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Neue TherapieKrebspatient fährt mit dem Rad 4000 Kilometer von Rösrath bis ans Polarmeer

6 min
Angekommen am Polarmeer: Jörg Malsam aus Rösrath im norwegischen Grense Jakobselv am Ende seiner Radtour.

Angekommen am Polarmeer: Jörg Malsam aus Rösrath im norwegischen Grense Jakobselv am Ende seiner Radtour. 

Der medizinische Fortschritt war schneller als der Tod: Dank einer Car-T-Zelltherapie ist Jörg Malsam aktuell krebsfrei.

Im letzten Sonnenlicht des Tages steht Jörg Malsam im Polarmeer, die Füße nackt, die Arme samt Gravelbike in Richtung Himmel gereckt. Knapp 4000 Kilometer ist er von Rösrath nach Grense Jakobselv geradelt, an den nordöstlichsten Punkt Norwegens, direkt an der russischen Grenze. 46 Tage auf dem Fahrrad hat er gebraucht, um an diesem Augustabend für das Foto zu posieren. Die eigentliche Reise hierher war aber sehr viel länger. Und so viel beschwerlicher, als es den Anschein hat. Wäre der medizinische Fortschritt nicht schneller gewesen als der Tod – sie wäre wohl ganz anders ausgegangen für den 61 Jahre alten Krebspatienten.

Die Füße im Wasser, das Herz voller Glück: 4000 Kilometer ist Krebspatient Jörg Malsam bis ans Polarmeer geradelt.

Die Füße im Wasser, das Herz voller Glück: 4000 Kilometer ist Krebspatient Jörg Malsam bis ans Polarmeer geradelt.

Im Sommer 2023 musste Malsam fürchten, Weihnachten desselben Jahres nicht mehr zu erleben. Und da war er schon zwanzig Jahre auf der Sonnenseite der Statistik gesurft. Bereits 2003 war bei ihm ein Mantelzell-Lymphom festgestellt worden, eine seltene Art von Lymphdrüsenkrebs, etwa zwei von 100.000 Menschen in Deutschland erkranken jährlich daran. Die Ärzte eröffneten Malsam, dass die Hälfte der Patienten mit dieser Diagnose innerhalb von fünf Jahren sterbe.

Malsam war damals 39 Jahre alt, Vater einer zwei Jahre alten Tochter, er hatte mit seiner Frau gerade den Bau eines Hauses im Rösrather Ortsteil Hoffnungsthal geplant. Ein Jahr nach der Diagnose brachte Malsams Frau Olga, er nennt sie liebevoll „meine Kampfgefährtin“, das zweite gemeinsame Kind zur Welt, einen Sohn. „Wir wollten der Krankheit zeigen, dass wir an eine Zukunft für uns glauben“, sagt Malsam.

Er wartete vier Jahre bis zur ersten Chemotherapie. Sein Krebs sei damals langsam gewachsen, erzählt er. Es gab Ärzte, die ihm rieten, unbedingt sofort anzufangen. Andere erklärten, die Wirksamkeit der Therapie sei dieselbe, egal ob jetzt oder später. „Ich habe gepokert“, sagt Malsam. Er wusste, dass ihm nur blieb, dem Tod so viele Jahre wie möglich abzutrotzen. Irgendwann würde er am Ende der möglichen Behandlungsmethoden angekommen sein, der Krebs würde siegen. Die Frage war nur: wann?

Car-T-Zellen haben die Behandlung einiger Krebsarten revolutioniert, jetzt darf auch die Uniklinik Köln sie herstellen

Heute will Malsam glauben, dass dieses Zögern zu Beginn ihm die entscheidenden Jahre gebracht hat, um den Durchbruch der sogenannten Car-T-Zelltherapie zu erleben, das steht für Chimäre Antigen Rezeptor-T-Zelltherapie. Es ist eine neue, auf Gentechnik basierende Krebstherapie, mit der erstaunliche Erfolge erzielt werden. 2018 wurde sie in Europa erstmals für die Behandlung bestimmter Lymphome und Myelome zugelassen. Die Uniklinik Köln ist eines von deutschlandweit 25 Zentren, an denen die sechs aktuell zugelassenen Car-T-Zelltherapien durchgeführt werden. Hergestellt werden die Car-T-Zellen in Speziallaboren in den USA und Europa. Seit Anfang des Jahres hat allerdings auch die Uniklinik Köln eine Erlaubnis, in besonderen Fällen, wenn es keine zugelassene Car-T-Zelltherapie gibt, selbst diese Zellen herzustellen und eine Einzelfallbehandlung durchzuführen.  

Bei dem Verfahren werden körpereigene Immunzellen – sogenannte T-Zellen – aus dem Blut der erkrankten Person entnommen und anschließend in einem Speziallabor gentechnisch verändert. Diese veränderten, nun als Car-T-Zellen bezeichneten Immunzellen, werden dem Patienten zurückgegeben. Durch die gentechnische Veränderung sind sie in der Lage, bösartige Krebszellen zu erkennen und abzutöten. Und anders als eine Chemotherapie kann die Car-T-Zelltherapie eine komplette und dauerhafte Krankheitsrückbildung, genannt Remission, bewirken. Das ist die eigentliche Sensation dieser Therapie: Patienten, die bisher als unheilbar krank galten, dürfen dank ihr auf eine Heilung hoffen. Allerdings müssen Betroffene erst einige andere Therapien durchgemacht haben, bevor sie für die Methode mit den Car-T-Zellen infrage kommen. Es gibt genaue Richtlinien, in welchem Stadium einer Krebserkrankung welche Therapie das Mittel der Wahl ist – das hat viel mit einer Risiko-Nutzen-Abwägung zu tun.

