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„Cringe Attack“Warum peinliche Situationen so lange im Gedächtnis bleiben

Lesezeit 4 Minuten
Frau versteckt ihr Gesicht in ihrem Pullover

Ob im Erdboden oder im Pullover versinken: Scham ist kein schönes, aber ein natürliches Gefühl.

Auch Jahre später treibt uns so manche peinliche Erinnerung noch die Röte ins Gesicht. Konstruktiv umgehen kann man mit Scham jedoch auch.

Seit Jahren hat man nicht mehr an die Situation gedacht. Doch wie aus dem Nichts ploppt die Erinnerung auf: an das Abendessen mit der Chefin, bei dem man plötzlich mit vollem Mund losprusten musste. Oder daran, als man im Yogakurs laut gepupst hat. Da steigt manchen noch nach Jahren die Schamesröte ins Gesicht. „Cringe Attack“ hat der britische Blogger und Youtuber Daniel Howell dieses Phänomen getauft. Wörtlich aus dem Englischen übersetzt heißt „cringe“ so viel wie „erschaudern“. Hierzulande wird das eingedeutschte Jugendwort des Jahres 2021 vor allem genutzt, um auszudrücken, dass man das Verhalten einer Person oder eine Situation peinlich findet.

„Man erinnert sich nicht einfach, sondern zeigt eine körperliche Reaktion“, erklärt Blogger Howell in einem seiner Videos. 6,5 Millionen Menschen haben es bisher gesehen, mehr als 23.500 einen Kommentar geschrieben. „Cringe Attacks“ scheinen viele aus ihrem Leben zu kennen.

Ein Platz im Langzeitgedächtnis

Dass uns immer wieder – scheinbar zufällig – unliebsame Erinnerungen in den Sinn kommen, liegt an der Art und Weise, wie das menschliche Gedächtnis arbeitet. Je umfassender sich ein Mensch mit einer Information beschäftigt und je mehr Bedeutung er ihr zuweist, desto wahrscheinlicher wird sie im Langzeitgedächtnis gespeichert. Ein als peinlich empfundenes Erlebnis geht mit starken Emotionen einher. Man durchlebt die Situation aufmerksam und denkt oft auch noch im Nachhinein darüber nach. All das sind Faktoren, die dazu führen, dass die Erinnerung an die Situation ins Langzeitgedächtnis gelangt.

Dort bleibt sie aber nicht isoliert. „Eine Grundfunktion von Gedächtnis ist es, ähnliche Erfahrungen zusammenzufassen, um Muster in der Interaktion mit der Umwelt aufzudecken“, schreibt Richard Gerrig in seinem Standardwerk „Psychologie“. Das Wissen und die Erlebnisse verknüpft das Gehirn fortlaufend miteinander.

Gewappnet für künftige Situationen

Wieder ins Bewusstsein gelangen kann die Erinnerung, wenn man eine sehr ähnliche Situation erlebt oder beinahe die gleiche Aufgabe ausführt wie in dem Moment, als das peinliche Erlebnis passiert ist. Solche sogenannten Hinweisreize müssen gar nicht so deutlich sein. Manchmal reicht ein kaum wahrnehmbarer Geruch, eine Melodie oder eine Gedankenkette, um frühere Erlebnisse innerlich Revue passieren lassen zu können.

Menschen erinnern sich nicht nur an Fakten, sondern auch an Emotionen. Das kann schön sein, wenn man sich gedanklich in den Sommerferien am Strand sonnt, obwohl jetzt gerade Schneematsch vor dem Fenster taut. Ploppt aber plötzlich eine peinliche Erinnerung auf, finden das die meisten Menschen unangenehm.

Doch warum speichert das Gedächtnis die peinlichen Momente überhaupt? Es wäre doch weitaus angenehmer, sie direkt wieder zu vergessen. „Eine Erinnerung, die bei uns Scham auslöst, kann ein Hinweis darauf sein, dass wir etwas getan haben, das andere als geschmacklos oder negativ empfinden könnten oder das gegen eine soziale Norm verstoßen hat“, schreibt der australische Psychologe David John Hallford in einem Aufsatz. Es sei wichtig, dass wir Scham und ähnliche Emotionen (immer wieder) fühlen, damit wir uns in Zukunft in ähnlichen Situationen anders verhalten – und weiterhin gut mit anderen Menschen auskommen.

Große Verletzlichkeit

Eng mit der Scham verknüpft ist das Gefühl der Verletzlichkeit. „Scham ist ganz einfach die Angst vor dem Getrenntsein“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Brené Brown in einem Video zum Thema Verletzlichkeit. Tatsächlich haben Forschende der Universität Mannheim herausgefunden, dass andere Menschen eine Person, die sich verletzlich zeigt, positiver bewerten als die Person sich selbst. Ähnlich ist es mit dem Erröten. Wessen Gesicht sich nach einer Peinlichkeit rot färbt, den beurteilen andere Menschen wohlwollender. Das ist ein Ergebnis eines Experiments von Forschenden der Universität Amsterdam.

Scham und das Erinnern an peinliche Momente sind also sehr nützlich. „Ohne Scham fehlt uns eine grundlegend wichtige Regulation für zwischenmenschliche Beziehungen“, sagt Sozialwissenschaftler Stephan Marks, der sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt. Es handele sich allerdings um ein „extrem schmerzhaftes Gefühl“. Daher neigten Menschen dazu, Scham verdrängen oder an andere abtreten zu wollen. „Sich so zu verhalten ist ein Beziehungskiller. Man manövriert sich selbst in die Einsamkeit hinein“, sagt der Experte.

Scham ist ein Gefühl mit großem Entwicklungspotenzial.
Stephan Marks, Sozialwissenschaftler

Scham könne man als Alarmsignal verstehen. „Wie ein Seismograph, der vor Erdbeben warnt, zeigt die Scham, dass unverzichtbare Grundbedürfnisse oder Grenzen verletzt worden sind – eigene oder die der anderen“, erklärt der Experte. Für ihn ist es „ein Gefühl mit großem Entwicklungspotenzial“. Denn Scham helfe dabei, Fehler zu erkennen und das eigene Verhalten in Zukunft zu ändern. Dann erlebe man positivere Erfahrungen. Um Scham zulassen und spüren zu können, sei es jedoch wichtig, dass das Gefühl seinen Raum bekommt. Nur dann könne man daraus lernen.

Marks gibt ein Beispiel für einen konstruktiven Umgang mit Scham: Ein junger Mann fällt durch die Abiturprüfung. Dafür schämt er sich. Dieses Gefühl nimmt er als Anstoß, viel zu lernen. Im folgenden Jahr schafft er ein sehr gutes Abitur. Er hat die Schamgefühle nicht sofort verdrängt, sondern daraus gelernt – und das Beste daraus gemacht. (rnd)