Lange Zeit fand die postinfektiöse Krankheit ME/CFS wenig Beachtung. Erst nach der Corona-Pandemie bekam sie mehr Aufmerksamkeit. Eine Spezialistin über Diagnose, Therapie und Hoffnung.
ME/CFS-Spezialistin im Gespräch„Auch Multiple Sklerose wurde jahrzehntelang falsch diagnostiziert und therapiert“

Menschen mit der Krankheit ME/CFS sind oft schon von Kleinigkeiten stark erschöpft und reagieren zum Beispiel empfindlich auf Geräusche.
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Frau Koerner-Rettberg, Sie sind als Kinder- und Jugendärztin am Marien-Hospital in Wesel Spezialistin für ME/CFS-Erkrankte. Die Krankheit kommt uns neu vor, ist sie das auch?
Cordula Koerner-Rettberg: Die Erkrankung ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Erstmals beschrieben wurde sie in den 1950er Jahren. Auslöser sind meist virale Infekte, bestimmte Viren wie EBV und das Sars-CoV2-Virus ganz besonders. Einen Massenanfall solcher Virusinfektionen gab es während der Corona-Pandemie. Deshalb stiegen auch die Zahlen der ME/CFS-Fälle in der Folge stark an. Und damit auch die Aufmerksamkeit.
Es gibt Neurologen, die sagen, es gebe keine klinischen Biomarker für die Erkrankung, weshalb man sie unter den psychosomatischen Diagnosen einordnen müsse. Andere wollen organische Befunde entdeckt haben. Was stimmt denn nun?
Richtig ist: Mit den etablierten, bisher in der Routine genutzten Untersuchungstechniken entzieht sich das ME/CFS tatsächlich weitestgehend auffälligen Befunden. Aber mittlerweile gibt es viele Erkenntnisse darüber, dass wir es mit organischen Schäden zu tun haben: In den Mitochondrien, im Stoffwechsel, im Kreislauf, in der Blutgerinnung, in der Immunologie. Dazu haben hochrangige Forschungsgruppen von Yale bis Harvard somatische Korrelate gefunden.
Keiner dieser Forscher geht ernsthaft davon aus, dass ein psychosomatisches Problem vorliegt. Ganz konkret gibt es beispielsweise Bildgebungsverfahren vom Gehirn, an denen man eindeutig sehen kann, dass ME/CFS-Patienten Zucker im Gehirn anders verstoffwechseln. Das könnte erklären, warum die Energiebereitstellung bei ME/CFS-Patienten nicht gut funktioniert.
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Könnte es sein, dass man noch etablierte Biomarker entdeckt?
Davon gehe ich aus. Das war auch bei Multipler Sklerose so. Auch die hat man jahrzehntelang falsch diagnostiziert und therapiert. Auch hier sind in der Mehrzahl Frauen betroffen, auch hier hat man diffuse Beschwerden, Müdigkeit, Schwäche, auch hier ging man lange davon aus, dass eine psychosomatische Erkrankung vorliegt. Später, als die moderne MRT-Technik hinreichend entwickelt war, sah man dass das Zentrale Nervensystem chronisch entzündet ist - kein Neurologe würde das heute noch bestreiten.

Dr. Cordula Koerner-Rettberg vom Marien-Hospital in Wesel sagt: „Das gilt für alle neuen oder seltenen Erkrankungen: Wenn wir die üblichen Wege nicht verlassen, sind wir blind dafür.“
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Warum tun sich Ärzte mit derlei Erkrankungen so schwer?
Weil sie kompliziert sind. Allein schon die Tatsache, dass bei solchen Multisystemerkrankungen verschiedene Organsysteme betroffen sind, ist für einen Arzt eine Zumutung. Wir Ärzte sind im Kopf auf unser Fachgebiet konzentriert, wir gehen da sehr nach unserem Schema vor. Das geht mir nicht anders. Meine erste ME/CFS-Patientin kam zu mir, weil sie dachte, sie hat etwas an der Lunge, die Eltern vermuteten Asthma – das ist mein Spezialgebiet. Da habe auch ich erst alle Lungenerkrankungen im Kopf abgegrast. Aber damit kam ich nicht weiter, man versteht diese Krankheit auf diese Weise nicht.
