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„Zu viele Männer werden therapiert“Neue Strategie in der Vorsorge zu Prostatakrebs – Rektales Abtasten ist passé

Lesezeit 4 Minuten
Joe Biden ist von schräg unten fotografiert. Er schaut in die Ferne.

Der ehemalige US-Präsident Joe Biden ist an Prostatakrebs erkrankt. In Deutschland zählt die Krebsart mit fast 25 Prozent zu den häufigsten Krebserkrankungen bei Männern. Die Vorsorgeregelung wird nun aktualisiert.

Der prominente Prostatakrebsfall Joe Biden lenkt den Blick auf die Vorsorge. Die Leitlinien zu Prostatakrebs wird gerade aktualisiert. Wie die Vorsorge künftig abläuft und warum die Meinung der Patienten mehr denn je gefragt ist, erklärt Professor Axel Heidenreich von der Uniklinik Köln.

Herr Professor Heidenreich, gemäß den neuen Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des Prostatakarzinoms ist es mit dem rektalen Abtasten bald vorbei. Ist das eine gute Nachricht für die Männer?

Auf jeden Fall. Diese althergebrachte Untersuchung hat viele Männer schließlich davon abgehalten, zur Vorsorge zu gehen. Jetzt kann man sie in den allermeisten Fällen guten Gewissens weglassen.

Woher kommt der Sinneswandel?

Weil die Tastuntersuchung das, was man mit der Früherkennung erreichen will, nicht leisten kann. Das behandlungsbedürftige Karzinom im Frühstadium ist so klein, dass man es mit dem Finger nicht ertasten kann. Das haben wir schon länger vermutet. Nun gibt es aber mehrere klinische Studien, die belegen: Durch das alleinige Abtasten erkennt man das Frühkarzinom in 0,3 Prozent aller Fälle. Das bringt also nichts.

Gut, aber der weiter eingesetzte PSA-Test allein, der über ein prostata-spezifisches Antigen im Blut auf mögliche Krebserkrankungen schließen lässt, scheint auch nicht ausreichend zu taugen. Wo genau liegt nun die Verbesserung?

Die neuen Leitlinien setzen voraus, dass der PSA-Test intelligent eingesetzt wird. Wir kommen also weg davon, dass wir alle Männer zur Biopsie schicken, wenn ein gewisser PSA-Schwellenwert überschritten ist. Wir arbeiten nun vielmehr mit einem altersabhängigen Wert. Kommt beispielsweise ein Mann unter 50 Jahren mit einem PSA-Wert unter 1.0, dann wissen wir: Das Risiko, dass dieser Mann ein behandlungsbedürftiges Karzinom entwickelt, ist minimal. Dieser Mann kann deshalb lediglich alle vier Jahre zur Früherkennung kommen und die Sache hat sich erledigt.

Ab dem – immer noch unauffälligen – Wert von 2 empfehlen wir eine Vorsorge alle ein bis zwei Jahre. Auch dann machen wir aber noch keine Biopsie, sondern überprüfen das mögliche Vorliegen eines therapiebedürftigen Prostatakarzinoms mit einer besonderen Form des MRT, dem multiparametrischen Kernspintomogramm der Prostata. Damit lässt sich durch ein bildgebendes Verfahren relativ exakt sagen, ob ein Prostatakarzinom vorliegen könnte. Erst bei hohem Risiko kommt die Biopsie ins Spiel.

„Die Biopsie ist in den meisten Fällen eine unnötige invasive Untersuchungsmethode“

Was wäre so schlimm, wenn man alle Männer mit erhöhten PSA gleich zur Biopsie schicken würde?

Weil die Biopsie in den meisten Fällen eine unnötige invasive Untersuchungsmethode ist, die letztendlich nur Nebenwirkungen induzieren kann. In anderen Fällen verursacht sie unnötigen Alarm. Manche frühen Karzinome, die langsam wachsen und kein Metastasierungsrisiko mit sich bringen, will ich als Urologe gar nicht erkennen. Sie sind erstmal ungefährlich, durch eine Operation oder eine Bestrahlung würden wir die Heilungschancen zudem nicht verbessern, sondern im Wesentlichen Nebenwirkungen bewirken. Die Diagnose eines Prostatakarzinoms mit niedrigem Risiko würde den Mann aber in Stress versetzen können und zu unnötigen therapeutischen Maßnahmen führen.

„Wir setzen künftig auf ‚Active Surveillance‘ und greifen nur ein, wenn sich ein Wert ungünstig verändert“

Stichwort Übertherapie. Werden künftig also auch weniger Männer an der Prostata operiert werden?