Jörg Malsam ist ehrenamtlich als Basketballcoach tätig.

Jörg Malsam ist ehrenamtlich als Basketballcoach tätig.

Jörg Malsam hatte nach seiner ersten Chemotherapie 2007 neun Jahre Ruhe vor dem Krebs. Gesund habe er sich allerdings nie gefühlt, sagt er: „Ich wusste ja, dass die Krankheit nur palliativ behandelt werden konnte.“ 2016 und 2019 mussten ihm größere Knoten operativ entfernt werden. 2020 war wieder sein ganzer Körper befallen und Malsam erhielt eine zweite Chemotherapie. Nur ein Jahr später war der Krebs zurück und Malsam bekam Ibrutinib, ein Medikament, das erst dann eingesetzt wird, wenn andere Therapien nicht mehr helfen. „Damals zeichnete sich die Car-T-Zelltherapie aber schon langsam als neue Möglichkeit am Horizont ab“, sagt Malsam: „Zum ersten Mal gab es etwas, das einem möglicherweise nicht nur ein begrenztes Zeitfenster geben konnte.“ 

Peter Borchmann ist an der Uniklinik Köln der Spezialist für Lymphome. Er spricht nicht leichtfertig von Heilung, das liegt wohl in der Natur seines Berufs. Beim Mantelzell-Lymphom sei der Zeithorizont, den Patienten noch zu leben hatten, immer „sehr überschaubar“ gewesen. „Das hat sich mit der Car-T-Zelltherapie drastisch geändert, die Hoffnung auf Heilung ist jetzt begründet“, sagt Borchmann. Gewissheit gibt es nach einer Behandlung allerdings nicht so schnell. Nach drei Jahren ohne Rückfall könne man anfangen, über eine mögliche Heilung nachzudenken. Wer fünf Jahre krebsfrei geblieben ist, gelte als geheilt. 

Ich hatte ja sowieso keine Wahl. Ich konnte das machen oder sterben.
Jörg Malsam über die Risiken und Nebenwirkungen der Car-T-Zelltherapie

Jörg Malsam bekam seine Car-T-Zelltherapie vor zwei Jahren. Seitdem hat er nicht mehr nach einer Prognose für sich selbst gefragt. Vor der Behandlung habe er einen Packen Papier zum Unterschreiben bekommen, „20 Seiten, auf denen stand, was alles schiefgehen konnte“, erzählt er. Malsam hat nichts davon gelesen, er hat einfach unterschrieben. „Ich hatte ja sowieso keine Wahl. Ich konnte das machen oder sterben.“ 2023 ging es ihm richtig schlecht, er hatte starke Tumorschmerzen, kam ohne Schmerzmittel nicht mehr durch die Nächte. „Ich habe täglich gespürt, wie die Tumore größer wurden, das war ein ganz anderes Kino als 2003.“

An diesem Tag im September sieht Malsam fit und frisch aus, die 46 Tage auf dem Rad haben seinen Teint gegerbt. Seine Fahrt ans Polarmeer hat er in die Sommerferien gelegt, um „das Team“ nicht zu lange allein zu lassen. Als Einzelhandelskaufmann in einem Outdoor-Geschäft arbeitet er seit seiner ersten Chemotherapie nicht mehr. Er war seitdem Vollzeit-Hausmann und ehrenamtlich in der Schule seiner Kinder engagierte. Bis er über seinen Sohn mit dem Basketball in Kontakt kam und bei den Bergischen Löwen Nachwuchs-Coach wurde. Jetzt betreut er mit viel Herzblut die erste Mannschaft der Unter-Zwölfjährigen. Über eine Altersvorsorge habe er in den vergangenen 20 Jahren ja nicht nachdenken müssen, sagt Malsam. Glücklicherweise hat seine „Kampfgefährtin“ Olga als Wissenschaftlerin einen Job, der die Familie ernährt.  

Über seine Wochen auf dem Rad sagt der 61-Jährige: „Das war besser als alle Psychotherapien, die ich jemals gemacht habe.“ Denn natürlich habe seine Krebserkrankung „seelische Kollateralschäden“ hinterlassen. Aber irgendwann in den endlosen schwedischen Wäldern seien seine Gedanken zur Ruhe gekommen, die innere Zwiesprache sei einer „kompletten Stille“ gewichen. „Ich kann wieder echte Glücksgefühle empfinden.“ Malsam trinkt Espresso, während er das erzählt und sagt: „Ich mag das Kondensat von Dingen.“ Die Essenz seiner Radtour hat er als Haiku formuliert, als kurzes Gedicht in japanischem Stil, das er jetzt vorträgt:

Wälder ziehen vorbei

Stille weht Gedanken hinfort

Seele ruht