechnung tragen, in dem man auch die Genitalien mit ihren offiziellen Begriffen benennt. Auch, dass Kinder sich in ihrem Intimbereich berühren, sei völlig natürlich und sollte nicht verboten werden. Jedoch brauche das Körper-Erkunden ganz klare Regeln, so wie vieles im kleinkindlichen Leben, um Kinder beispielsweise vor Übergriffen oder Anfeindungen zu schützen. Problematisch wird es etwa, wenn die Kleinen sich in der Öffentlichkeit erkunden. Das könne man beenden, indem man das Kind spielerisch ablenkt und aus der Situation herausholt. „Einem Kleinkind ab zwei oder drei Jahren kann man durchaus erklären, dass diese Berührung etwas Besonderes ist, dass sie nur dem Kind gehört, dass die anderen das nicht sehen müssen, und dass es das nur zu Hause oder im eigenen Kinderzimmer macht.“

Porträt von Laura König, Sonderpädagogin und Sexualpädagogin bei „pro familia“ in Köln.

Laura König ist Sonderpädagogin und Sexualpädagogin bei „pro familia“ in Köln.

Und die Doktorspiele?

Ab einem Alter von vier oder fünf Jahren seien Kinder aber auch daran interessiert, die Körper von anderen Kindern zu erkunden, erklärt Laura König. Landläufig bezeichnet man das als „Doktorspiele“. Die Kinder ziehen sich zurück ins Kinderzimmer, oder in der Kita ins Bad oder die Kuschelecke und erkunden den Körper des anderen Kindes. Das sei in dieser Entwicklungsphase ganz natürlich und sollte ebenfalls nicht unterbunden werden – es sei denn, die Kinder sind unterschiedlich alt. „Die Altersspanne zwischen vier und sechs Jahren kann schon problematisch sein.“ Häufig komme es dabei auch zu Berührungen im Intimbereich, manchmal auch zum Ablecken. Mit solchen Geschichten riefen Eltern in der Beratungsstelle an, erzählt Laura König. „Die Eltern sind dann oft aufgeregt, und wir müssen sie erstmal beruhigen. Ein solcher Fall hat aber nichts mit oraler Befriedigung zu tun, wie wir es aus der erwachsenen Sexualität kennen. Die Sexualität von Erwachsenen und Kindern unterscheidet sich stark voneinander“, erklärt die Sexualpädagogin.

„Kinder lecken viele Dinge an. Aus ihrer Sicht gibt es hier erst einmal keinen großen Unterschied zwischen einem Penis und einem Finger. Sie sind einfach neugierig.“ Wichtig sei, dass man mit den Kindern im Gespräch bleibe. Man könne fragen, ob das Kind einem noch mehr über diese Situation erzählen möchte, wie es sich dabei gefühlt habe und auch, ob es das mit anderen Kindern auch machen würde. Vor allem aber, betont Laura König: Eltern sollten das Kind darauf hinweisen, dass es sich zu nichts drängen lassen soll, dass es nein sagen kann – und dass es ein Körpererkundungsspiel genauso abbrechen kann, wie jedes andere Spiel auch. Und dass es auch mit den Erzieherinnen und Erziehern sprechen kann.

Und wenn das Kind gedrängt wurde?

Allein an der Art und Weise, wie das Kind über die Situation berichtet, werden Eltern und Erzieherinnen hoffentlich erkennen, ob das Erkundungsspiel im gegenseitigen Einverständnis stattgefunden hat. „Stellt sich heraus, dass ein Kind gedrängt wurde, muss man dieses erstmal auffangen“, sagt Laura König. Und zwar Eltern und Erzieherinnen zusammen. Dem Kind zuhören, ihm Glauben schenken und das Gefühl geben, dass es das Richtige war, sich Hilfe zu holen. „Das ist eine sehr wichtige Erfahrung – auch für den Fall, dass es im späteren Leben einmal zu sexueller Belästigung kommen solle.“ Ansonsten müsse man individuell schauen, wie es weitergehe. Bei jenen Kindern, die andere immer wieder bedrängten, oder die extrem auf Doktorspiele fokussiert seien, stecke häufig ein größeres Problem dahinter, das man möglicherweise auch therapeutisch angehen müsse. „Aber das kommt wirklich selten vor“, sagt Laura König. „Häufiger ist es so, dass Kinder eine gewisse Zeit lang an solchen Erkundungsspielen interessiert sind, das aber auch wieder aufhört.“

Was bedeutet das nun?

Und um diesem ganzen Bereich der kindlichen Entwicklung einen Rahmen zu geben, ist ein sexualpädagogisches Konzept eben sinnvoll. Damit Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und auch Kinder wissen, wie die Regeln sind. „Masturbationsräume“ oder andere spezielle Räume für die Erkundungsspiele sind nach Ansicht von Laura König und pro familia nicht notwendig. „Die Kinder suchen sich dafür selbst einen Ort, an dem sie sich sicher und geschützt fühlen.“ Viel wichtiger sei, dass die Kinder das Gefühl hätten, sowohl in der Kita, als auch zu Hause, offen Fragen stellen zu können. „Manchen Eltern bereitet das Unbehagen, aber man muss ja nicht das Rad neu erfinden“, beruhigt Laura König. „Es gibt tolle Bücher, die man gemeinsam mit den Kindern anschauen kann.“ Denn: Je aufgeklärter ein Kind ist, je genauer es Begriffe kennt, je sicherer es sich fühlt, desto eher kann es schwierige Situationen erkennen, sich mitteilen und dann von Erwachsenen geschützt werden. Und je weniger das Thema tabuisiert wird, desto eher haben Kinder die Möglichkeit, um über ihre Fragen und Erfahrungen zu sprechen.


Laura König empfiehlt eine Auswahl an Büchern zum Thema Aufklärung für kleine Kinder:

  • Tyler Feder: „Körper sind toll“, Zuckersüß Verlag, ab 3 Jahre, 24,90 Euro
  • Jessica Sanders: „Ich bin stark, ich bin zart“, Zuckersüß Verlag, ab 3 Jahre, 24,90 Euro
  • Ursula Enders: „Wir können was, was ihr nicht könnt – Bilderbuch zu Zärtlichkeit und Doktorspiel“, Verlag Mebes & Noack, ab 3 Jahre, 18,50 Euro
  • Anna Fiske: „Alle haben einen Po“, Hanser, ab 4 Jahre, 14 Euro
  • Noa Lovis Pfeifer, Lina Lätitia Blatt: „Unterum: Und wie sagst du?“, Beltz & Gelberg, ab 3 Jahre, 16 Euro
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