Windelfreie ErziehungBaby Fred macht seit seiner Geburt ins Töpfchen

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Vera Witsch mit Sohn Fred

Töpfchen statt Windel: Für den vier Monate alten Fred ist das ganz normal.

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Köln – Der kleine Fred kennt sein hellgrünes Töpfchen schon ganz genau. Das „Pötti“, wie es in seiner Familie heißt, gehört zu seinem Alltag als Baby wie trinken und schlafen. Wenn er mal muss, wird er einfach darüber gehalten und tut das, wofür andere Kinder regelmäßig eine Windel brauchen. Völlig entspannt läuft das ab und der vier Monate alte Junge sieht dabei so zufrieden aus, dass man glatt vergessen könnte, wie anders das bei den meisten Babys ist. Denn die Vorstellung, einen Säugling windelfrei zu erziehen, führt bei vielen Eltern unserer Kultur noch eher zu Stirnrunzeln und der Frage: Wie kann so etwas denn überhaupt funktionieren?

Freds Mutter Vera Witsch praktiziert die windelfrei-Methode nicht nur in ihrem Alltag mit Baby Fred, sie vermittelt sie als Hebamme und Bindungsberaterin am Kölner Krankenhaus Severinsklösterchen auch anderen Eltern. Um zu verstehen, worum es bei der Töpfchen-Methode gehe, müsse man zunächst mit einer falschen Vorstellung aufräumen: „Der Begriff ‚windelfrei‘ heißt nicht, dass ein Baby überhaupt keine Windeln mehr trägt“, erklärt sie, „es geht darum, zu erkennen, wann das Kind muss und es dann über ein Töpfchen, das Waschbecken oder die Toilette zu halten.“ Der englische Ausdruck „elimination communication“, übersetzt „Ausscheidungskommunikation“, beschreibe das Prinzip treffender, denn im Vordergrund stehe die Verständigung mit dem Baby. „Es gilt, seine Signale zu verstehen und dann darauf zu reagieren.“

Eltern lernen, die Signale des Babys zu lesen

Fred und seine Mutter Vera Witsch

Fred und seine Mutter Vera Witsch – als Hebamme und Bindungsberaterin schult sie auch andere Eltern.

Wann Fred ein Bedürfnis hat und es Zeit wird, nach dem Töpfchen zu greifen, das weiß Vera Witsch als Mutter längst. „Es ist nicht schwierig, ich habe eine enge Verbindung zu meinem Sohn und kenne seine Zeichen genau.“ Alle Eltern könnten lernen, die Signale ihres Babys zu erkennen, einfach indem sie es gut beobachteten. „Anfangs sind die Anzeichen noch fein, aber je besser und länger Eltern ihr Kind kennen, desto klarer sehen sie, wann es muss.“ Rund um die Uhr neben ihm sitzen und es anstarren, das müssten sie dafür aber keinesfalls. „Irgendwann ist es eine Art unsichtbare Kommunikation zwischen Kind und Eltern.“

Die Signale seien bei vielen Babys ähnlich, sie zappelten zum Beispiel ganz unruhig mit den Beinen. Zudem gebe es auch klassische Situationen, in denen Kinder ihr Geschäft machten, etwa nach dem Schlafen oder Essen.

„Kinder sind schon trocken, wenn sie auf die Welt kommen“

Das Töpfchen steht im Hause Witsch immer neben der Couch oder am Bett. „Viele denken, es sei furchtbar umständlich, windelfrei zu praktizieren“, sagt Vera Witsch, „dabei macht es viel Spaß und ich finde es auch unglaublich alltagstauglich und sehr effektiv.“ Gerade nachts, wenn Fred unruhig werde, halte sie ihn kurz über den Topf, wische schnell mit Feuchttüchern ab und er schlafe danach tief und fest weiter. Eine Sache von wenigen Minuten. Und eine Methode mit hygienischen Vorteilen: „Es gibt weniger rote Popos und auch keine bis oben hin besudelten Bodys.“

Buchtipps zum Thema

Laurie Boucke, „TopfFit!: Der natürliche Weg mit oder ohne Windeln“, tologo Verlag, 2010 Ingrid Bauer, „Es geht auch ohne Windeln!: Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege“, Kösel Verlag, 2004 Nicola Schmidt, „artgerecht - Das andere Babybuch“, Kösel Verlag, 2021

Während andere Babys oft stündlich gewickelt werden müssten, weil sie immer nur gerade so viel in die Windel drückten, wie es zur Erleichterung brauche, machten Kinder auf dem Topf oft größere Mengen und dementsprechend seltener. Mit sieben Monaten seien Babys schon in der Lage, ihre Blase vollständig zu entleeren. Das Gefühl für ihre Bedürfnisse hätten sie dabei schon von Geburt an. „Kinder sind quasi schon trocken, wenn sie auf die Welt kommen, sie nehmen ihre Ausscheidungen von Anfang an wahr. Je älter sie werden, desto mehr können sie sie auch selbst regulieren.“ Damit ein Kind den Instinkt für seine Ausscheidungen behalte, sei es ausreichend, es zwei Mal am Tag abzuhalten, selbst wenn es sonst Windeln trage.