Wir müssen auf jeden Fall dahin kommen, dass wir nur diejenigen behandeln, die ein hohes Risiko für ein aggressives Karzinom haben. Derzeit werden zu viele Männer therapiert, das verursacht in vielen Fällen nur Nebenwirkungen wie Inkontinenz oder Impotenz, bringt aber keinen onkologischen Benefit. Wir setzen künftig auf „Active Surveillance“ bei den Männern mit einem günstig differenzierten Prostatakarzinom ohne Risikofaktoren, wir kontrollieren also regelmäßig durch PSA, MRT und gegebenenfalls Biopsie und greifen nur ein, wenn sich ein Wert ungünstig verändert.

Es gibt Studien, die belegen, dass die Tumorsterberate nach 15 Jahren bei denjenigen, die wir erstmal überwachen, nicht höher ist als bei denjenigen, die wir sofort operieren oder bestrahlen.

Herr Heidenreich ist im Porträt zu sehen, er trägt Brille, hat kurzes rotes Haar und lächelt in die Kamera.

Professor Axel Heidenreich ist Leiter der Urologie der Uniklinik Köln.

Schon jetzt muss man lange auf einen MRT-Termin warten. Wenn jetzt alle Männer zur Prostata-Vorsorge in den Kernspin müssen, bricht dann das System nicht komplett zusammen?

Wir wollen auch das MRT nicht unreflektiert einsetzen. Vorher prüfen wir beispielsweise auch noch per Ultraschall das Volumen der Prostata, wir ermitteln den PSA-Quotienten und berücksichtigen den PSA-Verlauf über die Jahre. Finden wir keine pathologischen Auffälligkeiten, können wir uns das MRT sparen. Außerdem können wir auch noch auf den Mikro-Ultraschall ausweichen, der hat sogar eine noch höhere Auflösung als das MRT.

Ist das alles Kassenleistung?

Der Mikro-Ultraschall noch nicht überall. An der Kölner Uniklinik bieten wir ihn kostenlos an, um das Verfahren zu etablieren. Auch das MRT ist bislang keine Kassenleistung. Aber sobald die Leitlinien im Juni gelten, müssen sich die Kassen dazu verhalten und die Kosten übernehmen.

Können auch Genuntersuchungen weiterhelfen?

Nicht flächendeckend, dazu ist die Aussagekraft zu gering. Aber falls Prostata-, Eierstock- oder Brustkrebs in der Familie gehäuft vorkommen, empfehlen wir eine Gendiagnostik. Denn dann ist das Risiko hoch, dass man auch erkrankt.

Sie sprechen viel von Empfehlungen und Individualisierung. Wird der Patient denn künftig mehr mitreden, wenn es um seine Prostatagesundheit geht.

Absolut. Wir wissen, dass es zu den meisten Diagnosen mindestens zwei oder drei Therapiealternativen gibt, die ähnliche Ergebnisse versprechen. Also muss der Patient entscheiden, wo seine Prioritäten liegen. Es gibt diejenigen, die schon das Wort Karzinom stark belastet, sie wollen einfach krebsfrei sein und operiert oder bestrahlt werden, egal wie groß die Nebenwirkungen sind.

Andere sagen: Das Wichtigste ist meine Potenz und Kontinenz, dann wählen wir eher die überwachende oder eine funktionserhaltende Therapieform. Entscheidend für eine gute Beratung seitens der Ärzte ist in jedem Fall, dass die eigenen, in der jeweiligen Klinik erreichten Zahlen der Heilung, der Kontinenz und der Potenz bekannt sind. Es bringt nichts, wenn ich Patienten berate und dabei Zahlen aus New York heranziehe.


Die Kosten für eine jährliche Prostatakrebs-Früherkennungsuntersuchung tragen die gesetzlichen Krankenkassen ab dem 45. Lebensjahr.

Der PSA-Test ist ein Bluttest, der die Konzentration eines bestimmten Eiweißes, das in der Prostata gebildet wird, anzeigt. Der Test ist umstritten, denn er unterscheidet nicht zuverlässig zwischen harmlosen und bösartigen Prostatatumoren. Er ist keine standardisierte Leistung, sondern eine sogenannte Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL), die zwischen 25 und 40 Euro kostet. Sie wird von den Kassen in der Regel nicht übernommen. Besteht ein konkreter Krebsverdacht, etwa wenn bei der Tastuntersuchung Veränderungen erkannt werden, wird der PSA-Test zur Kassenleistung.