Forscherin im InterviewDepressionen bei Männern werden oft gar nicht erkannt

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Betroffene Männer merken oft selbst gar nicht, wenn sie in eine Depression hineingeraten.

  • Depressionen könnten nach Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation bereits in zehn Jahren zur häufigsten Krankheit in den Industrienationen werden.
  • Depressionen bei Männern bleiben aber häufig unerkannt, weil sie andere Symptome zeigen als Frauen. Das kann fatale Konsequenzen haben: Dreiviertel der 10.000 Suizide in Deutschland werden von Männern begangen.
  • Forscherin Anne-Maria Möller-Leimkühler hat einen neuen Selbsttest entwickelt, mit dem das Depressionsrisiko bei Männern besser diagnostiziert werden kann.

Köln – Frau Möller-Leimkühler, Sie forschen seit Jahren über Depressionen und haben herausgefunden, dass die Krankheit bei Männern häufig gar nicht erst erkannt wird. Woran liegt das?

Anne-Maria Möller-Leimkühler: Es gibt viele Gründe dafür. Ein scheinbar banaler ist, dass Männer selten zum Arzt gehen. Wer nicht zum Arzt geht, bekommt keine Diagnose.

Warum tun sich Männer damit so schwer? Möller-Leimkühler: Weil Gesundheit für viele Männer immer noch kein Thema ist. In den Wartezimmern sitzen überwiegend Frauen, da kann sich ein Mann dann schon mal unwohl, sprich: unmännlich fühlen. Hinzu kommt eine Art magisches Denken: Wenn ich nicht zum Arzt gehe, bin ich auch nicht krank. Was die Depression angeht, merken betroffene Männer oft gar nicht, wenn sie in eine Depression hineingeraten. Das heißt, sie spüren zwar eine innere Spannung, können sie aber nicht zuordnen. Schon gar nicht einer Depression, weil diese noch immer für Männer ein Tabu ist und deshalb in ihrer Welt gar nicht vorkommt.

Und immer noch nicht vorkommen darf?

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Anne-Maria Möller-Leimkühler ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Möller-Leimkühler: Auch das. Die traditionelle Vorstellung von Männlichkeit steht den Männern in dieser Hinsicht im Weg. Sie haben immer noch ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Psyche, weil sie in ihrer Kindheit nicht gelernt haben und ermuntert wurden, über Gefühle zu sprechen und diese zu zeigen, ohne Angst haben zu müssen, dadurch kein richtiger Junge oder kein richtiger Mann zu sein. Statt Gefühle zu zeigen, sollen Männer ihre Emotionen kontrollieren. Deshalb neigen Männer dazu, Symptome erstmal zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Sie leiden still und heimlich.

Gibt es männertypische Symptome bei Depressionen? Möller-Leimkühler: Eine Depression hat viele Gesichter. Auch Männer können antriebslos, traurig und interesselos zu sein. Aber sie neigen auch dazu, diese negativen Gefühle zu verdrängen und versuchen, sie auf der Verhaltensebene abzuarbeiten. Nach dem Motto: außen Action, innen Konflikt.

Was meinen Sie damit? Möller-Leimkühler: Männer können zum Beispiel ein Suchtverhalten entwickeln. Nicht nur in Bezug auf Drogen oder Alkohol, sondern auch auf Internet-Konsum, Sex, Arbeit oder Sport. Ich habe mal mit einem Patienten gesprochen, der jeden Tag mit dem Rennrad an die 300 Kilometer gefahren ist, um sich abzureagieren, aber das hatte ihm nichts gebracht.

Viele depressive Männer bedienen ihr Belohnungssystem mit suchtähnlichem Verhalten, aber das Charakteristische einer Sucht ist ja, dass sie zwar kurzfristig befriedigt, aber nach einer immer höheren Dosis verlangt und letztlich das Problem nicht löst, sondern ein neues schafft. Depressionsgefährdete Männer können aber auch mit gesteigerter Aggressivität, Gereiztheit, Wutanfällen oder Risikoverhalten reagieren. Das sind aber alles Anzeichen, die gemeinhin nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht werden. Auch von vielen Ärzten nicht. So fallen viele depressive Männer schlicht durchs Diagnoseraster.

Wann holen sich Männer Hilfe? Möller-Leimkühler: Das tun sie häufig erst, wenn chronische körperliche Symptome hinzugekommen sind, was nicht selten der Fall ist. Dann liegt es beim Arzt, die Anzeichen richtig zu deuten. Er müsste das Gespräch auch auf emotionale Konflikte und Stressbewältigung bringen. Das passiert aber viel zu selten. Und: Eine verspätete Behandlung verschlechtert die Prognose. Männer tun sich und ihren Angehörigen damit nichts Gutes.

