Neuropsychiater erklärtWas im Gehirn geschieht, wenn Menschen an Gott glauben

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  • Boris Cyrulnik ist Neurologe und Psychiater und vor allem bekannt für seine Arbeiten zur Resilienz.
  • Eine Begegnung mit Kindersoldaten im Kongo veranlasste den Holocaust-Überlebenden, sich mit Religion zu befassen.
  • Was stellt Spiritualität mit unserem Gehirn an?

Herr Cyrulnik, Sie sind Kindersoldaten aus dem Kongo begegnet, was Sie dazu veranlasst hat, sich als Neurologe und Psychiater mit Religion zu befassen. Was genau wollten Sie herausfinden?

Ich war mit Unicef unterwegs im Kongo als ich jene Kindersoldaten traf. Sie fragten mich, warum sie nur in der Kirche glücklich sein können. Ich hatte damals keine Antwort darauf, weil Religion in meiner Ausbildung als Neurologe und Psychiater kein Thema gewesen war. Es heißt immer wieder, dass Religion die Widerstandskraft eines Menschen stärken kann. Ja, aber ich wollte es beweisen, um es zu verstehen. Mein Buch handelt deswegen nicht in erster Linie von Religion, sondern von ihrer Wirkung auf die Seele. Warum brauchen Menschen Gott und was folgt daraus?

Welches Ergebnis Ihrer Untersuchung hat Sie am meisten überrascht?

Mich hat allein die schiere Anzahl der Gläubigen beeindruckt. Die meisten Menschen glauben an Gott, in welcher Form auch immer. An einen allmächtigen, einen wohlwollenden oder einen strafenden Gott. Es gibt tausende unterschiedliche Religionen auf der Welt. Der universelle Gott, an den die meisten Menschen glauben, wird ganz real in einem Gefühl der Erhebung spürbar. Je nach Individuum und Kultur nennt man das höhere Macht, Schutzengel oder der Gott, der uns der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt löst.

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Boris Cyrulnik , Jahrgang 1937, ist Neurologe und Psychiater  und vor allem bekannt für seine Arbeiten zur Resilienz. 

Sie halten Spiritualität für ein zutiefst menschliches Bedürfnis?

Ja, aber sie muss erlernt werden. Kein Mensch ist von Geburt an gläubig. Erst wenn er sprechen lernt, eine Ahnung von Tod und Zeit erhält, kann er auch an Gott glauben. Nur die Sprache ermöglicht ihm den Zugang zu einer Welt, die er nicht unmittelbar sinnlich erfahren kann. An Gott glauben heißt, sich eine Vorstellung von einer unsichtbaren Welt machen zu können.

Warum ist das denn für Menschen so wichtig?

Es ist vor allem eine Frage der Bindung. Eine feste Bindung gibt dem Menschen Sicherheit. Die meisten Kinder knüpfen eine feste Bindung zu ihrer Mutter. Um dieser Bindungsperson einen Gefallen zu tun, teilen sie auch gerne den Glauben an ihren Gott. Das ist wie ein Liebesbeweis und festigt die Bindung noch mehr. Das Kind kuschelt sich in ihre geistige Welt genauso wie in ihre Arme. Dieser Halt beruhigt, tröstet, macht stark und beflügelt. Er hilft auch gegen Angst.

Sie haben Gläubigen auch buchstäblich in den Kopf geguckt. Was haben Sie gesehen?

Der Glaube an Gott ist an der Regulierung der Emotionen beteiligt und das kann man im Hirn sehen. Nur ein Beispiel: Eine funktionelle Magnetresonanztomografie macht sichtbar, dass der anteriore cinguläre Cortex, der bei körperlichen Schmerzen Notsignale erzeugt, weniger alarmiert wird, wenn die Person mithilfe der Rituale ihrer Religion mit Gott in Beziehung tritt. Das heißt, allein die Vorstellung mildert letztlich die Wahrnehmung des Schmerzes.

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Der Glaube sorgt für das, was wir Resilienz nennen?

Viele wenden sich Gott zu, wenn sie Ängste und Zweifel haben oder auch wenn Sie einen schweren Verlust erleiden, wenn zum Beispiel eine ihnen nahestehende Person stirbt. Das Hirn eines traumatisierten Menschen ist erst einmal nicht mehr in der Lage Informationen zu verarbeiten, auch wenn es ein emotionales Trauma ist. Aber wenn der Mensch wieder Sicherheit erlangt, fängt das Hirn wieder an zu arbeiten. Dann kann man zum Beispiel bewusst nach Bildern, Worten und einer Erzählung suchen, mit denen die neuronalen Schaltkreise wieder verändert werden. Dann kann das Trauma mit neuen Erinnerungen verknüpft werden. Ich will sagen, dass der Glaube an Gott sich zweifellos positiv auf Körper und Psyche auswirkt. Dank seiner beruhigenden Wirkung können sich die neurobiologischen Prozesse und Gehirnfunktionen der Menschen nachweislich erholen.

Ist therapeutischer Glauben auch eine Trainingssache?

Sagen wir so: Wir sehen bei einem Gläubigen, dass der rechte und linke Präfrontallappen, die mit dem limbischen System verbunden sind, aufleuchten. Dieser Gehirnschaltkreis ist normalerweise aktiv, wenn jemand nach Erinnerungen sucht und sie mit Emotionen verknüpft. Das deutet darauf hin, dass manche Menschen im Laufe ihrer Erziehung ihr Gehirn darauf trainiert haben, in der Vergangenheit nach Begegnungen oder Erzählungen oder Situationen zu suchen, die starke Gefühle auslösen. Wenn es gute Erinnerungen sind, die dann im Zusammenhang mit der religiösen Erziehung stehen, können Gläubige nach Belieben darauf zurückgreifen – und sich besser fühlen.

