Kinderarzt und Biologe erklärenWarum gerade gebildete Menschen oft Impfkritiker sind

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Das eigene Kind impfen und damit spritzen zu lassen, fällt vielen Eltern schwer (Symbolbild).

  • In Deutschland hat die Impfbereitschaft in den letzten Jahren abgenommen. Manche Eltern sind skeptisch, ob sie ihr Kind impfen lassen sollen.
  • Gegen diese Verunsicherung haben Dr. Thomas Schmitz und Sven Siebert ein Buch geschrieben, in dem sie alle unwissenschaftlichen Mythen aus der Welt schaffen.
  • Im Interview erklären der Kinderarzt und der Biologe, was Eltern übers Impfen wissen sollten und warum gerade gebildete Eltern sich so schwer tun mit dem Thema.

Berlin/Köln – Die Vorstellung den eigenen kleinen Säugling das erste Mal mit einer Nadel stechen zu lassen, kostet viele Eltern große Überwindung. Einige fragen sich, ob es überhaupt sein muss, sein Kind zu impfen. Andere fürchten, dass es ihrem Nachwuchs schaden könnte. 

Das Thema Impfen ist längst zu einer emotional aufgeheizten Debatte geworden. So scheint es, dass immer mehr Menschen Impfungen verteufeln – das hängt aber nicht mit mangelnder Bildung zusammen, auch viele gebildete Menschen zählen zu Impfgegnern. 

Viele Mediziner und Experten sehen die Entwicklung kritisch. Laut der Weltgesundheitsorganisation steigen die Masern-Fallzahlen in Europa sprunghaft an. Im ersten halben Jahr 2019 wurden rund 90.000 Fälle registriert. Das seien bereits mehr als im gesamten Jahr 2018.

Der Kinderarzt Dr. Thomas Schmitz und der Biologe Sven Siebert möchten mit Fakten aufklären und unwissenschaftliche Mythen aus der Welt schaffen und haben ein Buch zum Thema geschrieben: „Klartext Impfen“. Im Gespräch erklären sie die wichtigsten Punkte:

Wie funktioniert eine Impfung?

Thomas Schmitz: Impfen ist ein Training fürs Immunsystem. Der Impfstoff bringt den Körper dazu, Antikörper gegen einen Krankheitserreger zu produzieren. Vor allem führt er dazu, dass sich das Immunsystem die Eigenschaften eines Bakteriums oder eines Virus „merkt“ und sich bei einem ernsten Angriff, einer echten Infektion, schnell wehren kann.

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Thomas Schmitz und Sven Siebert (rechts) klären über Impfen auf. 

Beim Impfen verwendet man abgeschwächte oder abgetötete Erreger – manchmal auch nur Teile davon. Das Immunsystem reagiert darauf. Der entscheidende Vorteil: Die Krankheit selbst kommt nicht zum Ausbruch. Es kann nach einer Impfung allenfalls zu einem leichten Krankheitsgefühl und mildem Fieber kommen. Das ist aber alles nur Training.

Woher kommt die Angst und Skepsis vor dem Impfen? Auch bei gebildeten Menschen.

Sven Siebert: Vielen Menschen ist die Gefährdung durch Infektionskrankheiten nicht mehr bewusst, weil sie mit diesen Krankheiten nie Berührung gekommen sind. Unter Umständen auch ihre Eltern nicht. Zum Beispiel Diphtherie – da fragen sich Menschen, warum sie ihr Kind gegen eine Krankheit impfen müssen, von der sie noch nie gehört haben. Tausende Kinder sind früher Jahr für Jahr daran gestorben. Und die Krankheit würde schnell zurückkehren, wenn wir mit dem Impfen dagegen aufhören. Paradox ist: Die Krankheiten sind uns so fremd geworden, eben weil das Impfen so erfolgreich ist. 

Gerade gebildete Menschen haben häufig den Anspruch, wichtige gesundheitliche oder pädagogische Entscheidungen für sich und ihre Kinder bewusst und eigenständig zu treffen. Wir wollen uns nichts vom Staat, einem Lehrer oder einem Arzt vorschreiben lassen. Das ist an sich natürlich eine gute Haltung.