Selbst wenn Männer dieselben Symptome wie Frauen zeigen, bekommen sie signifikant seltener eine Depression diagnostiziert. Wie erklären Sie sich das? Möller-Leimkühler: Ich denke, dass die alten Geschlechterstereotype eben auch in den Köpfen von Ärzten noch wirksam sind: Depression ist eine Frauenkrankheit, Männer kriegen keine Depression. Hinzu kommt, dass die Depressionsdiagnostik an Symptomen entwickelt wurde, die hauptsächlich und häufiger von Frauen berichtet werden. Deshalb sind Allgemeinmedizinern häufig auch nur die frauentypischen Symptome bekannt, ohne dass sie sich dessen bewusst sind.

Wie gehen Männer schließlich mit der Diagnose um? Möller-Leimkühler: Männern fällt es schwer, sie überhaupt zu akzeptieren. Sie wird mit Schwäche und Versagen assoziiert. Das ist natürlich Unsinn. Eine Depression ist eine schwere Krankheit, aus der man nicht alleine herauskommt und die tödlich enden kann.

Gibt es spezifische Risikofaktoren, auf die Männer besonders achten sollten? Möller-Leimkühler: Frauen leiden eher unter Problemen in Beziehungen, Familie und Partnerschaft, wohingegen Männer empfindlicher auf alles reagieren, was am Arbeitsplatz schief läuft. Auf alles, was ihren Status und ihre Leistungsfähigkeit gefährdet. Zum Beispiel, wenn es ein ständiges Ungleichgewicht zwischen Arbeitsengagement und Anerkennung gibt. Da hängt sich jemand richtig rein, wird aber nicht honoriert. Den Job zu wechseln, ist nicht so einfach, auch weil es keine Garantie auf mehr Anerkennung gibt. Das wirkt sich auf Dauer natürlich negativ auf die Gesundheit aus. Die ständige Frustration kann zum Alkoholismus führen, zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zu Depressionen. Arbeitsstress ist ein wichtiger Risikofaktor für Depressionen, aber es gibt noch andere, unter denen Männer mehr leiden als Frauen, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Berentung, Trennung oder Scheidung und Alleinleben.

Sie sagen, dass Männer mitunter sogar stressanfälliger als Frauen sind. Woran machen Sie das fest? Möller-Leimkühler: Männer gelten als besonders belastbar, nach dem Motto: Einen Mann haut so schnell nichts um. Aber experimentelle Studien belegen, dass Männer sogar stärkere psychobiologische Reaktionen auf Stress zeigen als Frauen. Sie schütten in vergleichbaren Situationen mehr Stresshormone wie Cortisol aus als Frauen. Aber sie nehmen es nicht so wahr. So kann Stress auf Dauer den Männern mehr schaden, sie sterben auch häufiger an Stress, Frauen nicht.

Was passiert, wenn Depressionen nicht therapiert werden? Möller-Leimkühler: Die Folgen können gravierend sein. Depressionen sind heute einer der Hauptgründe für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Betroffene riskieren also einen sozio-ökonomischen Abstieg. Die Krankheit bedeutet außerdem eine hohe Belastung für den Partner und die Familie. Eine unbehandelte Depression kann im Verlauf auch zu schweren körperlichen Erkrankungen führen, zum Beispiel zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Schlaganfall. Dann werden zwar die körperlichen Krankheiten behandelt, aber nicht die dahinterliegende Depression. Die allgemeine Sterblichkeit erhöht sich also massiv - genauso wie das Suizid-Risiko.

Etwa drei Viertel der jährlich knapp 10.000 Suizide in Deutschland werden von Männern begangen. Möller-Leimkühler: Man weiß, dass etwa 70 Prozent der Selbstmorde infolge von Depressionen begangen werden. Im Vergleich zu Frauen wird bei Männern nur halb so häufig eine Depression diagnostiziert. Ihr Suizid-Risiko ist aber dreimal so hoch wie bei Frauen. Das ist paradox und spricht für eine hohe Dunkelziffer von nicht behandelten Depressionen bei Männern.