Braucht es dazu Religion?

Nein. Wenn ein Mensch sich gut entwickelt, in einer sicheren Familie, einer friedlichen Gesellschaft und einer Kultur, die Begegnungen fördert, dann ist das Bedürfnis nach Religion nicht so ausgeprägt. Ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird durch kulturelle Begegnungen befriedigt, zum Beispiel durch Kunst, Sport, soziale Netzwerke und Freunde. Das genügt, um ein Gefühl der Vertrautheit zu schaffen, das Sicherheit vermittelt. Atheisten haben also unter bestimmten Bedingungen ein geringeres Bedürfnis nach einer Bindung zu einer höchsten Macht jenseits der Grundbedingungen menschlicher Existenz. Sie kommen ohne metaphysische Erzählung aus. Das Mysterium am Leben zu sein macht ihnen keine Angst. Vielleicht sind Gläubige ängstlicher und brauchen deshalb den Gottglauben.

Unterscheidet sich das Hirn eines Atheisten von dem eines Gläubigen?

Das kann man nicht pauschal sagen. Aber bei Atheisten haben wir in der Tat herausgefunden, dass der linke Frontallappen dominant und eher euphorisch ist. Ihr Bedürfnis nach einer spirituellen Abwehrreaktion ist geringer. Vielleicht liegt es eben daran, dass sie unter friedlichen Bedingungen aufgewachsen sind.

Atheisten sind zwar in der Minderheit, ihr Anteil aber wächst rasant, wie erklären Sie sich das?

Die wenigsten Gläubigen gibt es in Dänemark. Was heißt das? Ich kann nur vermuten, dass Menschen in einem gut organisierten Land keine Gottessehnsucht entwickeln. Das hat meiner Meinung nach mit Bildung, Wohlstand und Gerechtigkeit zu tun. Wenn diese Faktoren gegeben sind, haben die Menschen genügend Möglichkeiten, sich zu binden, Sicherheit und Sinn zu finden. Es gibt somit auch keine Gottessehnsucht, die sie an ihre Kinder weitergeben könnten. Aber ich denke, dass diese sozialen Voraussetzungen so schwer zu erreichen sind, dass man die Rückkehr Gottes schon vorhersagen kann. Denn auch die große Zahl der Gläubigen nimmt kontinuierlich zu und manche Religionen melden sich sehr lautstark zurück.

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Sie machen dafür in Ihrem Buch die Auflösungserscheinungen in liberalen Gesellschaften verantwortlich.

Ich war sehr überrascht, als ich in meinen Untersuchungen feststellte, dass viele Kinder und Jugendliche Gott wiederentdecken, obwohl ihre Eltern nicht an Gott glauben. Ich habe mich gefragt, woran das liegen kann. In liberalen Gesellschaften lösen sich Bindungen, geistige Offenheit kann auch Verlust von Orientierungsrahmen bedeuten. Menschen werden einsamer und bekommen Angst. Sie machen sich auf die Suche und finden mitunter in Religionen Halt. Das kann gut sein. Aber besorgniserregend wird es, wenn sich Religionsgemeinschaften von der übrigen Gesellschaft isolieren und Gläubige ihren Halt vielleicht sogar in der Unterwerfung finden. Das heißt, der enorme therapeutische Nutzen der Religion kann auch einen gefährlichen Effekt haben: Die Gruppe schottet sich ab, stellt sich selbst nicht mehr infrage, um seine Gewissheiten nicht ins Wanken zu bringen. Eine solche Entwicklung fragmentiert die Universalität der Spiritualität und gibt ihr Formen, die sich gegenseitig den Krieg erklären. Sie akzeptieren Andersgläubige und Nichtgläubige nicht mehr. Sie empfinden sie als Bedrohung.

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Sie halten die Demokratie aus diesem Grund für gefährdet?

Demokratie ist anstrengend, Diktatoren lassen einem keine Wahl. Sie sagen, was zu tun und zu lassen ist. Vielleicht sind so viele mit den Freiheiten der Demokratie überfordert, dass sie aus der Demokratie heraus Diktatoren wählen.

Dem geht Ihrer Meinung nach ein kulturelles Versagen voraus?

Religion ist nicht abgekoppelt von der Kultur. Kultur ist für die Erziehung in einer Gesellschaft mitverantwortlich. Sie braucht klar formulierte Regeln. Wir müssen den Kindern Halt bieten, sie bilden, zum kulturellen Austausch ermutigen und ihnen beibringen, dass es viele Möglichkeiten gibt, menschlich zu sein. Dazu kann es gehören, religiös zu sein. Und zwar im modernen Sinne. Eine moderne Religion bekennt sich zu einer Spiritualität, die bejaht, dass alle Religionen den Weg zu Gott eröffnen. Und dass es auf keinen Fall unmoralisch ist, Atheist zu sein. Außerdem kann eine moderne Religion Rituale relativieren, weil klar ist, dass sie sich je nach Kultur verändern.

Haben Ihre Nachforschung Sie persönlich beeinflusst?

Ich war nicht gläubig und bin es auch heute nicht. Aber ich habe entdeckt, dass viele Menschen Gott brauchen. Es ist notwendig, das zu akzeptieren. Es sei denn, religiöse Menschen wollen ihren Glauben anderen aufzwingen.

Wenn Sie in den Kongo zurückkehren, was werden Sie den Kindern sagen?

Ich werde Ihnen sagen, dass es für sie wichtig und richtig ist, an ihren Gott zu glauben. Dass sie aber akzeptieren müssen, dass es auch andere Religionen gibt. Ich werde ihnen auch sagen, dass sie auf keinen Fall einem Gott folgen sollen, der ihnen befiehlt, Andersgläubige zu töten. Denn dann sind sie wieder im Krieg.

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