Psychologin klärt aufIch habe ständig Angst, etwas zu verpassen – was kann ich tun?

Lesezeit 6 Minuten
GettyImages-1057217954

Decke über den Kopf ziehen oder sich nach draußen quälen?

  • Das Phänomen „Fomo”, die Angst etwas zu verpassen, ist in Zeiten vielfältiger Möglichkeiten sehr ausgeprägt – und wird durch soziale Netzwerke extrem verstärkt.
  • Damaris Sander ist in ihrer Praxis immer wieder mit dem Phänomen konfrontiert.
  • Die Psychologin erklärt, was in vielen Fällen der Grund für Fomo ist - und wie man das für sich nutzen kann.

Köln – Frau Sander, Fear of missing out (Fomo) bedeutet, dass man ständig Angst hat, etwas zu verpassen. Betrifft das vor allem Menschen, die sich nicht entscheiden können?

Damaris Sander: Nein. Es betrifft Menschen, die auf der Suche sind, denn für Fomo braucht es Offenheit. Ich muss mich für vieles interessieren und Eindrücke aufnehmen wollen. Umgedreht bedeutet das, wenn man nach den Gründen sucht, warum eine Person keine Fomo hat, würde ich sagen: Eine Person, die sehr gefestigt ist, die eine klare Identität hat, die weiß, wo sie im Leben steht – die ist weniger anfällig.

Fear of missing out ist doch eigentlich nichts Neues. Sander: Das Phänomen an sich ist alt. Die Angst etwas zu verpassen - das gab es schon immer. Es ist aber stärker geworden in den letzten Jahren. Die Möglichkeiten sind explodiert. Das heißt, es gibt immer mehr die Anforderung an uns, in dieser Fülle von Möglichkeiten Entscheidungen zu treffen und damit wächst natürlich auch immer das Potenzial, dass bei jeder Entscheidung gezweifelt wird.

Neuer Inhalt

Damaris Sander ist Psychologin.

Fomo hängt sehr stark mit Social Media zusammen. Hilft es, sich von allen sozialen Netzwerken abzumelden? Sander: Fomo ist ein psychologisches Phänomen. Wir erleben das als eine Angst. Deshalb ist es wichtig, dass wir es auf einer inneren Ebene lösen. Und deswegen ist es auch schwierig zu sagen, dass man das oder das lassen soll. Man soll erstmal gar nichts lassen, sondern in sich gehen und sich mit sich selbst beschäftigen.

Worin besteht die größte Gefahr? Sander: In eine Art „Binge Acting“ zu kommen. Also so ähnlich wie „Binge Eating“, nur dass ich kein Essen in mich reinstopfe, sondern ständig Erlebnisse konsumiere. Man reagiert auf alles, abonniert alle möglichen Kanäle und kann sich leicht darin verlieren. Deswegen ist es erstmal nur wichtig, die Unruhe ernst zu nehmen. Wegmeditieren wird nicht helfen. Denn die Unruhe will mir etwas sagen. Und meine Aufgabe besteht dann darin, diesen Code zu entschlüsseln. Ist es ein Bedürfnis nach mehr Kontakt und Nähe? Brauche ich mehr Anerkennung? Das sind wichtige Fragen. Und die würden verloren gehen, wenn man der Fomo einfach nachgibt.

Können Fomo-Erkrankte überhaupt noch echte Emotionen erleben? Sander: Ich würde nicht von Fomo-Erkrankten, sondern von Fomo-Betroffenen reden, denn Fomo ist keine Krankheit im klinischen Sinne. Aber das Erleben von Emotionen ist in der Tat ein Problem. Denn das ist genau die Ambivalenz: Man will alles erleben, am Ende bekommt man aber nichts so richtig. Das könnte auch auf ein Bindungsproblem hindeuten. Dabei muss es nicht mal um Beziehungen gehen. Es reicht schon der Klassiker: Auf welche Party gehe ich heute Abend? 

Haben Sie schon Fomo-Patienten psychologisch behandelt? Sander: Das Phänomen taucht immer wieder in meiner Praxis auf. Die Leute kommen zwar nicht direkt wegen Fomo, aber es ist ein Symptom bei anderen Problemen.