Das gilt für alle neuen oder seltenen Erkrankungen: Wenn wir die üblichen Wege nicht verlassen, sind wir blind dafür. Erst nach und nach habe ich verstanden, dass die Luftnot und schlechte Belastbarkeit gar nicht die einzigen Probleme waren, die Jugendliche litt auch unter etlichen anderen Symptomen wie Muskel- und Kopfschmerzen. Ich habe mich auf die Suche nach Studien gemacht und kam erst nach ein paar Monaten in 2020 auf die Idee, dass es sich um eine schwere Form von Post-Covid handeln könnte.
Gibt es denn Patienten, deren Symptome von einer psychischen Erkrankung ausgelöst werden?
Wir untersuchen jeden Patienten auch psychologisch und diagnostizieren hin und wieder auch mal eine Depression oder Angststörung. Das kommt vor. Aber bei ME/CFS-Patienten ist die Psyche nicht das ursprüngliche Problem. Einige Patienten entwickeln aber durch die Krankheitslast sekundär seelische Krankheiten. Das ist auch kein Wunder, schließlich liegen diese Menschen oft monatelang zu Hause und fühlen sich ihres Lebens beraubt. Dann muss die Depression ebenfalls behandelt werden. Und es gibt natürlich Patienten, die schon vor ihrer ME/CFS-Erkrankung eine psychiatrische Erkrankung hatten.
Warum wehren sich Erkrankte so vehement dagegen, dass auch psychiatrische Ursachen in Betracht gezogen werden?
Hauptsächlich deshalb, weil eine solche Diagnose eine aktivierende Therapie nach sich zieht, die ME/CFS-Patienten nicht hilft, sondern sie im Gegenteil in den Crash treibt. Diese Post-Exertionelle-Malaise (PEM), also der Zusammenbruch nach Belastung, ist das Hauptmerkmal von ME/CFS und tritt bei keiner anderen Erkrankung in der Form auf. Die richtige Diagnose entscheidet also maßgeblich über die richtige Therapiestrategie.
Können Patienten selbst in irgendeiner Form aktiv werden. Nur Schonung scheint ja auch nichts zu helfen.
Wenn wir von Pacing sprechen, dann meinen wir nicht Nichtstun. Entscheidend ist, sich genau im richtigen Maß zu fordern, also ganz leicht oder ganz kurz. Das ist natürlich ein schmaler Grat. Es gibt auch einige Reha-Einrichtungen, die sich darauf gezielt spezialisiert haben.
Wichtig ist, die aktuelle Belastungsgrenze nicht zu überschreiten. Das ist der Unterschied etwa zum Training oder zur Aktivierungstherapie bei Depressionen oder Schmerzerkrankungen. Da erreichen wir durch gezielte Mehrbelastung einen positiven Effekt. Bei ME/CFS-Patienten erreichen wir einen Crash.
Warum gibt es noch keine wirksamen Medikamente gegen ME/CFS?
Man kann mit nicht-medikamentösen Maßnahmen und mit Medikamenten Symptome behandeln und damit bereits einige Linderung für die Patienten bewirken. Es gibt daneben Off-Label-Therapien, die einigen Patienten helfen. Wir haben aber sehr spät angefangen, das richtig zu erforschen. Die Fehlwahrnehmung von ME/CFS als psychische Krankheit hat uns dabei Zeit gekostet und tut es immer noch. In Deutschland hat Carmen Scheibenbogen, sie ist Professorin an der Charité in Berlin, kurz vor der Pandemie die ersten Studien gestartet. Therapiestudien dauern aber sehr lange. Außerdem war lange gar kein Geld für die Forschung da. Für große Pharmafirmen ist wegen der fehlenden Studienlage dazu das Risiko noch sehr groß, auf das falsche Medikament zu setzen.
Sehen Sie einen Fortschritt?
Auf jeden Fall! Auf der letzten internationalen ME/CFS-Konferenz im Mai dieses Jahres in Berlin wurden erste Ergebnisse von Medikamenten-Studien vorgestellt. Da kam Aufbruchsstimmung und Hoffnung im Auditorium auf, das fand ich sehr schön. Das Programm der nächsten internationalen Tagung ist gerade raus. Da werden die Ergebnisse einer ganzen Reihe von Medikamenten-Studien vorgestellt. Es tut sich was und ich bin guter Dinge, dass wir schon im nächsten Jahr mehr über medikamentöse Ansätze wissen und auf Basis der Studienergebnisse dann Off-Label-Medikamente auf verbesserter Datenlage einsetzen können, und ein paar Schritte dem langfristigen Ziel einer Heilung von ME/CFS näherkommen.