Kinder werden heute später trocken

Auch Fred brauche zwischendurch Windeln, im Augenblick etwa fünf pro Tag – und damit halb so viel wie Wickelkinder. „Ökologisch ist das natürlich ein riesiger Unterschied, so produziert man viel weniger Müll.“ Bald schon wolle sie aber auf Stoffwindeln umsteigen. Die seien nicht nur nachhaltiger, sondern mit ihnen spürten Babys auch deutlicher, wenn es mal feucht würde. „Die Fertigwindeln sind heute so saugfähig, dass Kinder das Gefühl für Nässe und ihre Ausscheidungen oft total verloren haben“, sagt Vera Witsch, „dadurch verschiebt sich auch der Zeitpunkt nach hinten, wann sie trocken werden.“ Das belegt auch eine Studie: So waren Kinder in den 80er Jahre noch mit 26 Monaten trocken, im Jahr 2003 lag der Durchschnittswert bei 36,8 Monaten. Diese Verzögerung könne auch medizinische Folgen haben. „Kinder, die spät trocken werden, lernen oft nicht, ihre Blase ganz zu entleeren, was vermehrt zu Nierenbecken- und Blasenentzündungen führen kann.“

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In manchen Kulturen ist windelfrei der Standard

Wann ein Kind reif ist für Sauberkeitstraining, das wird weltweit unterschiedlich gesehen und hängt vom kulturellen Umfeld ab. Hierzulande empfehlen Ärzte ein Toilettentraining ab etwa zwei Jahren, das dann beginnt, wenn das Kind bereit ist – was natürlich stark variiert. In anderen Gegenden der Welt haben Eltern dagegen überhaupt nicht die Möglichkeit, Babys lange zu wickeln, weil es gar keine Wegwerfwindeln gibt. In manchen Kulturkreisen wiederum ist die frühe Abhalte-Methode schon lange Tradition. In Vietnam würden Babys von ihrer Geburt an abgehalten und seien mit neun Monaten sauber, schreibt Erziehungsexpertin Nicola Schmidt in ihrem Buch „Der Elternkompass“. In Westafrika gehe man sogar davon aus, dass Kinder mit fünf Monaten trocken sein können. Auch bei den mongolischen Nomaden ist windelfreie Erziehung in der Kultur verankert und wird auch heute noch oft praktiziert.

Auf der Wochenstation des Klösterchens steht an jedem Bett ein Töpfchen

Ein Töpfchen im Severinsklösterchen

Dieses Töpfchen steht auf der Wochenstation des Severinsklösterchen an jedem Bett.

„In Deutschland ist die windelfrei-Methode ein Trend, der noch am Anfang steht“, sagt Vera Witsch, „aber ich würde mich freuen, wenn viele Eltern Lust bekommen, das auch mal auszuprobieren.“ Im Severinsklösterchen ist die Methode bereits angekommen. „Bei uns auf der Wochenstation steht neben jedem Bett inzwischen ein kleines Töpfchen“, erzählt sie, „wir bieten diese Methode den Eltern im Wochenbett an und probieren das auch mit ihnen zusammen aus.“ Das ist Teil des Bindungskonzepts, das dort in der Geburtshilfe inzwischen als Maßstab gilt, mit dem Ziel, die enge Eltern-Kind-Bindung zu fördern. „Viele Eltern finden es zunächst befremdlich, ihren Säugling über ein Töpfchen zu halten, sind dann aber beeindruckt, wie schnell die Kinder tatsächlich machen.“ Die Töpfchen-Methode sei dabei keinesfalls nur etwas für Mütter. „Die Väter machen das unglaublich gerne und gut, sie erkennen oft viel schneller die Zeichen des Kindes als die Mütter. Man sagt deshalb auch: Abhalten ist das Stillen der Väter.“

Auf der Station zeige sich auch, dass die Abhalte-Methode bei Stillproblemen helfen könne. „Babys, die eigentlich mal müssen, gehen oft nicht richtig an die Brust, sie docken an und wieder ab“, sagt Vera Witsch, „sie werden sehr unruhig, wenn die Ausscheidung sich ankündigt, weil sie einen tiefen Instinkt haben, sich selbst und ihr Nest nicht zu beschmutzen.“ Halte man sie zunächst über dem Töpfchen ab, funktioniere das Trinken danach viel besser. Auch bei Drei-Monats-Koliken könne es Linderung bringen, Babys mal aus der Windel zu holen. „Eltern sind immer total dankbar, wenn man ihnen einen Trick zeigt, damit ihr Kind besser trinkt und weniger schreit.“

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