Die Suche nach Antworten führt einen dann aber schnell zu ominösen Seiten im Internet oder zu impfkritischer Literatur. Dort stehen lauter Warnungen: Impfen verursache in Wahrheit Krankheiten oder führe zur Zunahme von Allergien. Das sind alles falsche und widerlegte Behauptungen, aber sie führen zu Unsicherheiten. Manchmal wird die Impfentscheidung dann auf die lange Bank geschoben oder die Menschen werden zu überzeugten Impfgegnern. Damit Menschen sich nicht nur bei staatlichen Stellen oder auf obskuren Seiten informieren können, haben wir dieses Buch geschrieben.

Schmitz: Meiner Erfahrung nach entscheiden sich die meisten Eltern für eine Impfung, wenn man ihnen erklärt, welche Krankheiten es zu vermeiden gilt. Eltern wollen ihr Kind ja vor Krankheiten und deren möglichen Folgeschäden bis hin zu lebensbedrohlichen Auswirkungen schützen. Dass viele ungeimpfte Kinder nicht erkranken, liegt daran, dass die meisten Menschen um sie herum geimpft sind. Die Ungeimpften werden von den Geimpften geschützt, weil die die Krankheitserreger nicht übertragen. Das Stichwort des Trittbrettfahrers passt da ganz gut. Aber wenn zu viele Menschen sich nicht impfen lassen, haut das nicht mehr hin.

Also gefährden Nicht-Impfer andere Menschen.

Schmitz: Es gibt Menschen, die nicht oder noch nicht mit den Lebendimpfstoffen geimpft werden dürfen – das sind alle Säuglinge unter elf Monaten. Sie haben das schwächste Immunsystem, es ist noch nicht ganz in der Lage, eine solche Lebendimpfung zu verarbeiten. Man ahnt: Wenn so ein Immunsystem mit den echten, aggressiven Wildtypen von Masern-, Mumps-, Rötelnvirus in Kontakt kommt, ist es hoch gefährdet. Auch in Deutschland gibt es vereinzelt Todesfälle bei Kleinkindern und Säuglingen durch Masern. Das zeigt auf sehr tragische Weise, was man anderen Menschen antut, wenn man meint, man muss selber nicht impfen.

Siebert: Es kommt noch die Gruppe der Menschen hinzu, die immungeschwächt sind wie zum Beispiel HIV-Positive, oder Menschen, die ein Organ transplantiert bekommen haben. Auch sie werden durch die anderen Menschen, die geimpft sind, geschützt. Wer sich also die Freiheit herausnimmt, sein Kind nicht zu impfen, der schränkt damit die Freiheit derer ein, die nicht geimpft werden können. Wenn ich mit einem noch ungeimpften Säugling in ein Kaufhaus gehe und dort ungeimpfte Menschen vermute, bewege ich mich nicht so frei und unbefangen, als wenn alle geimpft wären.

In Deutschland, der Schweiz und Österreich gibt es unterschiedliche Impfempfehlungen. Woran sollte ich mich halten?

Siebert: Jedes Land betrachtet für sich, welchen Krankheits- und Infektionsdruck es gibt. Es gibt in anderen Ländern auch andere Erregerstämme als bei uns - beispielsweise bei Meningokokken in Großbritannien. In diesem Fall wird auch ein anderer Impfstoff benötigt. Wenn man aber die klassischen Impfungen betrachtet, dann sind die Übereinstimmungen unter den drei Ländern bei 100 Prozent. Da sind sich alle einig: Diphtherie, Tetanus, Polio, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ b und Hepatitis B werden in einer Sechsfachimpfung verabreicht, Masern, Mumps, Röteln und Windpocken als Vierfachinjektion – alles in den ersten beiden Lebensjahren. Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten muss auch bei Erwachsenen alle zehn Jahre aufgefrischt werden.

Stimmt es, dass man besser immunisiert ist, wenn man die Krankheit durchsteht, statt einer Impfung?

Siebert: Nein. Es ist ja gerade das Tolle am Impfen, dass man den Schutz bekommt, ohne die Krankheit durchleiden zu müssen! Man weiß heute, dass jemand, der zum Beispiel eine Masernerkrankung hatte, dadurch nicht besser vor Krankheiten geschützt ist, sondern im Gegenteil anfälliger wird. Und die Beobachtung, das „Durchstehen“ einer Krankheit sei gut für die Persönlichkeitsbildung, beruht auf einem Irrglauben.

