Demenz ab Mitte 40„Ein falsches Wort reicht – und er flippt total aus”

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Anita K. leidet sehr unter der Krankheit ihres Mannes.

  • Sie fluchen, spucken in der Öffentlichkeit und leben nach ihren eigenen Regeln. Menschen mit einer speziellen Form der Demenz erkranken schon lange vor dem Seniorenalter, in der Blüte ihres Lebens.
  • Die Verhaltensänderungen – etwa in Form von Reizbarkeit oder Aggression – kommen oft schleichend auf. Mit einer Krankheit verbindet das zunächst niemanden.
  • Für die Angehörigen beginnt ein langer Leidensweg, für einige ein Martyrium. Drei Ehefrauen berichten, wie schwer es ist, mit ihren erkrankten Männern umzugehen.
  • Hilfe für die Betroffenen? Gibt es kaum. Ein Artikel aus unserem Archiv.

Am Anfang waren es kleine Irritationen. Sie fielen kaum auf. Mal fehlte Rolf K. ein Wort. Ein Name schien vergessen. Mal verwechselte er zwei Begriffe. Sagte „Hochhaus” statt „haushoch”. Buchstaben gerieten durcheinander: Aus „mausgrau” wurde „grausmau”. Das war 2007, und Rolf K. aus Köln war 54 Jahre alt. „Wenn man ihn darauf ansprach, lachte er nur”, erinnert sich Anita K., die Ehefrau. Dann veränderte sich sein Verhalten. Rolf K. wurde aggressiv. „Man konnte nicht mehr mit ihm reden. Er hatte immer recht, und wenn wir uns stritten, war immer ich die Schuldige.” Das war 2008.

Best-Of-Geschichte

Dieser Artikel ist im November 2016 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen. Im Rahmen unserer „Best Of”-Reihe veröffentlichen wir regelmäßig interessante Texte aus unserem Archiv.

2009 überlegte Anita K. „ernsthaft”, sich scheiden zu lassen - und verwarf den Gedanken zunächst wieder. „Er schien zu keinerlei Gefühlsregungen mehr fähig zu sein. Er war ein völlig anderer Mensch. Wir wollten schon eine Eheberatung aufsuchen, aber dann dachte ich: Vielleicht hat er ja bloß Probleme mit dem Älterwerden, und alles wird wieder gut.”

2010 kam es zu einem öffentlichen Eklat. Rolf K. bekam während eines Restaurantbesuchs mit Freunden einen Wutanfall. „Er hatte den Stuhl so von uns weggedreht, dass er direkt auf den Nebentisch guckte. Als ich ihm sagte, das könne er doch nicht machen, er störe die anderen Gäste, eskalierte die Situation.” Kurz darauf gingen die Ehepartner auf Anita K.s Drängen hin gemeinsam zum Hausarzt. Der schickte sie weiter zu einem Neurologen. „Ich dachte, vielleicht hatte mein Mann ja einen Schlaganfall und hat sich deswegen so verändert.”

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Rolf K., 57 Jahre alt und beschäftigt bei einem Bonner Telekommunikationsunternehmen, hatte keinen Schlaganfall gehabt. Er litt an Frontotemporaler Demenz (FTD), einer Sonderform der frühen Demenz, die schon Unter-40-Jährige treffen und zu Persönlichkeitsveränderungen, Sprachstörungen und dem völligen Verlust der Sprache führen kann. Grund dafür ist der Abbau von Nervenzellen im Frontal- und Temporal-Lappen, im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns also.

Anita K. stand nach dem Arztbesuch unter Schock. „Ich dachte nur: Wie kriegst du das hin?" Rolf K. hingegen reagierte gelassen. „Er ging an den Computer, druckte sich alle Informationen aus und sagte: „Das habe ich nicht”.” Dieser Ansicht sei er bis heute.

Plötzlich habe vieles einen Sinn ergeben, sagt Anita K., die wie alle Protagonistinnen in diesem Artikel weder ihren eigenen noch den Namen ihres Mannes in der Zeitung lesen möchte. Rolf K.s aggressive Ausbrüche ihr gegenüber. Seine emotionale Kälte. Seine Rechthaberei und mangelnde Krankheitseinsicht. Die täglich länger werdenden Arbeitszeiten.

„Wahrscheinlich war er schon sehr viel länger krank und ist mit seiner Arbeit nicht mehr zurechtgekommen”, vermutet Anita K. „Aber gerade als Angehörige merken Sie manche Dinge nicht sofort. Sie denken, der hat halt einen schlechten Tag. Oder er ist in der Midlife-Crisis. Wer denkt denn in diesem Alter schon an Demenz?”

Auch viele Ärzte täten sich schwer mit der Diagnose FTD, eben weil die Patienten noch recht jung seien, sagt Peter Häussermann von der LVR-Klinik Köln. „Man vermutet erst einmal etwas anderes, vielleicht eine Depression, die ebenfalls mit Vergesslichkeit einher gehen kann.” Der Neurologe und Geronto-Psychiater leitet seit 2010 eine von drei Gedächtnissprechstunden in Köln. Etwa 30 Prozent seiner Patenten sind unter 65.