Nämlich? Sander: Das spielt häufig dann eine Rolle, wenn es in der Therapie um Selbstwertprobleme geht. Das sind Menschen, die sich fragen, ob sie genügen. Bin ich genug wert? Habe ich genug erreicht? Und das in einem Ausmaß, dass es ihre Gesundheit und Lebensqualität beeinträchtigt. Die sagen zwar nicht, dass sie wegen Fomo kommen. Die Patienten sagen: Ich komme, weil ich so viele Selbstzweifel habe oder weil ich mich so wenig wert fühle. In der Therapie stellt sich dann häufig heraus, dass sie zum Beispiel Freundschaften mit einer Person hinterherrennen, die sie nicht gut behandelt. Ihnen ist aber die Anerkennung des Freundes oder der Freundin wichtiger.

Und wie können Sie helfen? Sander: Wir hinterfragen das. Letztlich geht es um die Frage, was das mit einem selbst macht. Hinter Fomo steckt immer ein Selbstwertthema, das aber nicht zwangsläufig ein Selbstwertproblem im klinischen Sinne sein muss. Wenn ich das Gefühl habe, die anderen machen so spannende Sachen und ich selbst erlebe nur Langweiliges, hat das in erster Linie mit einem selbst zu tun und nicht mit anderen.

Wie sieht es in der Liebe aus? Tinder revolutioniert ja gerade das Dating. Wie hängt Fomo damit zusammen? Sander: Da besteht sicherlich ein Zusammenhang. Es kommt darauf an, wie man tindert. Hangle ich mich von Date zu Date, werde ich nichts Wahrhaftiges erleben. Es ist schon wichtig, sich auch mal mit Haut und Haaren auf jemanden einzulassen.

Das ist aber nicht nur auf das Dating begrenzt, oder? Sander: Nein, es geht allgemein um Kontakte zu anderen Menschen. Menschen mit Fomo haben Probleme, eine richtige emotionale Tiefe mit Freunden oder Partnern zu teilen.

Wie äußert sich Fomo noch? Sander: Beim Konsum. Zum Beispiel, wenn Menschen exzessiv kaufen. Ganz deutlich sieht man das in der Modebranche, wo ich auch ein kleines Fomo-Opfer bin. Da gab es mal eine Zeit mit drei Kollektionen in einem Jahr, mittlerweile sind es bis zu zwölf. Mode ist ein Wegwerfartikel. Es geht um immer mehr, mehr, mehr – egal von was.

Deswegen ist auch Beschäftigt-Sein das Statussymbol der Generation Fomo? Sander: Ja. Viele Ideen haben, wichtige Dinge tun und immer ein neues Projekt. Damit will man ja signalisieren: Ich bin wichtig. Ich bin unabdingbar. Ich werde immer gebraucht.

In welchem Alter hat man ehesten Fomo? Sander: Es gibt zwei Höhepunkte. Am meisten sind davon Menschen im jungen Erwachsenenalter zwischen 20 und 30 betroffen, wenn vieles noch nicht gefestigt ist. Und in der Midlife-Crisis, wen man mit der Frage konfrontiert wird: War es das jetzt der kommt nochmal was? Dazwischen, also in aller Regel in der Phase, in der man sich um seine Kinder kümmert, hat man relativ wenig Fomo.

Na dann ist es doch einfach: Wer seine Fomo überwinden möchte, gründet eine Familie. Sander: Nein, so funktioniert das nicht. Es lindert das Symptom. Aber Fomo möchte grundsätzlich bewältigt werden. Und ich würde als Psychologin sagen: Das ist eine Chance, da ist etwas, mit dem wir uns auseinandersetzen sollten. Fomo an sich ist auch nicht nur ein Problem. Denn es zeigt, dass wir am Leben teilnehmen wollen und nicht schon scheintot sind.

Der Gegentrend zu Fomo ist ja ebenso angesagt: Meditation, Yoga, Digital Detox. Welche Bewegung wird sich durchsetzen? Sander: Keine. Die Trends werden Hand in Hand gehen. Wir werden eine Kompetenz entwickeln müssen mit dem Überfluss an Möglichkeiten umzugehen. Wir sind von unserer DNA auf höher, schneller, weiter gepolt – wir mussten Zeit unseres Lebens gegen Begrenzungen kämpfen. Die fallen nun weg. Das ist eine der größten Aufgaben der Zukunft: Wie bereichert uns der Überfluss und macht uns nicht krank?

KStA abonnieren