Der Eindruck, dass ein Kind, das lange durch eine Krankheit im Bett liegen musste, einen Entwicklungsschub erlebt, ist eine falsche Interpretation. Das Kind hat einen höheren Wissensdrang und Energie, weil es während der Krankheit isoliert war und sich schrecklich gelangweilt hat.

Schmitz: Die Menschen wissen erfreulicherweise oft nicht, was es bedeutet, durch eine Infektion richtig schwer krank zu sein. Aufgrund von Masern eine Lungen- oder Hirnhautentzündung zu bekommen oder durch Mumps eine Hodenentzündung, die erst fürchterliche Schmerzen und danach Unfruchtbarkeit verursacht, das sind ernste Folgen, die möchte niemand haben – vor allem nicht für sein Kind.

Gibt es Impfschäden?

Schmitz: Es gibt jedes Jahr in Deutschland einige Fälle, bei denen eine Schädigung oder Erkrankung als Impfkomplikation anerkannt wurde. Dem stehen zig Millionen Impfungen ohne nennenswerte Nebenwirkungen gegenüber – und natürlich eine sehr große Zahl vermiedener Erkrankungen.

Man muss wissen, dass auch bei diesen anerkannten Fällen in der Regel nicht bewiesen wurde, dass eine Schädigung tatsächlich durch eine Impfung verursacht wurde. Das ist oft gar nicht möglich. Es reicht für eine Anerkennung, dass ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden konnte. Im Entschädigungsrecht gilt der Grundsatz: Im Zweifel für den Patienten.

Siebert: Der zeitliche Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten einer Erkrankung führt immer wieder zu der Annahme, es bestehe ein ursächlicher Zusammenhang. Beispielsweise wird Autismus typischerweise bei Kindern diagnostiziert, wenn diese zwischen ein und zwei Jahren alt sind. Und das ist genau die Zeit, in der die Kinder auch gegen Masern geimpft werden. Trotzdem hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.

Inzwischen weiß man, dass Autismus bereits im Fötus noch während der Schwangerschaft entsteht – also lange vor der ersten Impfung. Es ist ein rein zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus-Diagnose, kein ursächlicher.

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Könnten manche Krankheiten in Europa durch eine bessere Impfquote schon längst ausgerottet sein?

Schmitz: Masern könnte man tatsächlich ausrotten, weil das Virus nur von Mensch zu Mensch weitergegeben wird und sich nicht irgendwo verstecken kann. Wenn alle geimpft wären, würden die Masern auf immer verschwinden. Bei den Pocken ist das Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gelungen. Und bei Polio, der Kinderlähmung, ist es hoffentlich bald so weit.

Die USA waren sogar kurz davor, die Masern wenigstens in ihrem Land verschwinden zu lassen, aber in den 80er und 90er Jahren gab es immer wieder Einschleppungen aus der Karibik und auch aus Deutschland. Durch die wachsende Impfzurückhaltung in den USA gibt es dort nun wieder dauernd lokale Epidemien. 

Könnten Krankheiten wie Polio nach Deutschland zurückkommen, wenn sich immer weniger Menschen impfen?

Siebert: Polio war wirklich eine Geißel der Menschheit. In den 50er Jahren gab es weltweit jedes Jahr Zehntausende von Fällen – Kinder sind daran gestorben oder lebenslang behindert geblieben. Es war eine riesige Erleichterung, als Mitte der 50er Jahre ein wirksamer Impfstoff gefunden wurde.

Polio gibt es heute praktisch nur noch in Pakistan und Afghanistan. Würde man aber weltweit aufhören zu impfen oder die Impfquoten sehr absenken, könnte sich die Krankheit relativ schnell wieder ausbreiten - gerade in einer Welt, in der sehr viele Menschen sehr große Strecken reisen. Polio ist eine hochansteckende Krankheit.

Zum Weiterlesen:  Dr. Thomas Schmitz, Sven Siebert: „Klartext Impfen. Ein Aufklärungsbuch zum Schutz unserer Gesundheit“, Harper Collins, ISBN: 978-3-95967-338-9, 15 Euro. 

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