„FTD-Kranke können das Verhalten anderer Menschen nicht mehr deuten und keine Empathie empfinden, folglich auch nicht mehr einer Situation gemäß interagieren”, so seine Erfahrung. Die Folge: Ihre Persönlichkeit und ihr Sozialverhalten verändern sich dramatisch. Sie werden auffällig, fluchen und spucken in der Öffentlichkeit, wenn ihnen danach ist. Manche werden sexuell übergriffig. Ähnlich wie Autisten halten sie häufig an starren Regeln und einem festen Tagesablauf fest.

Was ist Frontotemporale Demenz?

Frontotemporale Demenz (FTD) ist eine Form von präseniler, also von früher Demenz. Sie kann Menschen deutlich vor dem 65. Lebensjahr treffen. Anders als bei Alzheimerpatienten verändern sich Persönlichkeit und Sozialverhalten der Betroffenen. Sie wirken desinteressiert, antriebslos und sind nicht mehr fähig zu Empathie, halten Termine nicht ein und ziehen sich mehr und mehr zurück. Auch ihre Sprache ist reduziert. Schließlich verstummen sie ganz. Die Krankheit beginnt schleichend, der Krankheitsverlauf vom Beginn bis zum Tod beträgt durchschnittlich acht Jahre.

Erstmals beschrieben wurde die Frontotemporale Demenz - auch als Picksche Krankheit oder Morbus Pick bekannt - 1892 von dem Prager Neurologen Arnold Pick. Er entdeckte bei der Obduktion früh verstorbener "schwachsinniger" Patienten Veränderungen im Gehirn und stufte sie als eigene Krankheit ein. Bis heute weiß man wenig über die Ursache und die Verbreitung präseniler Demenzen. Von FTD ist in Deutschland durchschnittlich einer von 1000 Menschen betroffen, genaue Zahlen liegen nicht vor. In Köln leben schätzungsweise zwischen 800 und 1000 FTD-Patienten.

Verursacht wird die FTD durch Veränderungen im Frontal-, im Stirnlappen und im Temporal-, im Schläfenlappen des Gehirns. Durch das Absterben von Nervenzellen kommt zu einer allmählichen Hirnschrumpfung.

Das Stirnhirn gilt allgemein als Sitz der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens. Eine frontotemporale Hirndegeneration führt daher in erster Linie zu einer Veränderung des Sozialverhaltens und der Persönlichkeit der Patienten. Erst im Verlauf der Krankheit kommt es zusätzlich zu einer Demenz: Die Erkrankten bekommen Gedächtnis- und Sprachprobleme.

Hilfe für Angehörige bieten knapp 20 FTD-Angehörigengruppen. Adressen und Informationen: www.deutsche-alzheimer.de

Eine Internet-Video-Gruppe für Angehörige tagt einmal im Monat. Anmeldung: Susanna Saxl, Tel: 030/259 37 95 12,

susanna.saxl@deutsche-alzheimer.de

In Köln finden Betroffene und Angehörige Hilfe bei der Beratungsstelle für früherkrankte Menschen mit Demenz im Gerontopsychiatrischen Zentrum in K-Mülheim, Adamstr 12, Tel: 0221/60 608 521. sigrid.steimel@lvr.de

„Je geregelter unser Tagesablauf ist, desto einfacher ist mein Mann zu händeln.” Das hat auch Anita K.. erst lernen müssen. Um 5.30 Uhr aufstehen, um sechs Uhr frühstücken. Um 12.30 Uhr geht Rolf K. einen Salat essen. Jeden Tag, seit fünf Jahren. Die 62-Jährige hat sich längst eingerichtet in einem Leben, das auf die Minute genau durchgetaktet ist. Ihren Mann zu verlassen sei keine Option gewesen nach der Diagnose, obwohl sein Verhalten sie oft verletze. „Er sagt nicht „Guten Tag” und fragt nie, wie es mir geht. Ich werde im Grunde nicht beachtet. Doch ein falsches Wort kann reichen, und er flippt total aus. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Man weiß nie, wann der Vulkan ausbricht.”

Vor kurzem erst sei ihr auf dem Kölner Neumarkt der Geldbeutel, sein Jackett und der Ehering entgegengeflogen. „Ich wollte ihm ein T-Shirt kaufen. Er wollte das nicht. Und dann stehen Sie da, mitten im Berufsverkehr, und alles guckt. Sie müssen lernen, mit dem Fremdschämen umzugehen.” Ihr Mann bezeichne sie auch schon mal öffentlich als Arschloch. „Das hören dann auch alle anderen.”

Angelika N. aus Krefeld sagt, sie habe noch Glück gehabt. „Mein Mann ist lieb und nett und brav.” 2009 erhielt Jens N. die Diagnose FTD. Die ersten Anzeichen der Krankheit zeigten sich schon zwei, drei Jahre früher. „Er wurde vergesslich, verdrehte manchmal Buchstaben und hatte Probleme, Wörter und Dinge zusammenzubringen. Er merkte zwar selber, dass er alles vergisst und dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt, aber er nahm das einfach so hin.”