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Müssen Männer anders therapiert werden? Möller-Leimkühler: Nein. Man könnte jedoch die Therapie sicherlich männersensibler gestalten. In der Psychotherapie arbeiten vorwiegend Frauen und die Behandlung ist eher auf Frauen zugeschnitten. Deshalb sind nur ein Drittel der Psychotherapiepatienten Männer. Frauen haben in der Regel kein Problem damit, offen über ihre emotionalen Probleme zu sprechen. Männer dagegen sind schwer zum Sprechen zu bringen. Davon berichten auch viele Therapeuten. Männer müssen erst lernen, ihre Grenzen und Schwächen zuzugeben, ohne dass sie es gleich als unmännlich sehen. Hilfesuchen sollte für sie irgendwann zu einem Zeichen effektiver Problemlösung werden. 

Wie sind die Erfolgsaussichten einer Psychotherapie bei Männern? Möller-Leimkühler: Die sind sehr gut. Die kognitive Verhaltenstherapie oder die interpersonelle Therapie wirkt bei Männern genauso gut wie bei Frauen, das ist wissenschaftlich gut belegt. Männer müssten sich nur dazu entscheiden können.

Sie haben ein Depressionsscreening entwickelt, das sich gezielt an Männer wendet. Was versprechen Sie sich davon? Möller-Leimkühler: Dieses Screening kann sowohl von Ärzten als auch als Selbsttest benutzt werden. Es geht darum, eine Depressionsgefährdung bei Männern, die nicht unbedingt die klassischen Depressionssymptome aufweisen, besser und früher zu erkennen. Deshalb enthält dieses Screening nicht nur einige klassische Depressionssymptome wie Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit oder Traurigkeit, sondern auch andere Symptome im Zusammenhang mit Stress, Aggressivität, emotionaler Kontrolle, Alkoholkonsum und Risikoverhalten. Anhand von mehreren großen Stichproben hat sich gezeigt, dass mit diesem Screening signifikant mehr Männer mit Depressionsrisiko erkannt werden können als mit einem üblichen Standardfrageboten. Damit erfüllt es seinen Zweck. Es ersetzt natürlich keine klinische Diagnose, kann aber Männern und auch deren Angehörigen eine Orientierung geben.

Wie können Männer generell vorsorgen? Möller-Leimkühler: Die Grundvoraussetzung ist, dass Männer akzeptieren, dass sie tatsächlich verletzlicher sind als sie selbst glauben. Das ist schon mal ein Riesenschritt. Ganz generell sollten sie auf einen gesünderen Lebensstil achten, zum Beispiel auf einen geregelten Tag- und Nacht-Rhythmus, auf eine gesunde Ernährung, moderat Sport treiben, Kraft- und Ausdauer trainieren, um Stresshormone abzubauen. Entspannungszeiten einbauen. Das sind eigentlich basale Dinge, die aber nicht so selbstverständlich gelebt werden.

Was noch? Möller-Leimkühler: Sie sollten sich nicht auf Dauer selbst überfordern, sondern ihre Grenzen akzeptieren lernen und die ständige Selbstoptimierung, die heute propagiert wird, nicht übertreiben, weil man sich damit nur Frustrationen einhandelt. Mehr auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse hören. Es ist auch wichtig, negative Gefühle zu akzeptieren und sie als Informationen über sich selbst zu sehen. Gute Freunde sind wichtig, mit denen sie darüber sprechen können. Solche Freundschaften müssen natürlich auch gepflegt werden.

Glauben Sie, dass die nachkommende Generation der Männer achtsamer mit sich umgeht? Möller-Leimkühler: Ja, sie ist tendenziell offener. Allerdings werden junge Männer in der heutigen Gesellschaft mit vielen widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die sie auch verunsichern. Es ist nicht mehr so klar, was Männlichkeit eigentlich ist. Aber traditionelle Vorstellungen von Maskulinität nur negativ zu bewerten, wäre zu einseitig. Heute ist gern von ‚toxischer Männlichkeit‘ die Rede, als wäre der Mann an allem Übel Schuld. Klassische Männlichkeit umfasst aber auch ganz wunderbare Tugenden. Mut, Risikofreude, Hilfsbereitschaft, Ausdauer, auch Aggressivität muss nicht immer schlecht sein, sie hat auch etwas positiv Anpackendes. Kurzum: der Mann ist weder eine Minusvariante noch ein Defizitmodell.

Buchtipp: Anne-Maria Möller-Leimkühler: „Vom Dauerstress zur Depression: Wie Männer mit psychischen Belastungen umgehen und sie besser bewältigen können“, erschienen 2016 bei Fischer & Gann, 22,99 Euro

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