Heute, sieben Jahre später, sitzt Jens N. „von morgens bis abends stumm in der Wohnung und löst Sudokus”. Mehrmals in der Woche geht er walken. Besuch kann er schon lange nicht mehr empfangen. Wie sein Verhältnis zu ihr sei, könne sie nicht beurteilen, sagt Angelika N., die seit 44 Jahren mit Jens verheiratet ist. Ein Gespräch zwischen ihnen sei kaum mehr möglich. „Er ist wie ein großes Kind, das nichts mehr lernt, sondern nur noch vergisst. Ich muss ihm sogar die Nase putzen.”

„Heute muss ich für zwei denken”

Vor allem die Wesensveränderung ihres langjährigen Partners macht der 64-Jährigen zu schaffen. „Früher war einfach alles schön. Wir haben gut harmoniert und immer alles gemeinsam gemacht. Heute muss ich für zwei denken.” Inzwischen, gibt sie zu, „fängt man langsam an, auf Distanz zum Partner zu gehen. Sonst kann man das nicht schaffen. Aber ich kann doch nicht nach all den Jahren einfach tschüss sagen und gehen.”

Sigrid Steimel weiß, wie sich die Angehörigen von FTD-Kranken fühlen, wenn sie im Alleingang den Alltag stemmen müssen. Die Sozialarbeiterin leitet seit 2015 am Gerontopsychiatrischen Zentrum in Köln-Mülheim die Beratungsstelle „Frühe Demenz”. „Diesen Menschen geht der Partner verloren. Plötzlich leben sie mit einem Fremden zusammen.”

Hilfen für die Betroffenen und ihre Angehörigen sind dünn gesät. Tageskliniken und Heime speziell für die Bedürfnisse von FTD-Patienten gibt es in Deutschland bislang nicht.. „Viele Patienten sind jung und fit”, sagt Sigrid Steimel. „Die kann man nicht in einem Seniorenheim zusammen mit wesentlich Älteren unterbringen.” Die Angehörigen wiederum seien mit der Betreuung der Kranken schnell überfordert. „Sie brauchen Entlastung und Unterstützung, sonst schaffen sie das nicht.”

Ursula V. hat genau deswegen vor sechs Jahren in Krefeld eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von FTD-Kranken ins Leben gerufen. „Damit man sich austauschen und gegenseitig unterstützen kann.” Es war die erste Gruppe in NRW. Inzwischen gibt es weitere in Essen, Münster, Bonn und Kreuztal. Auch in Köln ist die Gründung eines entsprechenden Gesprächskreises geplant.

Die damals 46-Jährige tippte zunächst auf eine Schilddrüsenstörung oder auf Depressionen, als sich Ehemann Klaus 2008 rapide zu verändern begann. Da war der zweifache Vater 47, und die Silberne Hochzeit lag gerade hinter ihnen. „Er war immer ein totaler Familienmensch und hat viel mit den Kindern unternommen”, erinnert sich Ursula V. „Jetzt lag er nur noch auf der Couch und interessierte sich für nichts mehr. Dabei hatten wir noch so viele Träume.”

Klaus V. bekam Panikattacken. Er klagte über Herzrasen und ein „innerliches Brennen”. Untersuchungen beim Hausarzt ergaben keine körperlichen Auffälligkeiten. Als er schließlich mit Selbstmord drohte, wurde er für einige Monate in die Psychiatrie eingewiesen. Ein langer Leidensweg begann. Klaus V. zerschlug Glasflaschen und ging damit auf Ärzte und Pfleger los.

Er trank das Desinfektionsmittel aus den Handspendern im Heim, in dem er zwischenzeitlich lebte, klaute Feuerlöscher, um sie im Internet zu verkaufen, und schüttete dem Heimleiter Milch ins Gesicht, als der ihm etwas verbot. „Ein Nein kann er nicht ertragen. Damit kann er nicht umgehen.” Inzwischen sind sich die Ärzte nicht mehr sicher, ob der 55-Jährige an FTD oder an einer anderen psychischen Krankheit leidet. Die Symptome würden auch zu einer bipolaren oder schizoaffektiven Störung passen, bescheinigte ihm kürzlich ein Gutachter und empfahl seine Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft.

„Keine Ahnung, wie es weitergehen soll”

„Das geht schief”, weiß Ursula V. schon jetzt. „Der sprengt mit seinem Verhalten jede WG.” Die neue Diagnose zweifelt sie ohnehin an. Zur Zeit lebt Klaus V. in einem offenen Heim, doch das hat ihm kürzlich gekündigt. Auch seine rechtliche Betreuerin hat die Brocken hingeworfen. „Keine Ahnung, wie es weitergehen soll”, sagt Ursula V. „Ich traue mich nicht, ihn zu nehmen. Im Heim habe ich immer noch Hilfen, die ich zu Hause nicht habe.”

Ursula V. besucht ihren Mann einmal in der Woche. Mehr geht nicht. „Das tut zu weh. Manchmal, wenn er einen guten Tag hat, kommt sein früheres Ich wieder durch. Das sind für mich die schlimmsten Tage. Dann sitze ich anschließend im Auto und frage mich: „Mein Gott, warum?””

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